Was die Krähe glaubt

Aaskrähe. Bild: Gabriel Pall/CC BY-SA-3.0

Zwei Studien entdecken im Gehirn von Vögeln grundlegende Verschaltungsmuster für höhere Kognition, und das neuronale Korrelat einer inneren Weltvorstellung

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"Haben Tiere ein Bewusstsein?" Google liefert 5810 Treffer für diese Frage, und meine biographische Erinnerung fügt dem noch ein rundes Dutzend hinzu. Erstaunlich viele Leute finden diese Frage offensichtlich wichtig. Sie finden anscheinend, dass "Bewusstsein" etwas sei, das man haben könne, auch etwas, das man zählen könne ("ein"), und vielleicht sogar, dass sie mit dem Wort etwas Bestimmtes meinen.

Bereits ein oberflächlicher Blick auf die Suchergebnisse verrät, dass Letzteres nicht der Fall ist. Viele meinen mit dem Wort ein Ich-Konzept (Selbstbewusstsein), anderen genügt schon "Denkfähigkeit", oder sowas wie autobiographische Erinnerung, einige suchen nach subjektivem Erleben. Folgt man einigen Forendiskussionen, dann ufert die Frage bald aus zu moralischen, spirituellen und theologischen Grundfragen.

Naturwissenschaftler, die sich mit solchen Fragen befassen, tun gut daran, sich von den metaphysischen / ontologischen Bedeutungsvarianten von "Bewusstsein" fernzuhalten (Denken mit Leib und Seele), und sich auf operationalisierbare Bedeutungen zu konzentrieren. Also etwa den - etwas überstrapazierten - Spiegeltest für die Frage, ob ein Tier ein Selbstbild hat (oder nur versteht, was ein Spiegel ist). Oder die charmante Studie, die gezeigt hat, dass Elefanten es merken, wenn ihr eigenes Gewicht einen Gegenstand blockiert, sie offenbar also eine interne, nutzbare Repräsentation ihrer Körperlichkeit haben.

Die Welt im Inneren . . .

Dies kommt schon einem anderen, interessanten Konzept von Bewusstsein nahe: Bewusstsein als der Fähigkeit, innere Abbilder von Umweltgegebenheiten zu haben, auch wenn diese nicht (mehr) da sind.

Letzteres ist der springende Punkt. Wenn Licht auf meine Netzhäute scheint, dann feuern viele der Ganglienzellen darin. Aber niemand würde sagen, dass sie eine "innere Repräsentation" des Lichts hätten. Denn sie hören sofort auf, wenn es dunkel wird, und können sich über Licht und Finsternis auch nicht irren. Auch eine Türklingel, die schellt, solange jemand draußen auf den Knopf drückt, ist ja kein "inneres Abbild" des Besuchers vor der Tür.

Anders sieht es aus, wenn so ein Abbild auch dann da und handlungsleitend sein kann, wenn draußen niemand ist, der es verursacht. Wie aber erfährt man das? Nun, einerseits aus dem Verhalten: Wenn ich einem Tier Reize zeige, die es gerade kaum erkennen kann, und das Tier dann - nach Training - anzeigt, es habe etwas gesehen, obgleich ich weiß, dass da nichts war: Dann hat das Tier sich offensichtlich "eingebildet", etwas erkannt zu haben. Zugleich schützt eine solche Abfrage davor, Grundrauschen und Störungen wie z.B. das Eigengrau der Augen für höheres Denken zu halten.

Andererseits kann man nach Nervenzellen suchen, die das repräsentieren, was das Tier sich einbildet, wahrgenommen zu haben, und nicht das, was es wirklich wahrgenommen hat. Das wären dann neuronale Korrelate einer subjektiven Wahrnehmung. Bei Primaten hat man solche Zellen vor fünfzehn Jahren im Stirnhirn gefunden, also dem Teil der Hirnrinde, der entrückt zwischen Wahrnehmung und Handlung sitzt, plant und denkt. Während Zellen in den Sinnesarealen der Hirnrinde dann und nur dann aktiv sind, wenn der Affe tatsächlich einen Reiz geboten bekommen, zeigen Zellen im Stirnhirn an, was der Affe wahrzunehmen glaubt.

. . . von Vögeln

Vögel sind ähnlich schlau wie Primaten; sie haben ja auch ähnlich viele Neuronen im Gehirn. Doch Schlauheit hat viele Aspekte. Selbst Menschen können unterschiedliche Begabungen haben und anderswo versagen, wo andere reüssieren. Wie viel mehr gilt das für verschiedene Arten, die sich evolutionär an ganz unterschiedliche Umweltansprüche angepasst haben! Soziale Kognition etwa ist für überwiegend einzelgängerische Tiere weitgehend überflüssig. Sogar Menschenaffen sind darin deutlich schlechter als Menschen - und sogar als Meisen (Gleichgeschaltete Meisen). Man kann also keine Art als einfach "intelligent" abhaken: Man muss ihr ganzes Fähigkeitenprofil abklopfen.

Daher haben Wissenschaftler von der Universität Tübingen in einer soeben in Science erschienenen Studie das oben umrissene Affen-Experiment mit Aaskrähen wiederholt. Rabenvögel gelten neben den Papageien als die klügsten Vögel. In dem Versuch wurde zwei Krähen zunächst für 300ms ein Reiz gezeigt, der gerade so eingestellt war, dass die Vögel ihn nur in der Hälfte der Darbietungen erkannten. Dann folgten eine recht lange Pause von zweieinhalb Sekunden und ein Signal, das angab, welche Art von Bewegung gefordert war, um anzuzeigen, was sie gesehen hatten. So wurde sichergestellt, dass das beobachtete Verhalten der Krähen nicht schon bei der Reizdarbietung reflexhaft vorbereitet worden war, es sich also nicht bloß - um auf das obige Beispiel zurückzukommen - um einen Wackelkontakt im Klingelrelais handelte. Die Krähen mussten sich merken, was sie gesehen hatte, und dieses Wissen nutzen.

Während die beiden Krähen diese Aufgabe durchführten, leiteten die Forscher von insgesamt 480 Neuronen im sogenannten "Nidopallium caudolaterale" ab. Das NCL ist ein Gebiet, das zwar ganz hinten im Gehirn der Vögel liegt, aber seit langem dem Stirnhirn der Säugetiere in Funktion und Herkunft gleichgesetzt wird. Obgleich das NCL also mit dem Sehen nichts zu tun hat, antworteten viele Nervenzellen darin unmittelbar auf den Reiz.

Etliche aber taten das, was die Forscher erhofft hatten: Sie bauten in der Wartezeit eine Aktivität auf, die nicht mit dem tatsächlichen Reiz zusammenhing (da / nicht da), sondern mit der Antwort der Krähe (gesehen / nicht gesehen). Einzelne Neuronen feuerten also sowohl dann, wenn der Reiz erschienen war und die Krähe angab, ihn gesehen zu haben, als auch dann, wenn kein Reiz dagewesen war, die Krähe das aber irrtümlich behauptete. Es gibt also im Gehirn von Vögeln ein neuronales Korrelat einer subjektiven Wahrnehmung, die von der objektiven Welt unabhängig ist.

Praktische Denkgitter

Die letzten gemeinsamen Vorfahren von Vögeln und Säugetieren lebten lange vor den Dinosauriern und ähnelten ungefähr großen Eidechsen, auch intellektuell. Seither haben sich nicht nur die kognitiven Fähigkeiten, sondern auch die Gehirne von Vögeln und Säugetieren unabhängig voneinander und zum Teil ganz unterschiedlich entwickeln. Der äußere "Mantel" eines Säugergehirns besteht aus der Hirnrinde, in deren sechs Schichten unterschiedliche Neuronentypen übereinander gestapelt sind. Innerhalb nebeneinanderliegender Säulen, die durch alle sechs Schichten reichen, sind Neuronen durch radiale Fasern dicht verbunden. Eingänge von außen dagegen laufen tangential entlang der Schichten ein. Tangential werden Informationen verteilt und assoziiert, radial werden sie verarbeitet. So sichert diese orthogonale Anordnung große Rechenkapazität, und wird oft für eine Voraussetzung unserer Geistesleistungen gehalten.

Ganz anders sieht das Gehirn von Vögeln aus (Von wegen: Spatzenhirn). In ihnen erkennt der Anatom . . . nun, zunächst einmal gar nichts, wenn er von der Maus kommt, und dann nur Zusammenballungen von Nervenzellen, die nebeneinanderliegen wie Kartoffeln im Beutel. Dass diese Rechenkartoffeln den tief im Hirn liegenden motorischen Klumpen der Säugetiere entsprächen und mithin nur einfaches Bewegungslernen vermitteln könnten, hat sich zwar mittlerweile als Irrtum herausgestellt. Trotzdem fragten sich Wissenschaftler, wie ohne orthogonale Verschaltung höhere Verarbeitung möglich sein sollte.

In derselben Ausgabe von Science, in welcher die Tübinger Arbeitsgruppe über die neuronalen Korrelate innerer Abbilder berichtete, haben nun auch Forscher um den Bochumer Neurobiologen Onur Güntürkün Vogelgehirne noch einmal neu angesehen. Sie verwendeten eine Mikroskopietechnik, die auch dünne Faserstrukturen erfasst und durch polarisiertes Licht ihre Richtung sichtbar macht. Das Ergebnis sind schöne, bunte Bilder, wie man sie sonst aus der Fluoreszenzmikroskopie kennt, die einen Blick ins PDF lohnen.

In allen Sinnesgebieten der Gehirne sowohl von Tauben als auch von Schleiereulen entdeckten die Forscher mit dieser Technik rechtwinklig zueinander angelegte Faserverläufe. Sie konnten säulenähnliche Verbünde unterschiedlicher Zelltypen sichtbar machen, quer zu denen lange Fasern verliefen. Mit weiteren Analysen zeigten sie, dass die Nervenzellen in diesen Säulen auf ähnliche Weise untereinander verknüpft sind wie im Gehirn von Säugetieren.

Dass genetisch identifizierbare Gruppen von Eingangs- und Ausgangsneuronen bei Vögeln ebenso wie bei Säugetieren und sogar Schildkröten miteinander verbunden sind, wurde vor einigen Jahren gezeigt. Tatsächlich findet sich das grundlegende Verschaltungsmuster schon bei den primitiven Neunaugen, ist also möglicherweise gemeinsames Erbe aller Wirbeltiere. Nur Vögel und Säugetiere haben es so oft vervielfältigt und räumlich gitterartig arrangiert, dass damit eine hocheffiziente Verarbeitung der Umwelt möglich geworden ist.

Fängt sich "Bewusstsein" nur im Gitter?

Trotzdem wäre es überstürzt, nun zu glauben, nur eine hirnrindenähnliche Struktur könnte innere Abbilder bereithalten. Die bemerkenswerten Denk- und Lernleistungen von wirbellosen Tieren, deren Gehirne den unseren völlig unähnlich sind (Achtbeinige Genies), zeigen, dass Nervenzellen sich nach Bedarf so verknüpfen können, dass komplexe Verarbeitung damit möglich wird. Ein gemeinsames Erbe, das über die Funktion eines Einzelneurons hinausgeht, ist dafür möglicherweise gar nicht nötig. Falls aber doch, wäre es vielleicht sogar vorhanden: Selbst zwischen Fruchtfliegen und Mäusen gibt es auffallende Ähnlichkeiten in der Verschaltung jener Hirngebiete, die motorische Kontrolle ausüben.

Wahrscheinlich würde es sich lohnen, auch im "vertikalen Lobus" - so nennt man den Denkturm in der Mitte des Kopffüßergehirns - einmal auf gitterförmige Strukturen zu durchsuchen. Oder auch auf Neuronen, die abbilden, was ein Oktopus gesehen zu haben glaubt. Da auch Oktopoden ein gut funktionierendes Arbeitsgedächtnis haben, sich also über längere Zeit merken können, welche Information ihre Entscheidung steuern soll, wäre es eigentlich erstaunlich, wenn sie keine inneren Abbilder ihrer Welt bilden könnten.

Die etwas dusselige Frage "Haben Tiere ein Bewusstsein" ist sicherlich noch nicht annähernd abschließend beantwortet. Da der Mensch sich selbst als Bezugspunkt setzt, sucht er unwillkürlich nach Ähnlichkeiten. Wenn es aber mehrere Weisen des Schwimmens gibt, und verschiedene Arten, sich auf dem Trockenen fortzubewegen, und viele Dutzend unterschiedlicher Augen, und kaum ein Körperteil, das nicht zum Hören taugt - warum sollten dann Denken, Lernen und Repräsentieren der Umwelt nur in der zellulären Architektur möglich sein, welche der Mensch vorgibt?