Was ist Naturalismus?
Seite 2: Wissenschaft und Weltanschauung
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"Naturalismus" erscheint dann als ein sprachlich an "Naturwissenschaft" angelehnter alternativer Kampfbegriff, weil "Physikalismus" viele verwirren würde, "Materialismus" altmodisch klingt und zudem eine negative Bedeutung aus der Alltagssprache mitbringt, nämlich materiellen Werten nachzustreben. Den Gottgläubigen kann man nicht argumentativ widerlegen, deshalb tut man so, als sei sein Standpunkt unwissenschaftlich, im Widerspruch zu den Naturwissenschaften – und damit nicht mehr diskursfähig.
Die Cancel Culture lässt grüßen: Anstatt sich mit seinem Gegenüber zu verständigen, grenzt man den Anderen einfach als irrational aus. Das hat mit dem Projekt der Aufklärung, auf das sich Naturalisten sonst so gerne berufen, nichts mehr zu tun. Naturalismus ist ebenso wenig Naturwissenschaft wie Physikalismus Physik. Zwei Bezugssysteme können sich prinzipiell nur dort widersprechen, wo sie denselben Gegenstandsbereich haben.
Für wen Gott das metaphysisch ordnende Prinzip ist oder der Ursprung von allem, dessen Standpunkt kann man prinzipiell nicht naturwissenschaftlich widerlegen. Wer hingegen aus einer alten Schrift ableitet, die Erde sei maximal 10.000 Jahre alt, dessen Standpunkt ist allerdings naturwissenschaftlich widerlegt. Ähnlich können sich Wetterbericht und Fußballergebnisse nicht widersprechen, außer wenn beispielsweise wegen schweren Unwetters die Spiele abgesagt werden mussten.
(Natur-)Wissenschaft ist mehr als nur eine Überzeugung. Naturalismus ist aber nur ein Überzeugungssystem wie viele andere. Philosophie, Ideologie, Überzeugungs- und Glaubenssystem auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite sollte man strikt trennen. Erinnern wir uns an das agnostische Prinzip des großen Biologen-Philosophen Thomas H. Huxley (1825-1895), auch bekannt als "Darwins Bulldogge":
Agnostizismus ist tatsächlich kein Glaube, sondern eine Methode […]. Positiv formuliert kann das Prinzip so ausgedrückt werden: Folge in Sachen des Intellekts so weit deiner Vernunft, wie sie dich tragen wird, ohne Rücksicht auf andere Überlegungen. Und negativ: Gebe in Sachen des Intellekts nicht vor, dass Schlussfolgerungen sicher sind, die nicht bewiesen wurden oder nicht beweisbar sind.
Huxley, 1893, S. 245f.; dt. Übers. d. A.
Mit anderen Meinungen leben
Dieses Vernunftprinzip, das Huxley übrigens vom Philosophen Sokrates (469-399 v. Chr.) herleitete, gebietet eine gewisse Bescheidenheit. Eine Bescheidenheit, nicht so zu tun, als ob. Und natürlich wurden und werden religiöse Systeme manchmal zur Manipulation missbraucht, genauso wie Wissenschaftler manchmal ihre Karriereinteressen über die Suche nach der Wahrheit stellen.
Für die agnostische (von griechisch agnostos = nicht erkennbar) Bescheidenheit spricht nicht nur die Vernunft, sondern auch die Empirie, unsere Erfahrung vom Weltgeschehen: Außerhalb der säkularen Enklave Westeuropas nehmen religiöse Strömungen zu. Da mögen sich Naturalisten noch so sehr freuen, wenn die Zahl der Konfessionslosen in Deutschland oder vor allem hier in den Niederlanden immer größer wird - im weltweiten Maßstab fallen sie kaum ins Gewicht.
Anstatt gläubige Menschen und damit die Mehrheit der Menschheit auszugrenzen, sollte man sich daher besser überlegen, wie man mit ihnen friedlich zusammenlebt. Der Dogmatismus und die Überheblichkeit, mit der Naturalisten bisweilen auftreten, wird Andersdenkende wohl kaum überzeugen. So schreibt etwa Sam Harris, einer der genannten "Vier Reiter des Neuen Atheismus", auf den mich meine Studierenden über die Jahre immer wieder angesprochen haben:
Die östliche Weisheit hat keine Gesellschaften oder politischen Institutionen produziert, die irgendwie besser sind als ihre westlichen Gegenstücke; tatsächlich könnte man argumentieren, dass Indien als größte Demokratie der Welt nur wegen der unter britischer Herrschaft aufgebauten Institutionen überlebt hat. Noch hat der Osten die Welt nicht in wissenschaftliche Entdeckungen geführt.
Harris, 2014, S. 28; dt. Übers. d. A.
Westen gegen Osten
Harris scheint hier die Geschichte der westlichen Kolonialmächte nicht vor Augen zu haben. Diese haben nämlich mit ähnlichen Erzählungen von der Überlegenheit der "Weißen" und Rückständigkeit der Anderen die Besetzung, Unterdrückung und zum Teil sogar Vernichtung ganzer Völker gerechtfertigt.
Auch hat Harris‘ eigene Nation (die USA) seit gut zwanzig Jahren vielfach Völker- und Menschenrecht gebrochen, wenn es ihren Interessen nutzte. Sie hat auch immer wieder internationale Verträge gekündigt oder ignoriert, obwohl diese der friedlichen Zukunft von Mensch und Natur dienen.
Die Besetzung des Kapitols vom 6. Januar 2021 durch wütende Teile der US-Wählerschaft, während die Volksvertretung die Ergebnisse demokratischer Wahlen bestätigte, ist ebenfalls in guter Erinnerung (Wie gefährlich Fake News wirklich sind). Davon abgesehen haben beleidigte Briten, als sie die Unterdrückung Indiens aufgaben, den Zusammenbruch des Landes innerhalb weniger Jahre prophezeit. Bis heute behauptet sich der Subkontinent aber und ist sogar zur Atom- und Wirtschaftsmacht aufgestiegen.
Aufstrebendes Asien
Es ist heute also noch gar nicht klar, wie das Rennen zwischen Ost und West ausgehen wird. Allein aufgrund der schlechten demografischen Entwicklung ist es unwahrscheinlich, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert Europas oder Nordamerikas werden wird. Es gibt schlicht zu wenig Nachwuchs. Da man Zuwanderung in vielen Ländern auch nicht will, wird die Wirtschaft wohl schrumpfen; und dass ein Wirtschaftseinbruch auch die demokratischen Institutionen schwächen wird, zeichnet sich jetzt schon ab.
Währenddessen geht Chinas Wachstum mit seiner konfuzianisch-daoistischen Staatsphilosophie weiter und weiter. In Afrika sichert man sich wichtige Kontakte für die Zukunft - und zwar nicht, oder jedenfalls bisher nicht, mit Staatsstreichen und Angriffskriegen, wie der ach so zivilisierte Westen es oft genug vorgemacht hat, sondern mit direkter Wirtschaftshilfe.
Auch viele andere asiatische Länder haben eine junge Bevölkerung, die bereit dazu ist, für mehr Wohlstand hart zu arbeiten. Viel spricht dafür, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Asiens wird.
Dass in vielen dieser Länder neben Buddhismus, Hinduismus und Islam ein traditioneller Ahnen- oder Naturgeisterglaube weitverbreitet ist, selbst im technologisch so hoch entwickelten Japan, wird dem nicht entgegenstehen. Im Gegenteil stützt dies vielleicht sogar die gesellschaftliche Identität, während wir im individualisierten wie säkularisierten Westen - jedenfalls in den Städten - nicht einmal mehr unsere Nachbarn gut kennen.