Was ist Naturalismus?

Der Streit um die Unmöglichkeit des Übernatürlichen (Teil 3)

Bisher haben wir uns mit Definitionen wichtiger philosophischer Begriffe wie "Materialismus" und "Reduktionismus" beschäftigt (Wissenschaft und Religion: Konflikt oder Kooperation?). Am Ende des zweiten Teils ging es dann um die wissenschaftlichen Erklärungen von Alltagsphänomenen, etwa der Glätte von Eis oder dem Heben des Arms (Reduktionismus und die Erklärung von Alltagsphänomenen). Dabei fanden wir heraus, dass bei näherer Betrachtung erstaunlich viele Fragen offenblieben.

Solche Beispiele sind auch für einen anderen "Ismus" von Bedeutung, der durch so manche Online-Diskussion geistert: den Naturalismus. Ein Blick in die Stanford-Enzyklopädie für Philosophie verrät sofort: "Der Term 'Naturalismus' hat in der heutigen Philosophie keine sehr genaue Bedeutung."

Viele Bedeutungen

Mal meint man damit, dass die Naturwissenschaften alles erklären können (das wäre also eine epistemische Interpretation, das Erklären und Wissen betreffend); mal will man die Möglichkeit übernatürlicher Phänomene - wie Gedankenlesen/Telepathie oder Levitation - ausschließen (eine Aussage über das Sein und damit ontologisch).

Im Prinzip stecken die wesentlichen Zutaten schon im Materialismus/Physikalismus, wie wir ihn vorher in der Serie kennengelernt haben. Historisch waren im Englischen die naturalists übrigens schlicht Naturforscher, ging es also gar nicht um Philosophie. Der Wissenschaftsphilosoph Peter Janich (1942-2016) bezeichnete Naturalismus in einem Essay im Spiegel einmal als Gläubigkeit gegenüber den Naturwissenschaften und lag damit meiner Meinung nach ganz richtig.

Aberwitzig wird es, wenn Naturalisten ihr Mantra "In der Welt geht es mit rechten Dingen zu!" herbeten, denn so haben früher schließlich religiöse Naturwissenschaftler Gott gesehen: Als das Wesen oder Prinzip, das Ordnung in der Welt und damit Naturerkenntnis überhaupt erst ermöglicht; so hielten manche dann auch die Natur für die göttliche Offenbarung, die es zu studieren gelte.

Wenn man lange genug mit einem Naturalisten diskutiert, wird er vielleicht präzisieren: Er wolle primär die Existenz eines Schöpfergottes ausschließen, wie man ihn sich im Christentum vorstellt. Oder insbesondere die Möglichkeit von Wundern. Das lenkt die Diskussion dann auf die Frage: Was sind Wunder?

Natur und Wunder

Hierzu findet sich eine alte philosophische Diskussion. Schon David Hume (1711-1776) erläuterte den schwierigen Standpunkt des Wundergläubigen, einerseits erklären zu müssen, dass ein Vorgang eigentlich unmöglich ist, denn sonst wäre er kein Wunder, und andererseits darzulegen, dass er eben passierte. Und wie viele Vorgänge, die für uns heute selbstverständlich sind, wie das Sprechen mit räumlich abwesenden Personen (Telefonie, Chats), hätte man vor wenigen Jahrhunderten noch für ein Wunder gehalten?

Der Verdacht liegt nahe, dass der Naturalist in einer Pattsituation - nämlich die Existenz eines Gottes oder anderer religiöser Phänomene weder objektiv beweisen noch widerlegen zu können - die heute sehr einflussreich gewordene Naturwissenschaft gegen seinen Diskussionsgegner instrumentalisieren will. Und wer ist sein Diskussionsgegner? Eben der Gläubige, für den es "Übernatürliches" gibt.

Verfechter des Naturalismus - allen voran Richard Dawkins, Daniel Dennett, Sam Harris und Christopher Hitchens, auch bekannt als die "Vier Reiter des Neuen Atheismus" - schreiben zwar auflagenstarke Bücher. Von ihrem persönlichen Profit abgesehen scheinen ihre Bemühungen aber nicht sehr erfolgreich zu sein, wenn man sich das Erstarken der Religionen sowie des religiösen Fundamentalismus weltweit vor Augen führt: Schätzungsweise sehen sich gerade einmal 16 Prozent der Weltbevölkerung als nichtreligiös.

In den USA, einer der wichtigsten westlichen Demokratien, hat man es jüngst wieder gesehen: Dort werden zu bedeutenden politischen Anlässen Pfarrer eingeladen und betet man gemeinsam im Parlament: "In God we trust. And God bless America. Amen." Manche Republicans bezeichnen sich dort gerne als "God's Own Party", kurz GOP. Das ist nur ein umgedrehter Buchstabe entfernt von "God".

Hier in den Niederlanden reagieren viele mit Unglauben, wenn ich erzähle, dass in Deutschland fast alle Regierungsmitglieder seit Gründung der BRD bei der Vereidigung auf Gott geschworen haben. (Gerhard Schröder verzichtete 1998 als erster Kanzler auf den Zusatz "So wahr mir Gott helfe.")

Und dabei ist noch nicht einmal an die größte Demokratie der Welt gedacht, wo man an eine Vielzahl von Göttern und übernatürlicher Phänomene glaubt, nämlich Indien.

Wissenschaft und Weltanschauung

"Naturalismus" erscheint dann als ein sprachlich an "Naturwissenschaft" angelehnter alternativer Kampfbegriff, weil "Physikalismus" viele verwirren würde, "Materialismus" altmodisch klingt und zudem eine negative Bedeutung aus der Alltagssprache mitbringt, nämlich materiellen Werten nachzustreben. Den Gottgläubigen kann man nicht argumentativ widerlegen, deshalb tut man so, als sei sein Standpunkt unwissenschaftlich, im Widerspruch zu den Naturwissenschaften – und damit nicht mehr diskursfähig.

Die Cancel Culture lässt grüßen: Anstatt sich mit seinem Gegenüber zu verständigen, grenzt man den Anderen einfach als irrational aus. Das hat mit dem Projekt der Aufklärung, auf das sich Naturalisten sonst so gerne berufen, nichts mehr zu tun. Naturalismus ist ebenso wenig Naturwissenschaft wie Physikalismus Physik. Zwei Bezugssysteme können sich prinzipiell nur dort widersprechen, wo sie denselben Gegenstandsbereich haben.

Für wen Gott das metaphysisch ordnende Prinzip ist oder der Ursprung von allem, dessen Standpunkt kann man prinzipiell nicht naturwissenschaftlich widerlegen. Wer hingegen aus einer alten Schrift ableitet, die Erde sei maximal 10.000 Jahre alt, dessen Standpunkt ist allerdings naturwissenschaftlich widerlegt. Ähnlich können sich Wetterbericht und Fußballergebnisse nicht widersprechen, außer wenn beispielsweise wegen schweren Unwetters die Spiele abgesagt werden mussten.

(Natur-)Wissenschaft ist mehr als nur eine Überzeugung. Naturalismus ist aber nur ein Überzeugungssystem wie viele andere. Philosophie, Ideologie, Überzeugungs- und Glaubenssystem auf der einen und Wissenschaft auf der anderen Seite sollte man strikt trennen. Erinnern wir uns an das agnostische Prinzip des großen Biologen-Philosophen Thomas H. Huxley (1825-1895), auch bekannt als "Darwins Bulldogge":

Agnostizismus ist tatsächlich kein Glaube, sondern eine Methode […]. Positiv formuliert kann das Prinzip so ausgedrückt werden: Folge in Sachen des Intellekts so weit deiner Vernunft, wie sie dich tragen wird, ohne Rücksicht auf andere Überlegungen. Und negativ: Gebe in Sachen des Intellekts nicht vor, dass Schlussfolgerungen sicher sind, die nicht bewiesen wurden oder nicht beweisbar sind.

Huxley, 1893, S. 245f.; dt. Übers. d. A.

Mit anderen Meinungen leben

Dieses Vernunftprinzip, das Huxley übrigens vom Philosophen Sokrates (469-399 v. Chr.) herleitete, gebietet eine gewisse Bescheidenheit. Eine Bescheidenheit, nicht so zu tun, als ob. Und natürlich wurden und werden religiöse Systeme manchmal zur Manipulation missbraucht, genauso wie Wissenschaftler manchmal ihre Karriereinteressen über die Suche nach der Wahrheit stellen.

Für die agnostische (von griechisch agnostos = nicht erkennbar) Bescheidenheit spricht nicht nur die Vernunft, sondern auch die Empirie, unsere Erfahrung vom Weltgeschehen: Außerhalb der säkularen Enklave Westeuropas nehmen religiöse Strömungen zu. Da mögen sich Naturalisten noch so sehr freuen, wenn die Zahl der Konfessionslosen in Deutschland oder vor allem hier in den Niederlanden immer größer wird - im weltweiten Maßstab fallen sie kaum ins Gewicht.

Anstatt gläubige Menschen und damit die Mehrheit der Menschheit auszugrenzen, sollte man sich daher besser überlegen, wie man mit ihnen friedlich zusammenlebt. Der Dogmatismus und die Überheblichkeit, mit der Naturalisten bisweilen auftreten, wird Andersdenkende wohl kaum überzeugen. So schreibt etwa Sam Harris, einer der genannten "Vier Reiter des Neuen Atheismus", auf den mich meine Studierenden über die Jahre immer wieder angesprochen haben:

Die östliche Weisheit hat keine Gesellschaften oder politischen Institutionen produziert, die irgendwie besser sind als ihre westlichen Gegenstücke; tatsächlich könnte man argumentieren, dass Indien als größte Demokratie der Welt nur wegen der unter britischer Herrschaft aufgebauten Institutionen überlebt hat. Noch hat der Osten die Welt nicht in wissenschaftliche Entdeckungen geführt.

Harris, 2014, S. 28; dt. Übers. d. A.

Westen gegen Osten

Harris scheint hier die Geschichte der westlichen Kolonialmächte nicht vor Augen zu haben. Diese haben nämlich mit ähnlichen Erzählungen von der Überlegenheit der "Weißen" und Rückständigkeit der Anderen die Besetzung, Unterdrückung und zum Teil sogar Vernichtung ganzer Völker gerechtfertigt.

Auch hat Harris‘ eigene Nation (die USA) seit gut zwanzig Jahren vielfach Völker- und Menschenrecht gebrochen, wenn es ihren Interessen nutzte. Sie hat auch immer wieder internationale Verträge gekündigt oder ignoriert, obwohl diese der friedlichen Zukunft von Mensch und Natur dienen.

Die Besetzung des Kapitols vom 6. Januar 2021 durch wütende Teile der US-Wählerschaft, während die Volksvertretung die Ergebnisse demokratischer Wahlen bestätigte, ist ebenfalls in guter Erinnerung (Wie gefährlich Fake News wirklich sind). Davon abgesehen haben beleidigte Briten, als sie die Unterdrückung Indiens aufgaben, den Zusammenbruch des Landes innerhalb weniger Jahre prophezeit. Bis heute behauptet sich der Subkontinent aber und ist sogar zur Atom- und Wirtschaftsmacht aufgestiegen.

Aufstrebendes Asien

Es ist heute also noch gar nicht klar, wie das Rennen zwischen Ost und West ausgehen wird. Allein aufgrund der schlechten demografischen Entwicklung ist es unwahrscheinlich, dass das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert Europas oder Nordamerikas werden wird. Es gibt schlicht zu wenig Nachwuchs. Da man Zuwanderung in vielen Ländern auch nicht will, wird die Wirtschaft wohl schrumpfen; und dass ein Wirtschaftseinbruch auch die demokratischen Institutionen schwächen wird, zeichnet sich jetzt schon ab.

Währenddessen geht Chinas Wachstum mit seiner konfuzianisch-daoistischen Staatsphilosophie weiter und weiter. In Afrika sichert man sich wichtige Kontakte für die Zukunft - und zwar nicht, oder jedenfalls bisher nicht, mit Staatsstreichen und Angriffskriegen, wie der ach so zivilisierte Westen es oft genug vorgemacht hat, sondern mit direkter Wirtschaftshilfe.

Auch viele andere asiatische Länder haben eine junge Bevölkerung, die bereit dazu ist, für mehr Wohlstand hart zu arbeiten. Viel spricht dafür, dass das 21. Jahrhundert das Jahrhundert Asiens wird.

Dass in vielen dieser Länder neben Buddhismus, Hinduismus und Islam ein traditioneller Ahnen- oder Naturgeisterglaube weitverbreitet ist, selbst im technologisch so hoch entwickelten Japan, wird dem nicht entgegenstehen. Im Gegenteil stützt dies vielleicht sogar die gesellschaftliche Identität, während wir im individualisierten wie säkularisierten Westen - jedenfalls in den Städten - nicht einmal mehr unsere Nachbarn gut kennen.

Falsifizierbarer Physikalismus?

Zum Stichwort "Übernatürliches" noch einmal ein interessantes Zitat von Harris. Dieser meint erst, der Leib-Seele-Dualismus sei nicht falsifizierbar (was wohl schon für Descartes, der Aussagen über die Arbeitsweise der Zirbeldrüse traf, nicht stimmt), und schreibt dann über den Physikalismus, den er hier wohl synonym zum Naturalismus verwendet:

Der Physikalismus könnte, im Gegensatz dazu, leicht falsifiziert werden. Falls die Wissenschaft jemals die Existenz von Geistern oder Reinkarnation bestätigt, oder irgendeines anderen Phänomens, das den menschlichen Geist (vollständig oder in Teilen) außerhalb des Gehirns platziert, dann wäre der Physikalismus tot.

Harris, 2014, S. 191; dt. Übers. d. A.

Hier müsste man erst einmal anmerken, dass Harris mindestens zwanzig Jahre Fortschritt in den Kognitionswissenschaften verschlafen hat: Denn dort hat man sich in großen Teilen darauf geeinigt, Stichworte "embodyment" und "situatedness", dass sich psychische Prozesse sehr wohl über das Gehirn auf den Körper und die Umgebung ausdehnen. Die Extended-Mind-Hypothese (z.B. nach Andy Clark und David Chalmers, 1998; 2010 gab es schon einen Sammelband bei MIT Press) ist auch bei Technikfreaks, Cyborgs und in der Augmentation- und Bodyhacking-Szene populär.

Beim Wort genommen, müsste der Physikalismus laut Harris also schon als widerlegt gelten. Immerhin dehnen sich psychische Prozesse laut "extended mind" nicht nur über das Gehirn auf den Körper, sondern auch auf Computerchips, Gadgets, Apps und andere Hilfsmittel aus.

Außerdem ist das mit der Falsifikation von Karl Popper (1902-1994) - übrigens einem notorischen Substanzdualisten! - zwar gut gemeint, doch in der Praxis wenig nützlich. Denn wenn ein Team von Wissenschaftlern die Hypothese oder Theorie einer anderen Gruppe falsifiziert zu haben scheint, dann streitet man sich regelmäßig über die Zulässigkeit der Methoden und die Interpretation der Ergebnisse. Beispiele hierfür kennt die Wissenschaftsgeschichte zuhauf (Vielleicht doch keine neuen Nervenzellen im Gehirn - na und?!).

Übernatürliches

Sam Harris dürfte nur zu gut wissen, dass Begriffe wie "Geister" oder "Reinkarnation" schon begrifflich schwer zu fassen und damit wissenschaftlicher Forschung kaum zugänglich sind, wenn überhaupt. Er ließ sich übrigens selbst von Meditationslehrern der tibetanischen Dzögchen-Tradition ausbilden, also von Buddhisten, die behaupten, die tiefste Ebene des Bewusstseins sei vom Körper unabhängig, die "Buddha-Natur" der Menschen werde wiedergeboren und ihre nächste Inkarnation könne man noch nach dem körperlichen Tod beeinflussen. Für die nötigen Rituale bitten die hierfür speziell ausgebildeten Mönche freilich die Hinterbliebenen um großzügige Spenden.

So erhärtet sich mein Eindruck, beim Physikalismus/Naturalismus handle es sich um "Kampfbegriffe", die noch nicht einmal ihre Verfechter richtig verwenden können. Ich erinnere noch einmal von Peter Janichs Definition von Naturalismus als "Gläubigkeit gegenüber den Naturwissenschaften."

Wer glaubt, denkt bisweilen nicht mehr kritisch nach und übersieht seine blinden Flecke. Und nehmen wir einmal an, man würde in Zukunft auf Phänomene stoßen, die man sich heute noch nicht vorstellen kann: Als Wissenschaftler würde man sie nicht ignorieren, sondern als Teil der Natur anerkennen und erklären wollen.

Daher rührt nämlich auch der Ursprung des Wortes "Physik": griechisch physikos, die Natur betreffend. Mit anderen Worten: Gäbe es Engel oder Geister, wir würden versuchen, sie wissenschaftlich zu erklären, so wie alle anderen Phänomene auch.

Im vierten Teil schauen wir uns an, was Naturwissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler selbst zum Verhältnis von Religion und Wissenschaft sagen.

Literatur

Clark, A. & Chalmers, D. J. (1998). The extended mind. Analysis. 58, 7-19.

Harris, S. (2014). Waking Up: A Guide to Spirituality Without Religion. Simon & Schuster.

Huxley, T. H. (1893). Collected Essays, Vol. V. Macmillan.