Was ist Naturalismus?
Seite 3: Falsifizierbarer Physikalismus?
- Was ist Naturalismus?
- Wissenschaft und Weltanschauung
- Falsifizierbarer Physikalismus?
- Literatur
- Auf einer Seite lesen
Zum Stichwort "Übernatürliches" noch einmal ein interessantes Zitat von Harris. Dieser meint erst, der Leib-Seele-Dualismus sei nicht falsifizierbar (was wohl schon für Descartes, der Aussagen über die Arbeitsweise der Zirbeldrüse traf, nicht stimmt), und schreibt dann über den Physikalismus, den er hier wohl synonym zum Naturalismus verwendet:
Der Physikalismus könnte, im Gegensatz dazu, leicht falsifiziert werden. Falls die Wissenschaft jemals die Existenz von Geistern oder Reinkarnation bestätigt, oder irgendeines anderen Phänomens, das den menschlichen Geist (vollständig oder in Teilen) außerhalb des Gehirns platziert, dann wäre der Physikalismus tot.
Harris, 2014, S. 191; dt. Übers. d. A.
Hier müsste man erst einmal anmerken, dass Harris mindestens zwanzig Jahre Fortschritt in den Kognitionswissenschaften verschlafen hat: Denn dort hat man sich in großen Teilen darauf geeinigt, Stichworte "embodyment" und "situatedness", dass sich psychische Prozesse sehr wohl über das Gehirn auf den Körper und die Umgebung ausdehnen. Die Extended-Mind-Hypothese (z.B. nach Andy Clark und David Chalmers, 1998; 2010 gab es schon einen Sammelband bei MIT Press) ist auch bei Technikfreaks, Cyborgs und in der Augmentation- und Bodyhacking-Szene populär.
Beim Wort genommen, müsste der Physikalismus laut Harris also schon als widerlegt gelten. Immerhin dehnen sich psychische Prozesse laut "extended mind" nicht nur über das Gehirn auf den Körper, sondern auch auf Computerchips, Gadgets, Apps und andere Hilfsmittel aus.
Außerdem ist das mit der Falsifikation von Karl Popper (1902-1994) - übrigens einem notorischen Substanzdualisten! - zwar gut gemeint, doch in der Praxis wenig nützlich. Denn wenn ein Team von Wissenschaftlern die Hypothese oder Theorie einer anderen Gruppe falsifiziert zu haben scheint, dann streitet man sich regelmäßig über die Zulässigkeit der Methoden und die Interpretation der Ergebnisse. Beispiele hierfür kennt die Wissenschaftsgeschichte zuhauf (Vielleicht doch keine neuen Nervenzellen im Gehirn - na und?!).
Übernatürliches
Sam Harris dürfte nur zu gut wissen, dass Begriffe wie "Geister" oder "Reinkarnation" schon begrifflich schwer zu fassen und damit wissenschaftlicher Forschung kaum zugänglich sind, wenn überhaupt. Er ließ sich übrigens selbst von Meditationslehrern der tibetanischen Dzögchen-Tradition ausbilden, also von Buddhisten, die behaupten, die tiefste Ebene des Bewusstseins sei vom Körper unabhängig, die "Buddha-Natur" der Menschen werde wiedergeboren und ihre nächste Inkarnation könne man noch nach dem körperlichen Tod beeinflussen. Für die nötigen Rituale bitten die hierfür speziell ausgebildeten Mönche freilich die Hinterbliebenen um großzügige Spenden.
So erhärtet sich mein Eindruck, beim Physikalismus/Naturalismus handle es sich um "Kampfbegriffe", die noch nicht einmal ihre Verfechter richtig verwenden können. Ich erinnere noch einmal von Peter Janichs Definition von Naturalismus als "Gläubigkeit gegenüber den Naturwissenschaften."
Wer glaubt, denkt bisweilen nicht mehr kritisch nach und übersieht seine blinden Flecke. Und nehmen wir einmal an, man würde in Zukunft auf Phänomene stoßen, die man sich heute noch nicht vorstellen kann: Als Wissenschaftler würde man sie nicht ignorieren, sondern als Teil der Natur anerkennen und erklären wollen.
Daher rührt nämlich auch der Ursprung des Wortes "Physik": griechisch physikos, die Natur betreffend. Mit anderen Worten: Gäbe es Engel oder Geister, wir würden versuchen, sie wissenschaftlich zu erklären, so wie alle anderen Phänomene auch.
Im vierten Teil schauen wir uns an, was Naturwissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler selbst zum Verhältnis von Religion und Wissenschaft sagen.