Was ist eigentlich am Samstag am Reichstag passiert?
Mehr als über das rechte Foto-Shooting an der Reichstagstreppe sollte darüber geredet werden, warum Rechte wie die Fische im Wasser unter den Gegnern der Corona-Proteste agieren können
Nun hyperventiliert das politische Berlin wieder für einige Tage, weil Ultrarechte für ihre Selfies die Reichstagstreppe erklommen haben. Übrigens ist es nicht das erste Mal, dass nach Großdemonstrationen dieser Ort für Fotoshootings genutzt wurde.
Es gab schon einmal eine Diskussion darüber, als AKW-Gegner vor mehr als 10 Jahren ebenfalls den Zugang zum Reichstag erklommen. Sie hatten zuvor gegen die damals drohende Aufkündigung des sogenannten rotgrünen Atomkompromisses, also die etappenweise Abschaltung von Atomkraftwerken, durch die damals gerade neu ins Amt gewählte schwarz-gelbe Bundesregierung demonstriert.
Nun kann zu Recht eingewendet werden, dass es ein Unterschied ist, ob am Reichstagseingang Anti-AKW-Symbole oder Reichskriegsflaggen vor dem Reichstagsgebäude wehen. Doch dann sollte man konzedieren, dass die Wortähnlichkeit kein Zufall ist. Es ist politischer Commonsense in Deutschland, dass das Gebäude noch immer Reichstag genannt und damit an eine zweifelhafte politische Tradition angeknüpft wird. Es gab da in den letzten Jahrzehnten Diskussionen, beispielsweise, ob die Widmung "Dem Deutschen Volke" nicht ersetzt werden soll. Vor 20 Jahren gab es dazu eine vielbeachtete Kunstaktion von Hans Haacke.
Doch zum Selbstverständnis der politischen Klasse in Deutschland gehört es, am anachronistischen Begriff des Reichstags festzuhalten. Im Zentrum Berlins sollten die Bilder ausgelöscht werden, die Soldaten der Roten Armee beim Hissen der sowjetischen Fahne an dem zerstörten Gebäude zeigen. Mag die Szene auch später noch mal für die Fotografen nachgestellt worden sein, sie hat historisch stattgefunden.
Es wäre ein gutes Motiv zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gewesen. Doch das wollte und konnte das wieder gutgemachte Deutschland nicht zulassen. Das zeigt sich auch daran, dass die Inschriften, die Sowjetsoldaten nach dem Sieg über den NS in die Gemäuer des Reichstags ritzten, vor Besuchern versteckt werden.
Das vergessene Massaker am Reichstag vor 100 Jahren
Genau wie an der Neuen Wache wurde ein neuer, angeblich geläuterter deutscher Nationalismus auch am Reichstag etabliert. Und dann kommen die Rechten mit den Fahnen von gestern und machen so den braunen Untergrund kenntlich, auf dem diese deutsche Demokratie aufgebaut ist. Deswegen sind die Reaktionen auch so hysterisch, es wird vom Angriff auf das Herz der Demokratie gesprochen und den Polizisten, die die erste Reihe der Rechten angeblich am Weitergehen hinderte, sollen jetzt noch besonders ausgezeichnet werden. Da hat jemand in die Vergangenheit Deutschlands geleuchtet und erntet entsprechend die besondere Empörung.
Zur demokratischen Geschichte wird übrigens auch das Massaker an mindestens 40 Arbeitern gezählt, die am 13. Januar 1920 für eine Räteverfassung demonstrierten und von bewaffneter Schutzpolizei vor dem Reichstagseingang erschossen wurden. Auch 100 Jahre danach erinnerten nur wenige kleine Initiativen an das Blutbad. Die Namen der toten Arbeiter sind unbekannt, die Schützen nie zur Verantwortung gezogen worden.
Eine Folge des Blutbads ist bis heute aktuell. Damals wurde jene Bannmeile erlassen, die die Staatgebäude besonders unter Schutz stellt und noch heute gilt. Über die Erweiterung der Bannmeile und über eine Bewaffnung der dort stationierten Polizei wird jetzt debattiert. Da sollte man durchaus über die Geschichte dieses Reichstags reden und fragen, warum der noch immer den völkisch kontaminierten Namen trägt. Ansonsten ist dem Taz-Kommentator Gereon Asmuth, einen der wenigen besonnenen Stimmen, zuzustimmen, der empfiehlt, den Schlagstock im Gürtel zu lassen.
Asmuth erinnert zunächst daran, dass es auch zur guten Praxis linken und zivilgesellschaftlichen Widerstands gehörte, Raum gegen den Willen der Staatsmacht in Beschlag zu nehmen:
Das Umgehen von Polizeiketten gehört schon immer zum Standard sämtlicher Bewegungen - auch und gerade bei Protesten von links. Mit der einst von Anti-Atom-Aktivist:innen ersonnenen Fünf-Finger-Taktik, mit der in mehrere Kleingruppen aufgesplitterte Demonstrant: innen Polizeiketten umfließen, wurde sie sogar zu einer zentralen Aktionsform - zuletzt vor allem bei den Anti-Kohle-Protesten von Ende Gelände.
Gereon Asmuth
Zudem fragt Asmuth, was eigentlich am Samstagabend im Zentrum Berlins passiert ist:
Gerade bei einem Einsatz im Schatten des Parlaments muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden. Denn was ist denn passiert? Ein paar hundert Menschen sind eine Treppe hochgelaufen. Ja, mit wegen ihrer Symbolkraft unerträglichen Fahnen. Mehr aber auch nicht.
Gereon Asmuth
Dem ist nur hinzufügen, dass man sich wünschte, die öffentliche Aufregung wäre in Deutschland so groß, wenn Häuser und Wohnungen von Geflüchteten, Linken oder gesellschaftlich ausgegrenzten Minderheiten angegriffen werden. Dort belassen es die Täter eben nicht dabei, ein paar Treppen hochzulaufen. Oft genug werden die Opfer allein gelassen und weiter ausgegrenzt.
Tatsächlich sollte weniger über das rechte Foto-Shooting an der Reichstagstreppe, sondern mehr darüber geredet werden, warum sich bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen Rechte wie die Fische im Wasser tummeln können und warum auch die überwiegende Mehrheit der Demonstranten, die sich nicht dem rechten Lager zuordnet, da keine klare Grenze zieht. Dazu muss man sich aber erst mal die Mühe machen, die Demonstration zu beobachten. Gerhard Hanloser hat in der Wochenzeitung Freitag eine gute Übersicht über über das Protestgeschehen am 1. August in Berlin gegeben.
"Hier passt nichts zusammen"
In einem Absatz hat Hanloser gut zusammengefasst, was auch für den 28. August gelten kann:
Hier passt nichts zusammen: Müssten sich die Demonstrierenden auf einen Gesellschaftsentwurf einigen, wäre heilloses Hauen und Stechen angesagt. Wenn das Wesen des Politischen allerdings in der Freund-Feind-Unterscheidung liegt, dann folgt diese Bewegung der Logik des Politischen. Der Feind ist klar, es ist die Regierung, personifiziert in Angela Merkel.
Gerhard Hanloser
Genau dieser Befund kann auch für das Geschehen am letzten Samstag gelten. Da passt nichts zusammen. Während auf der Bühne ein schwäbischer Moslem seine Ablehnung der Corona-Maßnahmen artikulierte und Sportler verschiedener Hautfarben erklären, wie sie sanktioniert wurden, weil sie am 1. August mitgelaufen sind, gehörten zu den Zuhörern rechte Hools, die eigentlich jeden Moslem in Deutschland abschieben wollen. Während die Moderatoren anmahnten, jetzt müsse mal wieder eine Frau sprechen, haben sich vor der Bühne Männergruppen eingefunden, für die Feminismus ein Feindbild ist.
Während Deutschlandfahnen in Massen geschwungen wurden und die angeblich fehlende Souveränität Deutschlands moniert wurde, trugen andere Putin- und Trump-Fahnen und manche forderten sogar, dass die beiden Deutschland befreien sollen. Gehörte es in den 1990er Jahren zum guten Ton einer deutschlandkritischen Linken, den Alliierten dafür zu danken, dass die den Nationalsozialismus besiegt hatten, tragen auf einer rechtsoffenen Demonstration Teilnehmer Transparente mit der Forderung, die ehemaligen Alliierten sollen wiederkommen.
Wir erleben eine Welt, in der scheinbar sämtliche politische Koordinatensysteme ihre Gültigkeit verloren haben. Rechts und links gibt es für sie nicht mehr - und der immer schon diffuse antifaschistische Grundkonsens gilt bei den Corona-Protesten nicht. War er aber nicht immer schon eher ein Lippenbekenntnis für Sonntagsreden, das das linksliberale Milieu aufsaugte wie Honig?
Welche Verantwortung hat die Masken-Linke?
Da stellt sich auch die Frage an die Linken, warum die Corona-Proteste rechtsoffen wurden. Mit der Parole "Masken auf und Abstand nach rechts", die auf den antifaschistischen Protesten am Samstag gezeigt wurde, wird das Dilemma schon deutlich, indem sie eine medizinisch diskutable Forderung mit einer Abgrenzung nach rechts gleichsetzt. Damit wird aber zumindest implizit erklärt, dass alle, die in der Maskenfrage einer anderen Meinung sind oder Fragen haben, die Abgrenzung nach rechts vermissen lassen.
Der Publizist Clemens Heni hat in seiner jüngsten Pressemeldung klar benannt, wie hoch der Anteil der Ultrarechten bei den Corona-Protesten war. Aber auch er hat gezeigt, dass die Trennung zur angeblichen Deutschen Mitte so nicht funktioniert:
Eine noch viel größere schwarz-rot-goldene Deutschlandfahne und viele weitere Deutschlandfahnen erinnerten an den nationalistischen Furor von 2006 ("Sommermärchen") - also viele TeilnehmerInnen waren insofern ganz normale Deutsche, was schlimm genug ist. Es liefen sicherlich auch viele Tausend demokratische und ernsthaft von der brutalen Coronapolitik genervte Menschen auf dieser selbst von der Polizei mit ca. 38.000 Teilnehmern bezifferten Demo mit. Doch wie man den ganzen Tag über jedenfalls weit weg im livestream sehen konnte, wurden Nazis nicht ausgegrenzt. Sicher gab es Teilnehmer*innen, die z.B. - das konnte man sehen - mit einer Israelfahne direkt neben einer Reichsflagge (Nationalflagge des NS-Staates, schwarz-weiß-rot) standen und diese überflügeln wollten, was aber absurd wirkte. Es gab zu viele Reichsflaggen. Das sind wie gesagt nicht "nur" sehr üble Neue Rechte oder die Querfront, sondern das sind kampferprobte Neonazis, Gewalttäter und Schläger.
Clemens Heni
Heni benennt denn auch die Versäumnisse vieler Linker:
Es braucht endlich eine linke und liberale Kritik an der Corona-Politik. Nie wurde das deutlicher als an diesem 29. August 2020. Und diese seriöse Kritik an der Corona-Politik, die wird kommen und sich verbreiten - damit die Demokraten wieder gemeinsam gegen Neonazis und Demokratiefeinde aktiv werden können.
Clemens Heni
Eine solche Linke müsste auch die soziale Dimension der Corona-Maßnahmen in den Mittelpunkt der Kritik stellen und so diejenigen, die deswegen auf die Straße gehen von den organisierten Rechten trennen.
Es war der Kardinalfehler, dass bereits bei den ersten sogenannten Hygienedemonstrationen am 28. März eine abstrakte Freiheit eingefordert und die gesamte soziale Dimension ausgeblendet wurde. So kamen dann all die, die mit Freiheit einen gnadenlosen Individualismus ebenso meinen wie die Freiheit des Kapitalismus, ihre Arbeiter auch in Corona-Zeiten ausbeuten zu können.
Hanloser hat am 1. August auch zwei Frauen mit sozialen Forderungen angetroffen:
Zwei Frauen haben auf ihre Maske "Höhere Löhne" gemalt. Ich spreche sie an, sage ihnen, dass sie die einzig vernünftige Parole, die ich hier gesehen habe, ausgeben. Sie freuen sich. "Ja, denn nur so kommt unsere Gesellschaft wieder voran und nur so bekommen wir einen Aufschwung hin", erklärt mir die eine. Ich freue mich nicht. Hier sprechen keine selbstbewussten Arbeiterinnen, die ihr Klasseninteresse durchsetzen wollen. Nicht nur der Marxismus, auch jede kämpferisch-gewerkschaftliche Haltung ist vollkommen abwesend.
Gerhard Hanloser
Zur gewerkschaftlichen Taktik gehört auch, ihre Forderungen nicht mit dem schönen Leben für sie, sondern mit dem Nutzen für die Gesellschaft zu verteidigen. Es wäre schon viel gewonnen, wenn die Menschen, die diese Botschaft haben, nicht mehr mit Rechten gemeinsam auf die Straße gingen. Dann müsste es aber auch eine Linke geben, die die Forderung nach den "Abstand nach rechts" nicht mit "Masken auf" zusammenbringt.