Was ist rückwärts, was ist vorwärts ?

Bild: © 2020 Warner Bros. Entertainment

Christopher Nolans Ordnung der Dinge - "Tenet", die Rettung?

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"What happened here?" - "Hasn't happened yet." (Filmdialog)

Der erste Schriftzug ist in Rot auf Schwarz, der nächste in Blau. Da Christopher Nolan ein Regisseur ist, der nichts dem Zufall überlässt, kann man davon ausgehen, dass bereits die Wahl dieser Farben ein Statement ist, eine Bedeutung hat. Tatsächlich werden wir sie später verstehen.

Es gibt großartige, wunderschöne Bilder in diesem erstaunlichen Film. Zum Beispiel, wenn ein Mann gegen sich selber kämpft. Das ist natürlich nicht nur ein beliebiges Bild, es hat neben der visuellen eine symbolische Kraft, die eigentlich der antiken Mythologie entlehnt ist. Das Staunen der Figur über diesen Moment trifft sich mit dem Staunen von uns Zuschauern.

Zugleich mit einer ganz großen Ohnmachtserfahrung: Wir müssen es hinnehmen. Wir müssen akzeptieren, dass Christopher Nolan wie der Gott seiner Welt die Gesetze der Physik, der übrigen Natur, und selbst die Gesetze der anderen Götter außer Kraft setzt. Das ist so schön wie beängstigend.

Ob "Tenet" das Kino retten wird? Mal abwarten, ob das Kino überhaupt zu retten ist. Aber wenn dann ist es zu retten, indem die Zuschauer wieder lernen, sich hinzugeben, zu staunen, ihre Macht anzugeben. Indem sie beginnen mit sich selbst zu kämpfen

Der große Test: "Welcome to the afterlife!"

Ein Konzertsaal. Es soll, so ist später zu erfahren, die Oper von Kiew sein. Sie ist es aber nicht, ein Blick ins Netz genügt - zu wenig Zuckerbäckerstil, zu viel Beton. Ein modernistischer, flacher bunkerähnlicher Architektentraum. Ausverkauftes Haus, viel Geld sitzt im Saal, das Orchester spielt sich ein, die Türen werden fest verschlossen und sicher abgeregelt. Gleich sehen wir, dass der Ort beobachtet wird, mindestens zweimal.

Einmal von einer Loge aus, hinter einer Glasscheibe; zwei Leute sitzen da und ein Bodyguard. Und dann nochmal von außen: In einem parkenden Fahrzeug sitzen weitere Männer die erwartungsvoll auf das kommende Geschehen blicken. Einer sagt: "We live in a twisted world." Er weiß nicht, wie Recht er hat.

Tenet (12 Bilder)

Bild: © 2020 Warner Bros. Entertainment

Dann plötzlich dringen die Maskierten ein. Brutal schlagen sie Mitglieder des Orchesters nieder, gewinnen Kontrolle über den Raum - so glauben sie zumindest. Das alles entpuppt sich aber als eine getarnte Operation, um einen Mann, offenbar einen amerikanischen Spion, der enttarnt wurde, im Chaos in Sicherheit zu bringen. Doch auch das ist nur der Schein von etwas anderem. Denn die Befreier selber werden gestört und enttarnt...

Das Chaos nimmt zu. Nun lernen wir die Hauptfigur kennen: Ein schwarzer Amerikaner, etwa Mitte 30, (gespielt von John David Washington, dem Sohn von Denzel). Wir wissen noch nicht, was er tut, aber wir lernen den Humanismus kennen, mit dem er versucht, Menschen zu retten, obwohl es die Operation gefährdet, und seine Opferbereitschaft: Der Mann wird gefangengenommen, gefoltert, ihm werden die Zähne ohne Narkose mit einer Zange einzeln heraus gebrochen - in einem unbeobachtet Moment kann er eine Giftkapsel schlucken und sich töten.

"Welcome to the afterlife!" - er wacht auf, lag im künstlichen Koma, sein Gebiss ist wiederhergestellt. Ein anderer Mann ist da und begrüßt ihn. Nicht jeder bestehe den Test, den er bestanden habe.

"Don't try to understand it – feel it."

Er, dessen Namen wir auch am Ende des Films nicht erfahren haben werden, übernimmt den eigentlichen Auftrag: "You are not working for us, you are dead." Eine Mission Impossible, die ihm sein Auftraggeber auch nicht wirklich erklären kann.

Es ist nur klar: Das Überleben aller steht auf dem Spiel. Erst allmählich, von Station zu Station, kristallisieren sich einige Konturen heraus. Als er jemanden fragt, was er denn bekämpfen solle, raunt es nur auf seine Frage nach "World War III., nuclear holocaust?" - "Something worse." Die wichtigste Information erhält er irgendwo im Norden, in irgendeinem gut versteckten Archiv. Dort lagern "Die Trümmer eines kommenden Krieges."

Eine Wissenschaftlerin erklärt ihm die Prinzipien des "Invertierens" oder der "Inversion". Das Ganze wird beschrieben als rückwärts laufende Entropie. Man schießt auf ein Ziel, und die Patrone schnellt von dort ins Pistolenmagazin. Den Rat, den die kluge Dame ihm erteilt, kann man nur den Zuschauern weiterreichen: "Don't try to understand it - feel it."

"Zwischen unserer Zeit und der Zukunft"

Dann ist er in Bombay. Dort trifft er Neil (Robert Pattinson), der so ein bisschen aus dem Nichts auftaucht, - ein Beispiel, wo dieser Film vielleicht nicht perfekt erzählt ist - und der offenbar viel weiß, wenn nicht alles. Beide soll ihm helfen, einen Mann zu kontaktieren, der beschrieben wird als "ein Broker zwischen unserer Zeit und der Zukunft."

Weil man solche Männer nicht treffen kann, brechen sie mit Drahtseilen und einer Art umgedrehtes Bungee Jumping in der perfekt gesicherten Hochhauswohnung ein. Ziemlich schnell wird klar, dass eigentlich nicht der Mann, sondern seine Frau das Brain vor Ort ist.

Aufgaben werden gelöst, eine Station führt zur nächsten, die Dramaturgie scheint hier der eines Computerspiels mit seinen Levels zu ähneln. Auch Michael Caine, Nolans Stammschauspieler ist dabei. Da gibt es ein paar Gespräche darüber, wie man aussieht als Milliardär, und darüber, dass die Briten kein Monopol auf Snobismus haben. Michael Caine antwortet: "Nein, aber sie haben eine Mehrheitsbeteiligung."

Schließlich hat sich herauskristallisiert, dass da ein verrückter Milliardär offenbar die Welt vernichten will, und "aus der Zukunft" angreift. Dieser Milliardär hatte Zugang zu den geheimen "geschlossenen" Städten der Sowjetunion und dort zu radioaktivem Material. Jetzt will er, was ihm fehlt. So könnte man das detailliert weitererzählen...

Aber noch immer ist nicht mal das erste Drittel vorbei. Und wesentlich, das hat man gemerkt, ist an Christopher Nolans neuem Film "Tenet" nicht die eigentliche Geschichte. Wesentlich sind die Bilder und der Weltentwurf.

Schon der Trailer zeigt Schiffe die rückwärts fahren, man sieht Vögel, die rückwärts fliegen, man sieht immer wieder diese widernatürlichen, unmöglichen Rückwärtsbewegungen - wenn man aber ganz genau hinschaut, dann kann man merken, dass nur bestimmte Figuren und Objekte sich rückwärts bewegen, alles Mögliche sich aber gleichzeitig vorwärts bewegt.

Die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bewegungen

Es gibt also eine Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Bewegungen. Das exakt ist die Struktur von "Tenet". Wenn man auf diesen Titel achtet, und zugleich vergisst, dass es sich um das englische Wort für "Grundsatz" und "Theorem" handelt, dann kann einem auffallen, dass dies ein Palindrom ist, also ein Wort, das sich von hinten nach vorne genauso wie von vorne nach hinten lesen lässt.

Mindestens drei Genres überlagern sich hier: Zuerst das Spionage-Genre, das diesen Film als eine sehr avancierte oder wenn man will auch sehr zeitgemäße Neu-Auflage eines James Bond-Films erscheinen lässt, des klassischen Agententhrillers - mit schönen und geheimnisvollen Frauen, spektakulären Bildern, Jet-Set-Schauplätzen und ganz vielen Actionsequenzen.

Nicht unterschätzen sollte man, wie hier Schauplätze ausgestellt werden, wie Nolan hier versucht, die Lust an der Bewegung – als Selbstzweck – zu inszenieren, die Lust an Orten – dies ist insgesamt ein schöner Film, der mit Schauwerten und mit Spektakel arbeitet - auch immer einen Grund, warum man ins Kino geht.

Dazu kommt der "Heist-Film", den Safeknacker-Film. Gleich zwei spektakuläre und wunderschön anzusehende Diebstahlsaktionen gibt es hier: Der Einbruch in ein Pentagon-ähnliches Hochsicherheitsdepot in Norwegen, bei dem ein Jumbo mit hoher Geschwindigkeit hineingesteuert wird, ist schön, der Überfall in Tallin, mit vier Lastwagen, die einen Transporter einklemmen und dann von oben mit der Feuerwehrleiter eines Feuerwehrwagens einsteigen, ist noch schöner.

Wie schon in "Inception" muss etwas gestohlen werden, diesmal aber nicht aus dem Unterbewusstsein, sondern aus einer Parallelwelt.

Zeitreisen in der Gegenwart

"Was passiert hier?" - "Es ist noch nicht passiert." Dabei kämpft die Hauptfigur gewissermaßen gegen die Zukunft. "Wir werden aus der Zukunft angegriffen." heißt es. Dagegen kämpfen kann sie mittels einer Zeitreise-Technik, die Zeitreisen in der Gegenwart durchführbar macht.

Gewissermaßen kann man die Gegenwart hier vor und zurückspulen. Ob das physikalisch möglich ist, sei dahingestellt. Die Hauptfigur aber ist also eine Art Zeit-Krieger, einer, der in der Zeit zurückreisen kann.

Es handelt sich allerdings um Zeitreisen der anderen Art, als man sie aus gewöhnlicher Science-Fiction kennt: Um einen Zeitreisefilm, bei der die Zeitreise in der Gegenwart stattfindet. Bei der die verschiedenen Zeitebenen - Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart - in eins fallen.

Bild: © 2020 Warner Bros. Entertainment

Im Kino ist das möglich, und es ist das besondere Können des Regisseurs Nolan, dass er immer wieder, auch in diesem Thriller, über "Relativitätstheorie" die Fähigkeit de Kinos ausreizt, unmögliche Bilder zu präsentieren, die innerhalb der filmischen Logik trotzdem funktionieren: Eine Miene, die rückwärts nach innen explodiert, oder ein Haus, das aus seinen Trümmern wieder zusammengesetzt wird. Auch das sind schöne, ungesehene Bilder.

Das dritte Genre, dem dieser Film zuzurechnen ist, ist der Paranoia Trailer. Denn es geht schon auch darum, unsere Welt darzustellen - und Nolan zeigt sie als eine Welt, über die der Einzelne nicht verfügt, nicht mehr verfügt.

Eine Welt, der er fast ohnmächtig ausgeliefert ist. Wir bekommen hier zwar Menschen gezeigt, die als Einzelne einen Unterschied machen können. Auf der anderen Seite bekommen wir die gleichen Menschen gezeigt als solche, die hilflos dem Gang der Dinge ausgesetzt sind, und die vor etwas beschützt werden, was sie noch nicht mal als Gefahr wahrgenommen haben.

Es gibt auch die Differenz aus den wenigen Wissenden und den vielen Unwissenden.

Der Wunschtraum der universalen Manipulation

Diese Differenz entspricht hier mehr denn je der prinzipiellen Dramaturgie des Films: Was hier mit den Zuschauern passiert, ist, dass man eine Handlung zweimal erlebt: Einmal von links nach rechts, ein anderes Mal von rechts nach links.

Was hier rückwärts, was vorwärts ist, wird zunehmend unklarer. Diese umgekehrte Handlungsrichtung ist nicht dasselbe, als würde die Handlung rückwärts laufen - denn was hier tatsächlich passiert, ist, dass ein Teil der Handlung in den ersten zwei Dritteln rückwärts gelaufen ist - oder invertiert -, und genau dieser Teil läuft im letzten Drittel dann vorwärts. Natürlich schon etwas beschleunigt, weil wir "wissen", was passieren wird - und auch wieder nicht.

Dies alles ist in mancher Hinsicht auch der Wunschtraum unserer Zeit. Der Wunschtraum, dass man Dinge ungeschehen machen könnte, der Wunschtraum der universalen Manipulation: Der Manipulation nicht nur der Welt, wie sie ist, sondern auch der Welt, wie sie war und der Welt wie sie sein wird. Es ist der Wunschtraum, dass auch Geschichte und auch die Zeit ein verfügbarer Raum wäre.

Es ist der Wunschtraum, dass jeder von uns Gott ist, der am Joystick Welten baut und Welten einstürzen lässt. Und wenige Regisseure haben diese Gottesvorstellungen, die man nicht Gotteskomplex nennen muss – und dadurch gleich wieder pathologisieren –, nicht viele Regisseure unserer Zeit leben diesen Traum so sehr in ihren Filmen wie Christopher Nolan.

"Wir werden noch viel miteinander erleben", sagt eine Figur am Ende, "meine Reise endet hier, deine fängt hier erst an." Damit ist in diesem Film nicht nur schon eine Fortsetzung angelegt - auch Christopher Nolan signalisiert uns, dass wir noch viel miteinander erleben werden.