Was schuldet der Staat seinen Bürgern?
Überlegungen zum universalen Nullsummenspiel der unbeschränkten Geldvermehrung
De nihil nihil fit, lautet ein Grundsatz der antiken Philosophie: Aus nichts kommt nichts. So einleuchtend dieser Satz auch heute noch dem gesunden Menschenverstand erscheinen mag, wird er doch durch zwei Dinge grundsätzlich in Frage gestellt: die Möglichkeit der Existenz Gottes und die Geldschöpfung der Notenbanken.
Im Zeitalter scheinbar unbeschränkter Geldvermehrung durch elektronische Buchungs-operationen lässt einen die Frage nach deren realem Gegenwert in der Welt ebenso ratlos zurück wie, sagen wir, die Frage nach dem Ursprung der Zeit. Dieser begriffliche Schwindel entspringt einem scheinbaren Missverhältnis. Es gibt das Geld (ebenso wie die Zeit) unbestreitbar "irgendwie", aber – auch wenn man Zeit messen und Geld zählen kann – eben nicht "wirklich". Und doch soll etwas, das genau besehen ebenso wenig existiert wie des Kaisers neue Kleider, die ganze Welt zusammenhalten.
Nicht einmal der klassischen Finanztheorie gelingt es, das im Geld angelegte Spannungsverhältnis zwischen Nominal- und Realwert befriedigend zu erklären. Kein Wunder. Tatsächlich handelt es sich hier um die anwendungsorientierte Neuauflage eines jahrtausendealten philosophischen Problems, das gewöhnlich unter dem Titel des "Universalienstreits" firmiert. Eine Auflösung dieses Problems kann es denn auch ohne angewendete Metaphysikkritik nicht geben.
Bekanntlich sprechen die Wirtschaftswissenschaften dem Geld eine dreifache Funktion zu: die Messung, den Tausch und die Aufbewahrung von Werten. Tatsächlich gibt es aber noch eine weitere Dimension des Geldes, die eng mit seiner Vermehrungsfreudigkeit, sei es durch Zinsen, Kredithebelung, Spekulationsgewinn oder staatliche Geldschöpfung, zusammen hängt: Es schafft und verteilt Reichtum. Diese gern unterschlagene Eigenschaft ist es, die das Geld so unheimlich und das Nachdenken darüber so gefährlich macht. ("Das Kapital" lautete der Titel des Hauptwerkes von Karl Marx, dem seine Leser bekanntlich die Anleitung zur noch effizienteren "Entfesselung der Produktivkräfte" entnehmen wollten.)
Dass das Geld nicht nur ein willfähriger Diener des Marktes ist, sondern ein zuweilen krisenhaftes Eigenleben führt, ist der traditionellen Finanztheorie zwar bekannt, aber nur schwer nachvollziehbar. Denn deren zentrales Dogma lautet, dass der Wert, den das Geld in all seinen Funktionen lediglich repräsentiert, prinzipiell schon vorher vorhanden sein muss. Geld muss also, wenn es nicht geradewegs die Pforten der Inflations-Hölle aufstoßen soll, einen ihm logisch vorausgehenden Gegenwert in der Welt haben. Auch wenn diese Vorstellung intuitiv plausibel erscheint (wie soll man allein vom Drucken von Geld reich werden?), ist sie beim näheren Hinsehen ebenso wenig zwingend wie die Verknüpfung moralischer Grundsätze mit der Existenz Gottes. In ihrer Reichweite ist sie nämlich historisch limitiert.
Wie reich wollen wir sein?
Dass mit der Kündigung des Abkommens von Bretton Woods und dem damit verbundenen Ende des Goldstandards im Jahre 1971 eine neue Ära, gewissermaßen die finanzielle Post-moderne, anbricht, gehört zum wirtschaftsgeschichtlichen Grundwissen. Welch weitreichende Folgen jedoch die damit entstandene Möglichkeit der Notenbanken mit sich bringt, Geld ohne letztliche Deckung schöpfen zu können, ist bis zum heutigen Tag vom Mainstream der Finanz-theorie nur ungenügend begriffen worden. Immerhin wird mit der Ausgabe ungedeckten Geldes nichts weniger als ein zentrales Theologem, die Schöpfung aus dem Nichts, der bloßen Willensentscheidung des Staates bzw. seiner Notenbank überantwortet. Getreu dem Wort Hegels vom "Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist", kommt Fiatgeld (lat. "fiat": es werde") allein deshalb zu Existenz und Geltung, weil und solange der Staat es so will.
Neben die Grundentscheidung des Staates über Krieg und Frieden (nach Carl Schmitt be-kanntlich die einzig genuin politische Handlung überhaupt) tritt damit eine weitere Frage – wir mögen sie uns explizit stellen oder nicht. Sie lautet: Wie reich wollen wir sein?
Diese Frage wird in einem Fiatgeldsystem letztlich von der Menge und der Verteilung des emittierten Geldes beantwortet. Denn obwohl Reichtum nicht ohne eine realwirtschaftliche Grundlage entstehen kann, wäre er ohne eine monetäre Bemessungsgrundlage als Reichtum im Sinne eines disponiblen "Vermögens" nicht verfügbar.
Diese Bemessungsgrundlage kann in der finanziellen Postmoderne allein noch die Existenz von Geld per se garantieren. Unwiderruflich vorbei die Zeit, als das Geld noch einen edelmetalläquivalenten Wert hatte, den etwa die Bank of England sich, bei Vorlage von durch sie beglaubigten Banknoten, zur Auszahlung verpflichtete. Das postmoderne Fiatgeld erhält seine Legitimation aus nichts anderem als aus einem inneren Bezug von Schulden und Vermögen. Eines existiert nicht ohne das andere. Beide zusammen aber ergeben die Summe Null.
Es mag eine paradoxe Vorstellung sein, dass mit der Rückzahlung aller Schulden auf Erden geradezu der Traum des Anarchismus, die Abschaffung des Geldes, erreicht würde. Gleich-wohl verhielte es sich so (wenn man sich auch kaum vorstellen mag, was ein plötzlicher Weg-fall ihrer Bemessungsgrundlage für die Logistik entwickelter Volkswirtschaften bedeuten würde).
Vollziehen wir dieses universale Nullsummenspiel zur Verdeutlichung im Kleinen nach: Eine Bank vergibt einen Kredit über eine bestimmte Summe, sagen wir etwa 100.000 Euro. Was geschieht in diesem Moment – finanztheoretisch betrachtet? Dem Geldkreislauf werden 100.000 Euro hinzugefügt. (Wir vernachlässigen der Einfachheit halber die hier in Abzug zu bringende Mindestreserve der Banken ebenso wie etwa die für den Kredit in Abhängigkeit von der Bonität des Schuldners zu erwirtschaftenden Zinsen.) Denn die Bank stellt im Gegen-zug für das Geld, das sie zunächst ausgibt, in ihre Bilanz eine Forderung in gleicher Höhe ein. Diese Operation kehrt sich in der Rück- bzw. Abzahlung des Kredits um. Und so erfreulich es für einen Privatgläubiger auch sein mag, eine innerlich bereits abgeschriebene Summe unver-hofft zurückgezahlt zu bekommen, bedeutet die Tilgung eines Kredits für die Bank nichts an-deres als die Tilgung der entsprechenden Forderung aus ihren Büchern. 100.000 Euro sind im Ergebnis also dem Geldkreislauf wieder entzogen.
Derselbe Mechanismus von Geldschöpfung und -vernichtung wirkt auch im Verhältnis zwi-schen Geschäfts- und Notenbanken. Die Notenbanken ihrerseits unterstehen, auch wenn eine rechtliche Konstruktion ihre Unabhängigkeit sichern mag, sachlogisch gesehen dem Staat. Die Staaten also entscheiden letztlich über die Aufnahme von Schulden und der aus ihnen resultierenden Verpflichtung, diese Schulden nur auf dem Umweg über die Aufnahme neuer und noch höherer Schulden zurückzahlen zu können, darüber, wie viel Geld in der Welt sein soll.