Was schuldet der Staat seinen Bürgern?
Seite 4: Steuern dienen nicht der Generierung von staatlichen Einnahmen
- Was schuldet der Staat seinen Bürgern?
- Geld ist alternativenlos geworden
- Schwindende Privatvermögen mindern, steigende vergrößern die Staatsschulden
- Steuern dienen nicht der Generierung von staatlichen Einnahmen
- Nationale Ausgleichszahlungen In Krisenzeiten
- Auf einer Seite lesen
Mag auch nach herkömmlicher Rechnungslegung der zusätzliche Betrag aus der Seigniorage (aus privatwirtschaftlicher Sicht betrachtet nichts anderes als eine Steuer auf den Geldumlauf) oder aus einer etwaigen Finanzmarkt- oder Finanztransaktionssteuer zur Deckung der Staats-ausgaben beitragen, darf es doch in der Beurteilung von Vorschlägen zur Finanzmarktregu-lierung nicht primär um die aus ihnen zu erzielenden Einnahmen gehen. Wenn man sich von der Vorstellung des ausgeglichenen Staatshaushaltes auch in der Theorie verabschiedet hat, (das Geld zur Bestreitung seiner Ausgaben ist da, weil der Staat es so willl!) müssen die Steuern des Staates einem anderen Zweck dienen, als Einnahmen zu generieren.
In den meisten Staaten sind progressiv erhobene Einkommens- und Vermögenssteuern ein wesentliches (häufig das einzige) Instrument im Dienste staatlicher Verteilungsgerechtigkeit. Diese Funktion haben sie im Bewusstsein ihrer Bürger aber ebenso weitgehend eingebüßt wie ihre Fähigkeit, im eigentlichen Sinne des Wortes zu "steuern", d.h. Lenkungswirkung zu ent-falten. Man bedenke den Widersinn einer vorrangigen Generierung von Staatseinnahmen bei Steuern wie der Tabak- oder Branntweinsteuer, die, anstatt eine Lenkungswirkung im Ge-sundheitsbereich entfalten zu können, unter Rücksicht auf Verstetigung ihres Steueraufkom-mens niedrig gehalten oder nur langsam angehoben werden.
Es bleibt die Frage, in welcher Hinsicht generalisiert erhobene Steuern, etwa die Mehrwert-steuer, noch sinnvoll sein können, wenn man den Gesichtspunkt der Generierung von Staats-einnahmen für sie als nachrangig erachtet. Unter Umständen können sie als Mittel des Staates gegen Inflation eingesetzt werden. Wenn es auch im Verkehr zwischen Noten- und Geschäfts-banken andere Mittel zur "Sterilisation" überschüssigen Geldes gibt, bleibt doch die Frage, welche davon – wenn sie nicht ohnehin, wie die Erhöhung des Mindestreservesatzes oder, mittelbar, der Eigenkapitalanforderungen, auf die Einschränkung des Kreditvolumens durch die Geschäftsbanken hinauslaufen – übrig bleiben, wenn die Geldschöpfung der Geschäfts-banken etwa durch ein Vollgeldsystem ersetzt würde.
Auch der durch die Emission von Fiatgeld finanziell souveräne Staat sollte also nicht auf die Erhebung von Steuern verzichten. Seine "Einnahmen" sollte er allerdings vorrangig aus dem Geld (nach traditioneller Lesart: den "Schulden") finanzieren, das (bzw. die) er in Umlauf bringt. Weder seine sonstige Einnahmen noch sein Ausgabevolumen müssen sich dadurch zwangsläufig verändern. Der Staat müsste sich nur nicht mehr durch eine verquere Rechnungslegung, die zwischen Privat- und Staatshaushalten keine grundsätzliche Unterscheidung macht, in seinen notwendigen Ausgaben beschränken. Er könnte (und sollte) sich am Leitprinzip der functional finance Abba Lerners orientieren, wirtschaftspolitische Methoden nur nach ihren Auswirkungen auf die Wirtschaft zu beurteilen. Erläuternd heißt es in Lerners "Functional finance and the federal debt" aus dem Jahre 1943, hierin Überlegungen der Modern Monetary Theory vorwegnehmend:
Falls das ein Haushaltsdefizit bedeutet, höhere Schulden, Gelddrucken etc, dann sind diese Dinge per se weder gut noch schlecht, sondern schlicht die für ein gewünschtes Ergebnis von Vollbeschäftigung bei Preisstabilität erforderlichen Maßnahmen.
Immerhin ist es unbestritten, dass zu den Aufgaben einer Notenbank auch die Ausweitung der Geldmenge gehört. Der Monetarismus, immer noch die herrschende Doktrin in der Finanz-ökonomie, hat dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden. Die Geldmengenwachstumsfor-meln der Notenbanken suggerieren jedoch, dass sich das Ausmaß der Geldschöpfung nach externen, exakt bestimmbaren Parametern richtet. Neben dem Wirtschaftswachstum berück-sichtigt die EZB etwa einen "Inflationszuschlag". Dieser ist jedoch, die Formulierung deutet es bereits an, in Wirklichkeit nichts anderes als eine variable Zielgröße. Sie hängt von dem ab, was man erreichen will.
Es wäre also nur konsequent, sich zu fragen, ob man durch die Ausweitung der Geldmenge nicht auch das Wirtschaftswachstum steuern kann. Immerhin hat die US Federal Reserve in der aktuellen Finanzkrise mittlerweile zum wiederholten Male ihre Bereitschaft gezeigt, "Geld aus Hubschraubern abzuwerfen", wie es das von Milton Friedman stammende und von Ben Bernanke mehrfach wiederholte Zitat ankündigt. Doch handelt es sich hierbei nicht um einen monetaristischen Sündenfall? Geschieht so nicht eine massive kontinuierliche Ausweitung der Geldmenge über den bisherigen Bezugsrahmen hinaus, mit einem Wort: die geächtete "Staatsfinanzierung mit der Notenpresse"?
Was kann man von einer Zentralbank erwarten?
Bedenkt man, dass sich gerade der Monetarismus dem Ziel der Preisstabilität verschrieben hat, darf die Antwort nicht anders als "nein" lauten. Tatsächlich stieg die nach Ansicht des Monetarismus inflationsrelevante Geldmenge M3 im Zuge des quantitative easing bisher nicht an. Vereinfacht gesagt, wurde von der Federal Reserve (ähnliches gilt mittlerweile von der EZB) zwar die Liquiditätsversorgung der Banken, die der Realwirtschaft aber bisher nur unzureichend wieder hergestellt. Man mag dies immerhin als einen Teilerfolg in der Finanzkrise werten. Doch darf man von einer Zentralbank nicht mehr erwarten, als keine Inflation zu verursachen? Ganz so einfach ist diese Frage, wenngleich rhetorisch gestellt, nicht zu beantworten. Vor allem wäre zu überlegen, an welcher Kenngröße bezüglich der Geldschöpfung sich eine Re-gierung denn sonst orientieren könnte, wenn sie ihre Ausgaben nicht mehr durch die Summe ihrer (sonstigen) Einnahmen beschränkte.
Versuchen wir zunächst die monetaristische Standardargumentation nachzuvollziehen. Sie lautet: Wer mehr Geld auf gleichviel Güter verteilt, erhält Inflation als unausweichliches Ergebnis. Diese an sich plausible Überlegung orientiert sich an einem zum Zwecke besserer Berechnung vereinfachenden hydraulischen Modell. Der von ihm behauptete Zusammenhang ist durch eine einfache Formel aber nicht zu bestimmen – wenngleich eine solche zumindest auf historische Zusammenhänge gut anwendbar ist. So waren etwa, bis die Gold- und Silber-schätze der Neuen Welt die Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln in Mitteleuropa schlagartig erhöhen, wirtschaftlichem Wachstum allein auf der Basis von Edelmetallgeld enge Grenzen gesetzt. Ab 1500 tritt ein bis dahin unbekanntes Phänomen auf. Hatte bis dahin alles seinen (festen) Preis, stiegen nun über zwei Jahrhunderte hinweg nun die Preise durchschnittlich um etwa ein Prozent pro Jahr. Auch die Hyperinflation von Goldstandard-Währungen lässt sich mit der behaupteten Beziehung zwischen Geldmenge und Inflation gut erklären. Im Zeitalter des Fiatgeldes hingegen stimmt ein hydraulisches Inflationsmodell mit der empirischen Realität nicht mehr überein. So sind die USA ein Land mit jahrzehntelangem exzessiven Geldmengenwachstum (das nicht etwa zu einer Erhöhung der Sparquote führte). Dennoch kam es nicht einmal in der Extrem-form des an Staatsverschuldung gekoppelten quantitative easing ab 2008 zu einer nennenswerten Konsumpreisinflation. Gibt es hierfür eine konsistente Erklärung?
Wir meinen, ja. Zwar führt – und das ist auch ja beabsichtigt – eine Erhöhung der Geldmenge zu einer höheren gesamtwirtschaftlichen Nachfrage. Wenn aber gleichzeitig die Arbeits-losigkeit sinkt und die Kreditvergabe steigt, kann die Industrie normalerweise einfach die Auslastung ihrer Kapazitäten optimieren. Im Ergebnis trifft eine größere Geldmenge auch auf ein höheres Güterangebot. Die Preise steigen daher nicht.
Aufgrund des Einflusses von Sonderbedingungen ist indes unklar, ob diese Gleichung sich wirklich auf die ökonomische Entwicklung der USA ab 1980 anwenden lässt. Mit anderen Beispielen lässt sich eine Anpassung der ökonomischen Leistung an die Steigerung der Geld-menge besser illustrieren. Man denke etwa an das am Anfang des deutschen Wirtschaftswun-ders stehende "Kopfgeld" im Höhe von 40 DM oder an die schlagartige Ausweitung der Geldmenge im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung. Ohne eine entsprechende Deckung durch Sachwerte bei der Umstellung von Einkommen und Sparguthaben in der DDR auf Deutsche Mark (im Verhältnis 1:1 bzw. 2:1) und obwohl der aufgestaute Konsumhunger der Ostdeutschen den worst case für inflationsängstliche Ökonomen darstellte, stieg die Inflation in den Jahren nach 1990 nur unmerklich an. Tatsächlich waren die Möglichkeiten zur unmit-telbaren Ausweitung der Produktionskapazität für die vorrangig nachgefragten Konsumgüter (Autos, Haushaltsgeräte) wesentlich größer als vorhergesehen. Es wurden also einfach mehr Waren zum gleichen Preis produziert.
Zusätzlich ist Konsumpreisinflation selektiv. Während eine höhere Nachfrage häufig geringere Produktionskosten durch technisch verbesserte Massenfertigung (und in Folge sinkende Preise für Waren wie Computer, Haushaltselektronik und Solarmodule) bedeutet, verteuert sie knappe, nicht beliebig vermehrbare Güter, etwa Nahrungsmittel oder fossile Energieträger. Die Inflation macht so sichtbarer, was als Problem erschöpflicher Ressourcen schon vorher bestand, nun aber effizient angegangen werden kann. Eine Verteuerung von Nahrungsmitteln etwa dürfte dazu führen, dass deren Anbau lukrativer erscheint und in Folge ausgeweitet wird. Der Anstieg des Strompreises sollte Energiesparmaßnahmen und – unter Einrechnung der gesamt-wirtschaftlichen Kosten – den Umstieg auf alternative Energien befördern. Im gewissen Maße ist Konsumpreisinflation also volkswirtschaftlich wünschenswert, weil sie eine sinnvolle Len-kungswirkung hat.
Eine Erhöhung der Geldmenge erzeugt Inflation tatsächlich erst, wenn mit der Erhöhung der Geldmenge die Menge produzierter Güter und Dienstleistungen nicht mehr wächst. Dies dürfte bei Vollbeschäftigung und gleichzeitiger vollständiger Auslastung der Produktion der Fall sein. Doch weil die Erreichung eines solchen Optimums eher einen Wunschtraum als die Realität moderner Volkswirtschaften widerspiegelt, sind die Inflationssorgen der mainstream economy häufig grundlos. Sie entspringen überdies keineswegs einem überparteilichen Gesichtspunkt, sondern dienen immer auch den Wertsicherungsinteressen von Gläubigern gegenüber ihren Schuldnern (deren reale Lasten durch Inflation sinken).
Diese Einwände bedenkend, hätte sich der Staat in der quantitativen Begrenzung des Volumens seiner Geldschöpfung auch – aber eben nicht nur – an der Preisstabilität zu orientie-ren. Erst wenn die Auswirkungen der Inflation gesamtwirtschaftlich den Nutzen einer Erhöhung der Geldmenge überstiegen, müsste der Staat eingreifen – etwa durch die Erhebung von Steuern, deren wesentlicher Zweck es ist, die umlaufende Geldmenge zu verringern.
Was ist Inflation?
In diesem Zusammenhang wäre noch einmal zu vergegenwärtigen, was "Inflation" eigentlich besagen soll. Die so genannte gemessene Inflation bezieht sich nämlich auf den "Warenkorb" des Durchschnittsverbrauchers, der Güter und Dienstleistungen des täglichen Lebens nach einer repräsentativen und sich daher ständig aktualisierenden Zusammensetzung enthält. In ihm werden etwa neben den durchschnittlichen Kosten für die Miete auch der Preis für die Brötchentüte und den Friseurbesuch berücksichtigt. Da die Nachfrage nach diesen Waren weitgehend gleich bleibt, steigt auch ihr Preis nur in geringem Maße. Bei einer Erhöhung des durchschnittlich verfügbaren Haushaltseinkommens kommt es eher zu einer (teilweisen) Verlagerung des Konsums auf teurere, qualitativ hochwertigere Waren und Dienstleistungen.
Ob nun aber unterschiedliche Produkte und insbesondere unterschiedliche technische Standards über einen bestimmten Zeitraum tatsächlich durch die Einberechnung eines "hedonischen Faktors" miteinander verglichen werden können, muss zumindest fraglich genannt werden. Zudem werden Luxusgüter (da sie nicht-repräsentative Konsumausgaben sind) und Vermögenswerte (da sie keine Kosten verursachen) bei der Messung des Inflationsindexes nicht berücksichtigt. Eine Ausweitung der Geldmenge, die frei verfügbares Vermögen erzeugt oder vermehrt, führt aber zu einer von der offiziellen Statistik unbeachteten Vermögenspreisinflation, in der Aktien, Gold oder Immobilien an Wert gewinnen. Dieser Spezialfall von Inflation wird also tatsächlich durch eine quasi-hydraulische Kopplung mit dem Geldmengenwachstum erzeugt.
Während eine Inflation der Lebenshaltungskosten, deren Höhe über derjenigen des Einkom-menszuwachses liegt, gesellschaftlich unerwünscht ist, trifft dies auf eine Vermögenspreis-inflation nicht per se zu. Die Folge einer solchen Inflation besteht primär ja in noch mehr Vermögen. Und wenngleich das inflationäre Wachstum von Vermögenspreisindizes auch immer wieder von Krisen im Form spekulativer "Blasen" unterbrochen wird, geht ein wach-sender Vermögenswert – im Gegensatz zu jeder anderen Form von Inflation – auch nicht zu Lasten der Käufer, sondern führt zu spekulativem Gewinn. (Insofern ist der Begriff der "Vermögenspreisblase" letztlich irreführend, weil er nicht objektiv und nur im Nachhinein bestimmt werden kann. Welcher etwa soll der angemessene Preis für ein Haus in einem Nobel-badeort an der englischen Südküste sein – und in Relation zu was?)
Eine Vermögenspreisinflation als eine Vergrößerung der Geldmenge durch gemeinsame Übereinkunft auf dem Finanzmarkt ist also in gewisser Hinsicht die Henne, die goldene Eier legt. Doch der Schein trügt.2 Weil an der Aufforderung zum Enrichissez-vous letztlich doch nicht jeder teilhaben kann, geht durch sie letztlich die Schere zwischen Armen und Reichen immer weiter auseinander. Vermögenspreisinflation macht die Reichen, relativ gesehen, reicher und die Armen ärmer. Sie führt zu einer Aufblähung und gleichzeitigen Destabilisierung des Finanzsektors. Da aber das durch Vermögenspreisinflation gesteigerte Volumen und die zunehmende Instabilität von Finanzportfolios Hauptursache von Finanz- und aus ihnen resultierenden Wirtschaftskrisen ist, darf staatliche Intervention nicht noch verschärfen, was sie bekämpfen will. Die gegenwärtige Kriseninterventionspolitik der Notenbanken erfüllt diese Mindestanforderung nicht. Sie stimuliert nicht die Wirtschaft, sondern – auf dem Umweg über die Geschäftsbanken – die Finanzmärkte.
Soll der Staat in die Wirtschaft eingreifen?
Es bleibt allerdings eine grundsätzliche Frage: Soll der Staat überhaupt in die Wirtschaft ein-greifen. Und darf er hierzu das Instrument der Geldmengensteuerung einsetzen? Die zwei großen Trendlinien der Volkswirtschaft im 20. Jahrhundert haben jedenfalls ihren Ursprung in Antworten auf diese Frage. Sie wurzeln in Krisenerfahrungen.
Die hauptsächliche Lehre aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre ist, dass staatliche Untätigkeit eine solche Krise verschärft und verlängert. Es hat keinen Zweck, darauf zu warten, dass sich die Wirtschaft in einem schmerzhaften und langwierigen Selbst-reinigungsprozess von selbst erholen werde. So lange kann man nicht warten. Sie kennen John Maynard Keynes' Einwand: "In the long run we are all dead." Massenarbeitslosigkeit und soziales Elend allein für die vage Aussicht auf eine Revitalisierung der Wirtschaft aus eigenen Kräften in Kauf zu nehmen, ist verhängnisvoll. Der Staat muss daher, gegebenenfalls unter Aufnahme von Schulden, als Akteur einspringen, um die fehlenden privatwirtschaftlichen Impulse zu ersetzen. Zinssenkungen der Notenbanken sollen gleichzeitig die Kreditaufnahme erleichtern. Eine aus diesen wirtschaftlichen Belebungsmaßnahmen resultierende Inflation hält Keynes bei gleichzeitig sinkender Arbeitslosigkeit für unproblematisch.
Mit der "Stagflation" der 1970er Jahre, dem unvorhergesehenen Phänomen einer aus wirt-schaftlicher Stagnation resultierenden Arbeitslosigkeit bei steigender Inflationsrate, kommt es zu einem neoliberalen Umschwung in der Volkswirtschaftslehre. Milton Friedman als ihr einflussreichster Vertreter stellt sich gegen staatliche, wettbewerbsverzerrende Eingriffe in das wirtschaftliche Gefüge, ob durch gelenkte Nachfrage (auf Seite der Konsumption) oder staatliche Monopole (auf Seite der Produktion). Die zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe des Staates bzw. seiner Notenbank soll es daher sein, auf Geldwertstabilität zu achten.
In einer prosperierenden Wirtschaft wird die Notenbank ihr Augenmerk auf die Bekämpfung der Inflation richten. In der Krise wird sie zur ausreichenden Liquiditätsversorgung des Marktes die Geldmenge erhöhen. Ziel einer solchen anti-deflationären Krisenintervention ist nicht mehr, wie noch bei Keynes, die Behebung von Arbeitslosigkeit, für die Friedman ein "natürliches Grundniveau" annimmt, sondern die Steigerung der wirtschaftlichen Produktion zum Vorteil aller Bürger. Die von Friedmans Monetarismus maßgeblich beeinflussten Reaganomics der 80er-Jahre konnten dessen Intentionen jedoch nicht einlösen. Die Strategie einer Ankurbelung der Produktion durch einseitige Steuersenkungen (hierzu gehörte etwa die Kappung des Spitzensteuersatzes der Einkommenssteuer von 70% auf 33% im Rahmen des Economics Recovery Tax Act) führte zu einer enormen Zunahme der Staatsverschuldung der USA, aber keineswegs zum erhofften trickle down gesellschaftlichen Reichtums von "oben" nach "unten". Im Gegenteil. Die propagierte "Flut, die alle Boote am Strand anhebt", ließ – um im Bild zu bleiben – einen Teil der bereits leckgeschlagenen Boote kentern.
Man kann insofern die politische Karriere des amerikanischen Kommunitarismus bis hin zu Hillary Clintons populärer Programmschrift "It takes a village" (to educate a child) als Reaktion auf den sozioökonomischen Zerfall der US-amerikanischen Gesellschaft sehen. Dieser Zerfall dauert – der Clinton-Ära zum Trotz – an. Dass es eine grundsätzliche Abkehr vom monetaristischen Dogma in den USA bis heute nicht gegeben hat, zeigt sich überdeutlich in der Finanzkrise ab 2009, im quantitative easing der Federal Reserve über den Transmissionsriemen der Geschäftsbanken. Weitgehend unwirksam darin, die Realwirtschaft in einer Krise durch Vergabe von neuen Krediten durch die Geschäftsbanken zu stimulieren (weil sich die Geschäftsbanken in dieser Hinsicht pro-, nicht antizyklisch verhalten), führt deren Suche nach gewinnbringenden Anlagemöglichkeiten für das billige Zentralbankgeld zu einer von immer kurzfristiger auftretenden Spekulationsblasen unterbrochenen Vermögens-preisinflation. Eine reine Vermögenspreisinflation aber macht – wie bereits gesagt – die Reichen reicher und die Armen (relativ gesehen) ärmer.
Mag es sichtbarer Ausdruck des Scheiterns der US-amerikanischen Notenbankpolitik sein, dass paradoxerweise die Geldmenge M3 seit Ausbruch der Finanzkrise nicht oder nur unwe-sentlich gestiegen ist, hat die Federal Reserve der EZB doch etwas Wesentliches voraus. Weil sie ein wirtschaftspolitisches Mandat hat, kann sie im Ernstfall – wie es häufig abschätzig gesagt wird – "den Staat mit der Notenpresse finanzieren". Ein Staat mit einer solchen Noten-bank kann nicht zahlungsunfähig werden.3 Im Prinzip kann er daher das unbeschränkte Vertrauen seiner Gläubiger genießen. Dennoch bleibt sein Kredit, das Vertrauen seiner Gläubiger in ihn, an seine gerechtfertigte Existenz gebunden. Der Staat muss mehr sein als eine Vereinigung zur Förderung von Profiteuren, um Staat im vollen Sinne genannt werden zu können. Wenn nämlich das Vertrauen der Bürger in die unbeschränkte Gültigkeit seiner Gesetze und die Gerechtigkeit seiner Sozialordnung ihn nicht mehr erfüllt, dann steht – mit den immer noch aktuellen Worten Hegels – "der Staat in Luft". Ein Staat aber, dessen Interventionen die Reichen reicher und die Armen ärmer machen, ist nichts anderes mehr als ein failed state. Er zerstört, was ihn in seiner Substanz ausmacht: seine innere Einheit. Sie ist es, auf die – unter Rückbezug auf christliche Werte – in der Nachfolge der Französischen Revolution die Grundforderung nach "Brüderlichkeit" oder, moderner, nach "Solidarität" zielt.
Ein Staat muss sich daher davor hüten, zur Lösung von Wirtschafts- und Finanzkrisen mittel-bar die inhärente Instabilität der Finanzmärkte durch deren üppige Liquiditätsversorgung zu fördern. Es ist ja gerade der durch sie hervorgerufene immer raschere Wechsel von Booms und Crashs, der nicht nur für immer neue Wirtschafts- und Finanzkrisen verantwortlich ist, sondern durch sie – jedes staatliche Bemühen um soziale Gerechtigkeit untergrabend – in einem bislang unbekannten Maße Reichtum von "unten" nach "oben" umverteilt. Angesichts der in kürzester Frist erspekulierten Milliardenvermögen im ersten Jahrzehnt dieses Jahrtau-sends kann denn auch – ohne eine begriffliches Umdenken in der Finanztheorie – die Frage nach einer ausgleichenden staatlichen Gerechtigkeit mit traditionellen Mitteln, etwa mit Sozialprogrammen für Bedürftige, nicht mehr adäquat beantwortet werden.
Der Neoliberalismus hat zur Erklärung und Rechtfertigung der ungleichen Verteilung des Reichtums in der Gesellschaft ein individualistisches Zerrbild hervorgebracht. Es reflektiert den amerikanischen Traum, aus eigener Hände Kraft vom Tellerwäscher zum Millionär aufzu-steigen. Doch reich wird man nicht allein durch harte Arbeit – auch wenn es einigen Wohlha-benden subjektiv so vorkommen mag. Auch ärmere Menschen arbeiten hart und qualifiziert. Reichtum entspringt glücklichen Umständen, darunter solch grundlegenden, wie im richtigen Land geboren und mit einer robusten Gesundheit ausgestattet zu sein, seinen Beruf zur richtigen Zeit auszuüben und von durch Anderen geknüpften sozialen Beziehungen profitieren zu können – oder schlicht in den Genuss ererbten Reichtums zu kommen. Zwar gibt es eine Korrelation zwischen Reichtum und persönlichen Anstrengungen, aber sie ist schwächer, als man gemeinhin annimmt. Der Verdienst der Reichen ist nicht allein ihr Verdienst.
Gleichwohl ist daran zu erinnern, dass die Existenz wirtschaftlicher Ungleichheit dem markt-wirtschaftlichen Wettbewerbssystem als Basis seines gesamtwirtschaftlichen Erfolgs zugrunde liegt. Einschränkend müsste man daher mit den Worten John Rawls’ darauf verweisen,
daß wirtschaftliche Ungleichheiten [...] nur dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.
Wären nach einer Beseitigung der wirtschaftlichen Ungleichheiten die Einkommen der am wenigsten Begünstigten noch geringer, hätte man in der Tat wenig gewonnen. Rawls verweist so auf eine notwendige Bedingung für die Existenz einer gerechten Gesellschaft. Sie muss ihren denkbaren Alternativen in der von ihm genannten Hinsicht überlegen sein. Doch auch eine solchermaßen ex negativo gerechtfertigte ist immer noch keine gerechte Gesellschaft. Da es zudem ungewiss ist, ob man auf eine jenseitige Gerechtigkeit rechnen darf, gehört es zu den Grundverpflichtungen des Staates mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung, den gesamtgesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum in einer allgemein akzeptierten und zufrieden stellenden Weise gegenüber den Begünstigungen des Schicksals umzuverteilen.
Zum Ausmaß einer solchen Ausgleichs gibt es naturgemäß unterschiedliche Vorstellungen, zur Sache als solcher nicht. Denn ein Staat, dessen (fehlende) Umverteilung die Reichen reicher und die Armen ärmer machte, nähme sich durch sein eigenes Handeln die Grundlage seiner Souveränität, seine innere Einheit.