Wehrpflicht im Schatten des Terrors

Durch das Festhalten an der Wehrpflicht wird die Bundeswehr in zwei Teile gespalten: Die wehrpflichtigen Hilfskräfte und die Soldaten im Einsatz. Der Zivildienst spielte bei der Wehrpflichttagung in Berlin keine Rolle

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Als Peter Struck nach einer wehrpolitischen Grundsatzrede bei der nachfolgenden Diskussion zur Wehrgerechtigkeit sprach, fuhr er schwere Geschütze auf: Die Wehrgerechtigkeit sei gewahrt, wenn über die Hälfte der Wehrpflichtigen tatsächlich eingezogen wird, zitierte er eines von zwölf Gerichtsurteilen, welche die Einberufungspraxis gegenwärtig als richtig ansehen. "Die letzten Jahre wurden aber zwischen 80 % und 90 % eingezogen", so Struck, sichtlich vom Thema genervt und in Verteidigungsposition gegangen. Hintergrund ist ein Urteil des Verwaltungsgerichts in Köln, das vor kurzem die Wehrgerechtigkeit in diesem Zusammenhang als derzeit nicht gegeben einstufte.

Aus dem Gesagten könnte gefolgert werden, dass die Schräglage der Einberufungspraxis noch ein bisschen schräger werden darf. Die negativ Betroffenen können bei diesem Punkt auf die Politik im Moment nicht zählen. Zum Thema Gerechtigkeit und Pflicht kein Wort zum umstrittenen Punkt "Dienstpflicht für Frauen", und auch der Zivildienst wurde nur mit einem leichten Streifschuss gewürdigt. Für die Teilnehmer bei der Berliner Wehrpflichttagung unter dem Titel "Allgemeine Wehrpflicht - eine Wehrreform mit Zukunft" waren andere Themen eh viel interessanter.

Bundeswehrreform nur mit Wehrpflicht vorstellbar

Am Wehrdienst soll nicht zuletzt wegen finanziellen- und aufgabentechnischen Herausforderungen festgehalten werden. Für eine Berufsarmee würden sich im Hinblick auf die Bestrebungen Deutschlands für einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sowie dem angestrebten größeren Engagement in der Nato nicht genügend Freiwillige finden. Eine gut ausgebildete und bezahlte Berufsarmee mit modernem Gerät wäre im Gegensatz zur gegenwärtigen Bundeswehrreform ohne Wehrpflichtige nicht zu bezahlen.

Die Wehrpflicht ist - wenn auch in angepasster Form - unabdingbar für die Einsatzbereitschaft, die Leistungsfähigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Bundeswehr. Der veränderte Auftrag der Bundeswehr legt Anpassungen bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Wehrpflicht nahe.

Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck, Rede anlässlich der Wehrpflichttagung des 11. Beirats für Fragen der Inneren Führung am 25. Mai 2004 in Berlin

Aufgrund der Anpassungen sollen Wehrpflichtige in Zukunft nämlich als Unterstützungskräfte, Zeit- und Berufssoldaten aber als Stabilisierungs- und Eingreifkräfte tätig werden. So entsteht eine Zwei-Klassen-Bundeswehr, bei der vor allem schlechter ausgebildete Soldaten im Grundwehrdienst die Versorgungs- und Zuträgerdienste sowie im Bedarfsfall auch Objektschutzmaßnahmen im Inneren wahrnehmen werden. Die hoch- und höchstqualifizierten werden dagegen als hochbezahlte Spezial- und Interventionskräfte in In- und Auslandseinsätzen militärische und auch polizeiliche Aufträge ausführen. Beide Gruppen sollen gemeinsam lernen, nicht mehr in eine Menge von Angreifern zu schießen, sondern Warnschüsse in die Luft abzugeben, also quasi militärpolizeiliche Aufgaben zu erfüllen. Auch Wehrpflichtigen soll es erleichtert werden, in Auslandseinsätzen mitzuwirken.

Gesellschaftspolitische Entscheidungen nach 9/11

Neben den altbekannten Argumenten der Besonderheit der deutschen Situation standen für die Wehrexperten der Tagung besonders die gesellschaftspolitischen Gründe im Zentrum ihrer Reden und Diskussionbeiträge. Peter Struck forderte die Ablösung der Diskussion rein vom verfassungsrechtlichen Standpunkt und zitierte ein Bundesverfassungsgerichtsurteil aus dem Jahr 2002, denn die Frage nach der Wehrform sei "(...) eine grundlegend staatspolitische Entscheidung, die auf wesentliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt, und bei der der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gründe von sehr verschiedenem Gewicht zu bewerten und gegeneinander abzuwägen hat."

Die nicht-militärischen Gründe überlagerten bei seiner Argumentation die wehrpolitischen Begründungen für eine Wehrpflichtarmee bei weitem. Das Argument der in vielen Ländern unserer Nachbarn nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eingeführten Berufsarmeen wollte Struck nicht gelten lassen:

Die trendsetzenden Entscheidungen zugunsten einer Freiwilligenarmee bei unseren Verbündeten sind alle vor dem 11. September 2001 getroffen worden. Vor dem Hintergrund wichtiger gewordener Schutzaufgaben im Inland würde heute in einigen Staaten diese Entscheidung - möglicherweise - anders ausfallen.

Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck, Rede anlässlich der Wehrpflichttagung des 11. Beirats für Fragen der Inneren Führung am 25. Mai 2004 in Berlin

Außerdem stünde für Deutschland im Bezug auf Auslandseinsätze "die zivile Komponente zur Krisenbewältigung und erst Recht zur Krisenvorsorge an erster Stelle". Aber in Europa gäbe es eben auch andere Beispiele. Laut Struck hält man im Hinblick auf die veränderte Lage nach dem Kalten Krieg und dem 11. September zum Beispiel in Skandinavien unter anderem aus folgenden Gründen an der Wehrpflicht fest:

Die Wehrpflicht gewährleistet ein hinreichendes Potenzial schnell verfügbarer Kräfte für alle denkbaren Einsätze im Inneren. Und zwar zum Schutz der Menschen vor den Folgen natürlicher und technischer Katastrophen, sowie heute vor allem vor asymmetrischer Bedrohung durch den internationalen Terrorismus.

Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck, Rede anlässlich der Wehrpflichttagung des 11. Beirats für Fragen der Inneren Führung am 25. Mai 2004 in Berlin

Gesellschaft und Militär nähern sich an

IT-Fachkräfte, Psychologen und andere einsatzrelevante Spezialisten werden in Zukunft als Soldaten und Reservisten gefragter sein als je zuvor, so der Generalinspekteur der Bundeswehr, Schneiderhan. Zivile Fachkräfte mit einer "Einsatzoption in der Bundeswehr" werden neben dem ersten Arbeitsmarkt auch zunehmend aus dem Wehrbereich umworben werden. Sie sollen im optimalen Fall auch nach ihrem aktiven Ausscheiden und ihrer Rückkehr in das Zivilleben als schlafende Reservekräfte langfristig zur Verfügung stehen und nach Terroranschlägen und ähnlichen Katastrophen reaktiviert werden. Das klingt so, als ob neben den "Staatsbürger in Uniform" der "Soldat in Zivilkleidung" treten soll.

Obwohl dies zuerst eine Analogie zum Schweizer-Modell erahnen lässt, klingt die intensivere Verschränkung von Staat und Gesellschaft eher wie eine Professionalisierung der Streitkräfte nach amerikanischem Vorbild. Vielleicht aus Nato-Kompatibilitätsgründen, jedenfalls wird das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Streitkräften durch die gegenseitige Öffnung mittelfristig eine Änderung erfahren.

Eine "Amerikanisierung" der Bundeswehr könnte in zunehmenden Maß auch der beschäftigungspolitische Aspekt bewirken, denn mittlerweile ist es auch in Deutschland so, dass viele junge Menschen nach der Schule vor der Alternative stehen, zur Bundeswehr oder in die Arbeitslosigkeit zu gehen. Vor allem wenig Qualifizierte mit hohem Arbeitslosigkeitsrisiko fallen während ihrer Dienstzeit zeitweise aus der Statistik der Bundesagentur für Arbeit heraus. Gleichzeitig steigt aber auch die Chance auf eine Berufsausbildung beim Bund für diese Gruppe. Bei der derzeitigen Arbeitslosenquote hat beides aber nur einen schwachen Effekt, ähnlich schwach wie beim Zivildienst.

Und natürlich wurde auch das Schreckgespenst aus den Foltergefängnissen im Irak zur Verteidigung der Wehrpflicht herangezogen. Da die Vorwürfe und Untersuchungen in den USA sich auch und gerade gegen private Militärunternehmen richten, sieht der Verteidigungsminister die Wehrpflicht als Garant gegen Folter und Menschenrechtsverletzungen:

Eine Bundeswehr ohne Wehrpflicht würde sich gerade auf diesem Gebiet verändern, gewollt oder ungewollt. Ich jedenfalls will das nicht! Schließlich wird mit der Wehrpflicht einer "Privatisierung militärischer Einsätze" weitestgehend vorgebeugt. Ich bin in diesem Zusammenhang der felsenfesten Überzeugung, dass vor allem die Wehrpflicht insgesamt ein ganz entscheidender und struktureller Faktor zur Vorbeugung gegenüber Auswüchsen ist, die alle Regeln des Völkerrechts, der Menschenrechte und des Anstands verhöhnen.

Bundesminister der Verteidigung, Dr. Peter Struck, Rede anlässlich der Wehrpflichttagung des 11. Beirats für Fragen der Inneren Führung am 25. Mai 2004 in Berlin