Weiterentwicklung Direkter Demokratie

Der bayerische Grünen-Vorsitzende Dieter Janecek über neue Herausforderungen im Bereich Bürgerbeteiligung

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Dieter Janecek ist Landesvorsitzenden der bayerischen Grünen und erkämpfte vor dem Bundesverwaltungsgericht das Feinstaub-Urteil, das die Stadt München zwang, eine Umweltzone auszuweisen. Jetzt plädiert er dafür, die Forderung der Grünen nach Direkter Demokratie weiterzuentwickeln.

Herr Janecek - die Grünen haben seit 30 Jahren mehr Direkte Demokratie in ihrem Forderungsgepäck, aber auch nach sieben Jahren Regierungsbeteiligung gibt es noch keine Volksabstimmungen auf Bundesebene. Wie wichtig ist den Grünen dieses Ziel noch?

Dieter Janecek: Wir werden weiter dafür kämpfen, die direkte Demokratie in Deutschland und Bayern zu stärken. Im Bundestag sind wir wiederholt an der Union mit Gesetzesinitiativen zur Einführung von Volksentscheiden gescheitert. Der aus München stammende langjährige Bundesvorsitzende von Mehr Demokratie, Gerald Häfner, setzt sich für die Grünen im Europaparlament mit Erfolg für die Einführung einer Europäische Bürgerinitiative ein, vergleichbar mit einem europaweiten Volksentscheid. In Bayern konnte 1995 gegen die CSU per Volksentscheid das Recht auf Bürgerbegehren und Bürgerentscheid erwirkt werden, von dem seitdem nicht zuletzt von Grünen in den Kommunen rege Gebrauch gemacht wurde. Auch auf der letzten Klausurtagung unserer Landtagsfraktion waren die Weiterentwicklung von Bürgerbeteiligung und mehr Demokratie Schwerpunktthemen.

Mehr Transparenz und Beteiligung ist uns aber nicht nur nach außen wichtig, auch innerparteilich haben wir in den letzten Jahren einiges zur wirksameren Beteiligung unserer Mitglieder und Sympathisanten auf den Weg gebracht.

Dieter Janecek. Foto: GrüneFraktionBayern. Lizenz: CC BY 2.0.

Wenn man sich ansieht, was sich da im Bund und in Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung bewegt hat, ist die Bilanz eher durchwachsen: Den jüngsten Gesetzentwurf aus dem Saarland hat der Verein Mehr Demokratie als Scheinverbesserung und in Teilen sogar als Verschlimmbesserung zerrissen.

Dieter Janecek: Im Saarland regieren die Grünen mit der CDU, mit der es zugegebenermaßen schwierig ist, wirkliche Verbesserungen zu erzielen. Man muss sehen, wir sich hier die Debatte weiter entwickelt. In Nordrhein-Westfalen macht sich Rot-Grün für deutlich gesenkte Hürden für Volksentscheide stark und will auch die Einschreibungsfristen verlängern. Baden-Württemberg hat mit dem Grünen Winfried Kretschmann den ersten Ministerpräsidenten überhaupt, der Bürgerbeteiligung zu einem zentralen Anliegen seiner Regierungszeit machen will. Das Problem bei vielen Gesetzesvorstößen ist, dass eine 2/3-Mehrheit im Landtag erforderlich ist. Ohne Einbeziehung der CDU sind wesentliche Fortschritte also oft schwierig, aber der Druck für mehr Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie nimmt stetig zu.

In Baden-Württemberg findet demnächst ein Volksentscheid zu Stuttgart 21 statt, der kaum Chancen hat, das nötige Quorum zu erreichen. Im letzten Jahr boten dort FDP und CDU an, das Quorum auf 25 Prozent zu senken – ein Wert, der im November erreicht werden könnte. SPD und Grüne lehnten ab. Ging da die Wahltaktik vor?

Dieter Janecek: Die Grünen haben damals aus der inneren Überzeugung dagegen gestimmt, dass auch ein Quorum von 25 Prozent bei Weitem zu hoch und nicht bürgerfreundlich ist. Diese Position hat in Baden-Württemberg damals auch Mehr Demokratie e.V. vertreten. Zum Vergleich: Das Quorum in Bayern für Volksentscheide liegt bei 10%, und auch dies halte ich für zu hoch. Ob bei der Stuttgart-21-Partei SPD bei der damaligen Abstimmung lautere Motive durchgängig vorherrschend waren, darf bezweifelt werden. CDU wie SPD ist es doch nur recht, ihr Prestigeprojekt Stuttgart 21 formal gegen den Mehrheitswillen durchzusetzen, indem sie im eintretenden Fall auf das Scheitern am Quorum verweisen können.

In Hamburg erleichterten die Grünen Bürgerentscheide und scheiterten danach durch einen Bürgerentscheid mit ihrer Schulpolitik. Hand aufs Herz: Herrscht seitdem bei manchen Grünen eine latente Angst vor dem Bürgerwillen?

Dieter Janecek: Es gibt sicher auch bei uns vereinzelt Skeptiker der direkten Demokratie, die die Dominanz wirtschaftlich potenter Interessengruppen bei Volksentscheiden befürchten und auf inhaltlich nicht progressive Entscheide wie das Minarett-Verbot in der Schweiz oder eben den Bürgerentscheid in Hamburg gegen mehr gemeinsames Lernen verweisen. Die breite Mehrheit ist aber bei uns seit jeher der Auffassung, dass mehr Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger verbunden mit mehr Transparenz der Entscheidungen ein urdemokratisches Anliegen für jeden sein sollte. Dass nicht alle Entscheidungen so ausgehen, wie man sich das wünscht, ist zu akzeptieren. Laut Verfassung ist das Volk der letztgültige Souverän, und so soll es auch sein.

Wie stehen die Grünen zu Volksabstimmungen über EU-Erweiterungen?

Dieter Janecek: Die Grünen haben sich bei der Diskussion um die EU-Verfassung 2004 für eine europaweite Volksabstimmung ausgesprochen. Wenn wir ein geeintes demokratisches Europa wollen, ist der Weg nationaler Referenden auf Dauer nicht mehr der richtige, zumal das Einstimmigkeitsprinzip in der EU leicht dazu verleitet, nationale Egoismen über die europäische Weiterentwicklung zu stellen. Wir Grüne wünschen uns deshalb auch mehr Mehrheitsentscheidungen zwischen den Staaten, wobei das Europäische Parlament hierbei maßgeblich sein sollte. Der nächste wünschenswerte Schritt wären dann Entscheidungen eines noch zu definierenden europäischen Souveräns. Sicher ist dies keine leichte Aufgabe, die nicht ohne einen neuen Verfassungskonvent bewältigt werden kann.

Etwa 80 Prozent der Deutschen sind Umfragen nach gegen Euro-Rettungsschirme, aber über 80 Prozent der Parlamentarier sind dafür. Wie lange kann so ein Verhältnis gut gehen?

Dieter Janecek: Auf Dauer kann und darf die Politik nicht an den Interessen der Menschen vorbei handeln. Es macht sich ein Gefühl der Ohnmacht in der Bevölkerung breit angesichts Euro- und Schuldenkrise sowie der scheinbar weiterhin ungehemmten Macht der Banken. Das ist gefährlich für die Akzeptanz unserer Demokratie. Allerdings müssen wir auch akzeptieren, dass es wohl keine einfachen Lösungen gibt in einer solchen Krisenhäufung, die zwangsläufig auch zur Überforderung führt. Was Europa als Ganzes angeht, bin ich mir sicher, dass sich in der Endabwägung die große Mehrheit der Deutschen immer noch für eine weitergehende Integration und Zusammenarbeit aussprechen würde. Dass wir aber nie per Volksentscheid über europäische Grundsatzfragen abgestimmt haben, halte ich für einen Fehler.

Derzeit liegt die CDU in Umfragen bei 31 Prozent. Es könnte deshalb sein, dass sie im nächsten Bundestag keine Sperrminorität mehr hat, um die Verwirklichung des Verfassungsauftrages in Artikel 20 Absatz 2 des Grundgesetzes zu blockieren. Könnten Sie sich vorstellen, dass die Grünen noch vor Beginn der Arbeit der nächsten Koalition gemeinsam mit der SPD, der Linkspartei, den Piraten und eventuell ein paar unabhängigen Unionsabgeordneten diesen Verfassungsauftrag verwirklichen? Und wäre es nicht sinnvoll, jetzt schon an einem Entwurf dafür zu erarbeiten und diesen öffentlich zu präsentieren, damit der Bürger weiß, was er bekommt?

Dieter Janecek: Ich glaube, dass es am Ende wohl der einzig vielversprechende Weg sein wird, wenn wir eine überparteiliche Plattform für mehr direkte Demokratie schaffen. Auch in der Union gibt es zumindest an der Basis viele, die sich mehr Bürgerbeteiligung wünschen. Es kommt ja durchaus nicht selten vor, dass auch die CSU in den Kommunen Anstöße für Bürgerentscheide gibt. Vor einem Jahr hat Ministerpräsident Seehofer den Vorstoß für einen Volksentscheid zur Änderung der Verfassung gemacht, auch wenn ich die damit verbundenen Inhalte überhaupt nicht teile. Nach meiner Beobachtung gibt es also längst eine breite Mehrheit für direkte Demokratie. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass sie aus parteitaktischen Erwägungen blockiert wird.

Sebastian Nerz, der Vorsitzende der Piratenpartei, sagte dem ZDF, dass er sich eine rot-grün-orangene Koalition durchaus vorstellen könnte. Gesetzt den Fall, es käme 2013 zu solch einer Konstellation, und die Piraten fordern dafür Liquid Democracy – wie würden Sie dieser Forderung gegenüberstehen?

Dieter Janecek: Dazu muss die Piratenpartei 2013 erstmal in den Bundestag kommen. Aber auch ohne die Piraten bleibt die Demokratisierung politischer Prozesse ein zentraler Ansatz für uns. Wenn Liquid Democracy bedeutet, dass wir daran arbeiten die Entscheidungsprozesse demokratischer und transparenter zu machen, sind wir mit den Piraten auch auf einer Linie. Bei denen sieht das allerdings nach meiner Auffassung eher nach einer Form von Elitendemokratie aus für ausschließlich diejenigen, die sehr viel Zeit im Netz verbringen und von ihrem Zeitbudget her auch verbringen können.

Mir fehlt dabei der Ansatz, die Gesellschaft in ihrer Breite einzubinden, denn auch in 10 oder 20 Jahren wird es noch viele Menschen geben, die ihren Lebensmittelpunkt weiterhin nicht im Internet haben. Beteiligung ist mit ein paar Livestreams von Fraktions- oder Vorstandssitzungen eben nicht getan. Und zudem gibt es einen Unterschied zwischen sinnvoller Transparenz und der Truman Show, also einer Vollüberwachung politischer Handlungsakteure, die am Ende auch handlungsunfähig machen kann.

Die Antwort betraf jetzt eher eine andere Forderung der Piratenpartei, die Transparenz. Bei Liquid Democracy geht es darum, dass der Bürger nicht für vier Jahre alle Entscheidungen an eine Partei abgeben muss, sondern zum Beispiel sagen kann: Den einen Bereich soll dieser Politiker oder diese Partei machen, den anderen ein anderer oder eine andere und bei einem dritten will ich selbst abstimmen. Die technologischen Voraussetzungen wären dafür mittlerweile gegeben. Muss man nicht auch Forderungen nach mehr Direkter Demokratie an diese technologische Entwicklung anpassen?

Dieter Janecek: Entscheidend bleibt am Schluss, ob die Menschen in ihrer Vielfalt dann auch die technologischen Möglichkeiten gleichermaßen nutzen wollen und können. Sonst haben wir am Ende eine Demokratie, in der netzaffine gut informierte Bürger den Diskurs allein bestimmen, während andere auf der Strecke bleiben. Aber in der Tat: Ich wäre offen dafür, dass wir projektbezogen einfach mal damit loslegen und dann das Ganze in der Praxis evaluieren. Es ist halt ein Unterschied, ob man 81 Millionen Menschen einer Republik involviert oder wenige Tausend (oft miteinander vernetzte) Parteimitglieder und Sympathisanten.

Im Übrigen ist die Entscheidungsfähigkeit der Piraten bisher auch mit Liquid Democracy nicht gerade megaschnell, sonst würde es nach fünf Jahren Parteibildung nicht weiterhin so viele programmatische Leerstellen geben. Entscheidungen zu treffen, ohne vorher inhaltlich substanziell an Themen gearbeitet zu haben, mag ja urdemokratisch sein. Für einen guten konsistenten Politikentwurf reicht das allein nicht aus.

Hätte Liquid Democracy nicht auch für die Grünen Vorteile? Sie könnten dann ja in einem Bereich, in denen ihnen vom Bürger die Kompetenz übertragen wurde, viel eigenständiger und ohne Rücksichten auf Koalitionspartner operieren.

Dieter Janecek: Da wir vielfältig mit Initiativen, Verbänden und NGOs in der Zivilgesellschaft vernetzt sind, haben wir bereits einen beträchtlichen Erfahrungsschatz, wie man die Interessen der Bürgergesellschaft in Entscheidungsprozesse einbezieht. Bei der letztlich siegreichen Kampagne für den Ausstieg aus der Atomenergie ist dies zuletzt deutlich geworden. Ohne die Breite des untereinander vernetzten Bündnisses wäre der Erfolg nicht möglich gewesen.

Wenn Liquid Democracy helfen kann, solche Prozesse im täglichen Handeln zu institutionalisieren und für jedermann leicht zugänglich zu machen, sollten wir diesen Weg gehen. Am Ende wird in der repräsentativen Demokratie aber auch immer das in der Verfassung verbriefte Recht des oder der Abgeordneten auf seine oder ihre Gewissensentscheidung stehen.

Letzte Frage: Auf Twitter konnte man unlängst lesen, dass manche Menschen Angst haben, Liquid Feedback werde "so trollig […] wie die Heise-Foren". Was meinen Sie dazu?

Dieter Janecek: In dem Fall bekenne ich mich zu den Heise-Foren, die ich ja gerade schätze, weil dort abseits des Mainstream diskutiert wird. Dass Online-Foren aber in irgend einer Form repräsentativ für die Meinungsbildung in der Gesellschaft seien, halte ich in der Tat für ein Gerücht.

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