Welche Grundrechte bleiben dem vernetzten Menschen?

Die Zwischenbilanz der rot-grünen Koalition bei der Neufassung der informationellen Selbstbestimmungsrechte des Bürgers ist zwiespältig

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Dass die digitale Revolution Wirtschaft und Verwaltung verändert, dass E-Business ungeheure Produktivitätspotentiale freisetzen kann und die Menschen am liebsten nur noch online einkaufen, wird täglich von Managern der unterschiedlichsten Industriesparten und ihrer Public-Relations-Agenturen verkündet. Die Computerseiten der Tagespresse überbieten sich mindestens einmal in der Woche mit dem Aufzeigen der Wunderseiten der neuen Technik, auch wenn es meist bei Visionen bleibt, die sich vielleicht nie erfüllen. Weniger zu hören ist von der Rolle des Bürgers in der vernetzten Gesellschaft, welche neuen Dimensionen das Internet für die Meinungsäußerung und -bildung eröffnen und welche demokratischen Chancen es bieten könnte.

Doch dann ist da noch die "dunkle Seite" der Informationsgesellschaft, die der "grandiosen technischen Überwachungsmöglichkeiten", die sich laut Thilo Weichert von der Deutschen Vereinigung für Datenschutz (DVD) im Bereich der Telekommunikation und der alltäglichen Datenverarbeitung auftun und "mit jeder neuen Zeitungsmeldung über Echelon, Internetkontrolle, Videoüberwachung oder Satellitenbeobachtung" der Öffentlichkeit nach und nach bewusst werden. Anlass genug für die DVD, gemeinsam mit dem Forum für InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) sowie weiteren Datenschutzgruppen im Rahmen einer Tagung am Wochenende die Frage nach den Grundrechten in der Informationsgesellschaft zu stellen. Dabei ging es vor allem darum, eine "Zwischenbilanz rot-grüner IT-Politik" zu ziehen.

Eine klare Vorgabe, dass die Grundrechte angesichts der informationstechnischen Revolution neu definiert werden müssen, hatte das Bundesverfassungsgericht mit dem "Volkszählungsurteil" bereits 1983 gegeben. Darin hatte es aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet. Verbunden sind damit vor allem Fragen des Datenschutzes und des Informationszugangs, die von der "alten" Regierungskoalition allerdings mit wenig Eifer angegangen wurden. Um so größer waren die Erwartungen der Datenschützer und Bürgerrechtler an die rot-grüne Bundesregierung, in diesen Bereichen neue Akzente zu setzen. Geht es doch, so Weichert, "um die Neudefinition der sozialen Rollen der Menschen in einer informationstechnisch global gewordenen Umwelt". Denn noch seien die klassischen Grundrechte der Verfassung nicht hinreichend neu formuliert für eine Gesellschaft, "die von der Automation des Denkens und Kommunizierens gekennzeichnet ist."

Angetreten war die neue Regierungskoalition mit großen Plänen, die Gesellschaft zu modernisieren und neue Weichen zu stellen für die Verwirklichung von Bürgerrechten in der Informationsgesellschaft. Im Politikalltag scheinen diese Vorhaben allerdings rasch stecken geblieben zu sein. Zumindest verwendeten die Redner aus dem Regierungslager auf der Tagung einen Großteil ihrer Zeit darauf, Gründe für die zögernde Neuentwicklung vorzutragen und die Schwerfälligkeit beim Setzen neuer Schwerpunkte in der IT-Politik als Erblast der Vorgängerkoalition zu beschreiben.

Schöne Grundsätze, mangelnde Umsetzung

Nicht so richtig voran geht es beispielsweise bei der Novellierung des Datenschutzgesetzes. Mit den Vorgaben der Europäischen Richtlinie zum Datenschutz im Nacken, deren Umsetzungsfrist im Herbst 1998 gerade verstrichen war, entschloss sich die neue Regierung für ein zweigleisiges Vorgehen (Datenschutz und neue Unübersichtlichkeit): Zunächst sollte im ersten Express-Schritt das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG), dessen Grundzüge in der Zeit der "Mainframes" entstanden sind, an die Richtlinie aus Brüssel adaptiert werden. "Notgedrungen haben wir die Anpassung nicht besonders ehrgeizig abgesteckt", gibt Claus-Henning Schapper, Staatssekretär im Bundesinnenministerium (BMI offen zu. Erst im "parallel laufenden" zweiten Schritt, so zumindest die Planung des BMI, wolle die Regierung dann die dringlich erforderliche Grundkonzeption des BDSG kritisch überprüfen. Dabei gehe es, so Schapper, um "die Wiedergewinnung von Übersichtlichkeit und Verständlichkeit des Gesetzestextes".

Auch die anderen Grundsätze, die spätestens mit der "zweiten Welle" der Reform umgesetzt werden sollen, entsprechen durchaus dem Stand der aktuellen Diskussion in halbwegs progressiven Datenschutzkreisen: "Wir rennen offene Türen ein", freut sich Hansjürgen Garstka, Berliner Beauftragter für Datenschutz und Akteneinsicht. Schapper spricht von der Einführung des Datenschutzaudits, von Regelungen für die Videoüberwachung und die Chipkartenverwendung, vom Systemdatenschutz und dem Selbstschutz der Nutzer, der vor allem als Datenschutz durch Technik zu verstehen sei. Interessant ist es in diesem Zusammenhang, dass sich ein Staatssekretär im Innenministerium plötzlich darüber aufregt, dass "noch immer viel zu wenig verschlüsselt" werde und "der Durchbruch" im Bereich Kryptografie noch nicht gelungen sei. Denn noch vor einem Jahr war das BMI der große Unsicherheitsfaktor vor der Verabschiedung der Krypto-Eckwerte der Bundesregierung. Erkannt hat Schapper außerdem, dass der "gläserne Nutzer" alles andere als kundenfreundlich, sondern Grundlage "subtiler Beeinflussung" sei, die "mit unseren Vorstellungen von Selbstbestimmung nicht in Einklang zu bringen ist."

In der Praxis scheint sich die Umsetzung der hehren Ziele und Ideen zum Datenschutz allerdings schwieriger bewerkstelligen zu lassen als vorgesehen. "Deutschland ist wieder einmal dabei, sich in Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit nicht übertreffen zu lassen", klagt Schapper über die Probleme der Realpolitik allein bei der Adaption des BDSGs an die EU-Vorgaben. Denn die Zeitpläne bei der Verabschiedung der "Mini-Novelle" sind erneut durcheinander geraten: Zuerst machte der Presserat, der die Ausdehnung von Datenschutzregelungen auf die schreibenden Medien als Eingriff in die Meinungsfreiheit interpretierte, dem Gesetzgeber einen Strich durch die Rechnung. Aber auch die Länder hatten sich auf einen "Totalverriss" des Referentenentwurfs verständigt, weiß der Staatssekretär zu berichten, da sie an der Aufsichtshoheit ihrer Landesdatenschutzstellen festhalten wollten. Ein modifizierter Entwurf soll jetzt im April den Weg ins Kabinett finden. Doch obwohl die EU-Kommission inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren offiziell eingeleitet hat (Link), ist fast schon damit zu rechnen, dass die Länder die Verabschiedung der Vorlage erneut scheitern lassen.

Bleibt als große Unbekannte noch die zweite, tiefgreifende Welle der Novelle. Angesichts (oder trotz?) der angestrebten "breiten Beteiligung" von Vertretern aus der Wirtschaft, der Wissenschaft und von Verwaltungspraktikern glaubt Schapper daran, schon "sehr bald ein schlüssiges Konzept" vorlegen zu können. Doch der Weg auf die Zielgerade scheint bei Regierungsvertretern und Parlamentariern aus der rot-grünen Koalition noch umstritten zu sein. Schapper spricht davon, auf den langsam gewachsenen Bau des BDSG "ein neues Dach aufzusetzen" und passgerechte Übergänge zwischen alten und neuen Konzepten zu finden. Jörg Tauss, Beauftragter für Neue Medien der SPD-Fraktion, tendiert dagegen anscheinend zur schleswig-holsteinischen Lösung und legt sich deswegen mit den Unionsparteien an: In Kiel wurde das alte Landesdatenschutzgesetz zunächst mehr oder weniger komplett "eingerissen", um aus den Ruinen ein vollkommen neu konzipiertes Paragrafenwerk) mitsamt Datenschutzaudit auferstehen zu lassen. Nun will auch Tauss nach Ostern auf einem Workshop mit kreativen Denkern überlegen, "wie der Datenschutz aussehen müsste, wenn wir noch keinen hätten." Denn die Widersprüche zwischen dem BDSG, dem Teledienstedatenschutzgesetz (TDDSG) im Rahmen des Informations- und Telekommunikationsdienste-Gesetzes (IuKDG) sowie dem Telekommunikations-Gesetz (TKG) seien nur in einer Gesamtreform anzugehen.

Welche Informationen wollen frei sein?

Eine zweite Endlosbaustelle ist neben dem Update des BDSG das in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung angekündigte Informationsfreiheitsgesetz. Während die Länder Brandenburg (Run auf die Akten?), Berlin und seit jüngstem auch Schleswig-Holstein bereits "eifrig" Erfahrungen mit der neuen Verwaltungsoffenheit sammeln, scheint auf Bundesebene der Erdaushub allerdings noch nicht einmal begonnen zu haben. Bekenntnisse, Datenschutz und das Recht auf Informationszugang als zwei Seiten einer Medaille zu sehen, gibt es und werden von Überlegungen auf EU-Ebene begleitet (Öffentliche Informationen wollen frei sein): "Um seine Daten aktiv schützen zu können, muss sich der Bürger erst darüber grundlegend informieren können", erklärt Schapper. Die Regierung wolle daher das Verhältnis umkehren, dass heute der Zugang zu Verwaltungsinformationen die Ausnahme und nicht die Regel sei. Zumal die ersten Erfahrungen auf Länderebene auch gezeigt hätten, dass die Einsichtsrechte der Bürger nicht zu einem Verwaltungsmehraufwand führen müssten. Angesichts der verstärkten Einführung von elektronischen Verwaltungsdienstleistungen, glaubt Schapper, werde der Kostenfaktor eh an Bedeutung verlieren.

Wie lange die Diskussion über ein Informationsfreiheitsgesetz auf Bundesebene aber dauern, ob sie innerhalb dieser Legislaturperiode überhaupt noch abgeschlossen und wie weit sie reichen wird, ist noch völlig offen. "Es liegt noch einiges im Argen", fürchtet Wolfgang Däubler von der Universität Bremen. So habe er schon lange den Traum, einmal seine Stasi-Akte mit seiner Verfassungsschutz-Akte zu vergleichen - doch daraus werde wohl auch in Zukunft nichts. In solch sensiblen Bereichen käme es zu "ungeheuren Datenmassen mit enormen Verknüpfungsmöglichkeiten", so der Jurist. Aber trotzdem gebe es "keine Möglichkeiten, als Betroffener da rein zu schauen".

Gestritten wird auch noch über die Frage, ob die Privatwirtschaft dem Bürger über die bisherigen "Public und Investor Relations" hinaus ähnlich wie die Verwaltung in Zukunft Rede und Antwort stehen muss. "Freiheitsrechte, die sich früher nur gegen den Staat gerichtet haben", fordert Garstka, müssten sich angesichts von Mergers zwischen Unternehmen, die ganze Staatshaushalte in ihrem Wert überträfen, "auch gegen privatwirtschaftliche Monopole richten". Schließlich käme es zu einem weitgehenden Zusammenwachsen von "Bürger und Kunde" in einer Zeit, wo sich "Unternehmen immer mehr wie Staaten gerieren". Dieser Auffassung mag sich Alfred Büllesbach, Datenschutzbeauftragter bei Daimler Chrysler, allerdings nicht anschließen: Bei der Auskunftsdiskussion müsse man berücksichtigen, dass Unternehmen anders als Staaten miteinander im Wettbewerb stünden und Informationen für sie daher einen anderen Wert hätten. Viele Volkswirtschaftler dürfte Büllesbach mit dieser Argumentation allerdings nicht überzeugen.

Kein Interesse am Prinzip Offenheit

Die Zwischenbilanz rot-grüner Netzpolitik sieht insgesamt noch nicht besonders rosig aus. "Schwerpunkte sind kaum zu erkennen", bemängelt Bernd Lutterbeck, Professor für Informatik und Gesellschaft an der TU-Berlin. "Man kümmert sich um den Datenschutz, aber alles könnte auch viel schneller gehen und weniger juristisch". Das Informationsfreiheitsgesetz würde wohl zu spät kommen, wenn es überhaupt käme. Und beim Copyright sei man zwar dabei, die "netzbedingten Probleme Hollywoods zu lösen", lasse aber alle Fragen der Informationsfreiheit in Deutschland ungelöst. Im Zeitalter von Open Source würden die Bürger die Politik aber daran messen, "inwieweit es ihr gelingt, das Prinzip Offenheit im Alltag der Menschen zu installieren."

Büllesbach kritisiert dagegen, dass sich die Datenschutzdebatte hier zu Lande noch zu sehr im eigenen Sumpf bewege und mahnt "internationale Harmonisierungen" an. Ganze "Privacy-Konzepte" lägen im Widerstreit, da müsse man tiefer einsteigen als nur "20 Gesetze miteinander zu vergleichen". Vielmehr seien die unterschiedlichen kulturellen Wertorientierungen aufzugreifen und in ihrer Differenz zu sehen. Büllesbach ist sich sicher: "Keiner will einen weltweiten Einheitsbrei im Datenschutz." Ob die Wirtschaft mit derlei Erwägungen allerdings nur an einer effizienteren Verarbeitung personenbezogener Marketingprofile interessiert ist, bleibt die andere Frage. Büllesbach spricht schließlich auch von der "proaktiven Ansprache der Kunden", die für das Target-Marketing nötig sei. Deutsche Regelungen wie die strikte Trennung zwischen Bestands- und Marketingdaten sind dabei natürlich ein Stein des Anstoßes.

Garstka drängt dagegen auf ein Ende der "informationellen Gewaltenteilung in Zeiten von Data-Mining". Neue architektonische Vorgaben müssten angedacht werden, die dem Trend zur Pool-Bildung von Datenverarbeitungsverfahren in modernen Betrieben - aber auch bei der Polizei - begegnen könnten. Noch ungelöst sieht Garstka auch das völlig neue Problem, dass nicht mehr nur Personen, sondern letztlich auch Maschinen ein Datenschutzrecht zuerkannt werden müsse. Im Internet kommunizierten schließlich nur Maschinen miteinander, Computer, die über eine eindeutige IP-Nummer verfügten. Der Trend der Ansprechbarkeit einzelner Geräte weite sich noch dadurch aus, dass die Hausfrau bald aus der Ferne die Waschmaschine anstellen oder die Kinder wecken wolle. Cookies, IP-Adressen oder Global Unique IDentifier (GUIDs) machten es in dieser vernetzten Welt den "Profilern" einfach, "ohne Betroffenheit von Personen Gebrauchsgewohnheiten zu sammeln, soviel sie nur immer wollen."

"Die Regierung wird auch nach der ersten Stufe der BDSG-Reform noch ein erhebliches Arbeitspensum vor sich haben", hat angesichts der zahlreichen ungeklärten Fragen auch Schapper erkannt. Man wolle an die Aufgaben "mit Engagement und Augenmaß herangehen". Wie groß die Begeisterung der Bundestagsfraktionen für die Neubestimmung der Grundrechte in der Informationsgesellschaft aber tatsächlich ist, zeigte die "Abschlussdiskussion" am Samstag Abend: Die fiel nämlich schlicht ins Wasser, da außer Tauss kein Parlamentarier den Weg in die TU gefunden hatte. Cem Özdemir von den Bündnisgrünen war erkrankt, von der FDP und der CDU/CSU hatte sich bis zuletzt niemand bereit erklärt, überhaupt an der Debatte teilzunehmen.