Welche Zeitenwende der Ukraine-Krieg wirklich bringen wird

Seite 2: Zeitenwende? Ja, allerdings ganz anders, als von der Bundesregierung verkündet

Wie auch immer der Ausgang in der Ukraine sein wird, eines ist sicher: Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden in den kommenden Jahren für alle spürbar sein, da sich die Welt zwischen dem Westen und einem sich rasch neu formierenden Eurasien aufteilt.

EU-Europa/Deutschland haben sich dem amerikanischen Sanktionszwang gebeugt und sind auf noch nicht absehbare Zeit Gefangene einer Weltmacht, die sich mit allen Mitteln gegen ihren zunehmenden Bedeutungsverlust stemmt, siehe Andre Gunder Franks spöttische Überschrift in diesem Aufsatz aus dem Jahr 2005.6

Frank hat bereits in seiner Studie "ReOrient" (1998) postuliert, dass der Schwerpunkt der globalen Wirtschaft dorthin zurückkehrt, wo er Jahrtausende bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts lag, nach China. Die Frage nach den Motiven unserer Politiker, sich zum eigenen Nachteil dem amerikanischen Druck zu beugen, kann man vielleicht unter Abwandlung eines Marx-Zitats so ausdrücken: Freiheit ist die Einsicht in die amerikanische Notwendigkeit.

Zu erwarten ist im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ein massiver Wohlstandverlust mit steigender Arbeitslosigkeit, wegbrechenden Absatzmärkten, begleitet von sozialen Spannungen und Unruhen, wofür die Proteste der "Gelbwesten" in Frankreich einen Vorgeschmack bieten.

Die Zukunft Europas westlich der Grenzen der Russischen Föderation steht auf dem Spiel, während Eurasien, Mackinders "Weltinsel", von Osten mit dem Seidenstraßenprojekt BRI ökonomisch durch Investitionen in Infrastruktur und die Realwirtschaft entwickelt wird, ein Prozess, von dem sich der EWR unter Druck entkoppelt hat.

Bleibt dieser Zustand über einen längeren Zeitraum bestehen, wird der EWR in die totale wirtschaftliche und sicherheitspolitische7 Abhängigkeit von den USA geraten, eine Deindustrialisierung erleben und als Akteur für eine polyzentrische Weltordnung ausfallen.

Um aus dieser Falle, in die sich die Regierungen der europäischen Nato-Mitglieder – möglicherweise unter Druck, letztlich jedoch willig – hineinbegeben haben, herauszukommen, müssen unsere Politiker als Grundvoraussetzung zunächst erkennen, auf welch abschüssige Bahn sie sich mit ihrer Vasallentreue begeben haben. Zu befürchten ist jedoch, dass sich diese Einsicht auf rationalem Weg nicht einstellen wird.

Erst die durch die Folgen der Sanktionen abzusehenden innenpolitischen/gesellschaftlichen Verwerfungen dürften einen Umdenkprozess einleiten und die Erkenntnis befördern, dass Europa, "als westliche Halbinsel Groß-Eurasiens" nur dann eine unabhängige Zukunft haben kann, wenn darauf hingearbeitet wird, mit den Staaten dieses riesigen Kontinents eine gedeihliche politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu gestalten.

Der Leiter des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, Sergei Karaganow hofft, dass diese Entwicklung in zehn Jahren dazu kommen wird. Den klaren Blick des ehemaligen EU-Kommissars Günter Verheugen (SPD) sucht man derzeit unter den aktiven deutschen Politikern vergeblich.

Wären die europäischen Mitgliedsstaaten der Nato Verbündete auf Augenhöhe, wäre es ihre Aufgabe, auf die USA einzuwirken, ihren Hegemonialanspruch aufzugeben, weil er unter den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Schwerpunktverlagerungen keine Chance mehr auf Realisierung hat.

Denn der Rest der Welt wird den USA nicht mehr die Schulden finanzieren, je mehr die Rolle des US-Dollars als Reservewährung bröckelt. Dies beträfe besonders das Budget des Pentagons und die Machtprojektion mit Hilfe der über 800 Basen außerhalb der USA.

Klarzumachen wäre den USA, dass sich eine Win-win-Strategie für sie zur Lösung ihrer gesellschaftlichen Probleme selbst auszahlt, ganz zu schweigen von den weltweit frei werdende Mitteln für die Armutsbekämpfung.

Mit dem derzeitigen politischen Personal dürfte es beim Konjunktiv bleiben.


Der Artikel ist erschienen in:

Kraft, Stefan / Hofbauer, Hannes (Hg.)
Kriegsfolgen
Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert
Promedia New Edition
ISBN: 978-3853715116
Print: € 23,00, E-Book: € 18,99


Redaktionelle Anmerkung: Die Bezeichnung des russischen Angriffskrieges als defensiv wurde korrigiert und als Position Moskaus kenntlich gemacht.