Welfare Queen, oder: Warum die Vergangenheitsbewältigung zum Exportgut werden muss

Seite 2: US-Konservative sind oft keine

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Wie kommt es dazu, dass meine konservativen Verwandten und Freunde in den USA sich auf den Schlips getreten fühlen, wenn es um die Aufarbeitung der US-Geschichte geht, während Konservative in Deutschland viel offener mit der deutschen Vergangenheit? Dazu muss man eine Besonderheit im amerikanischen Konservatismus kennen: Echt konservativ bedeutet in den USA, dass man an starke Führer glaubt, die sich für nichts entschuldigen müssen. Und man will den Staat klein halten. Arme Menschen seien an der eigenen Misere selbst schuld - entsprechend muss man jede systematische Benachteiligung ausblenden, die eine staatliche Fürsorge rechtfertigen würde.

Ab 1933 versuchte der damalige Präsident Roosevelt, in Folge der Wirtschaftskrise einen Sozialstaat in den USA aufzubauen. Schon damals waren die USA das einzige westliche Industrieland, das ohne entsprechende Institutionen auskam. Die Amerikaner sind also schon lange - vielleicht weniger aus Überzeugung als notgedrungen - Individualisten. In seiner fulminanten Geschichte des New Deals Freedom from Fear zitiert der Historiker David Kennedy immer wieder Zeitzeugen, die sich darüber wundern, dass so wenige US-Bürger während der Weltwirtschaftskrise gegen die Missstände protestierten. Stattdessen nahm man einfach an, die Armut irgendwie selbst verschuldet zu haben.

Durch den New Deal schaffte es Roosevelt unter anderem, die Social Security als Rentensystem einzuführen. Seitdem müssen ältere Menschen nicht mehr fürchten, im hohen Alter betteln zu müssen; fürs Nötigste war gesorgt - es sei denn, man war Schwarz. Denn rund drei Viertel der Schwarzen arbeiteten damals auf dem Acker oder als Haushaltshilfe. Solche "freiberuflichen Tätigkeiten" kamen erst 1950 zur Social Security hinzu.

Dann begann die Bürgerrechtsbewegung, und Präsident Johnson baute ab 1964 seine Politik der Great Society auf dem Fundament von Roosevelts New Deal. Ziel war es, dass die US-Regierung die Schwarzen endlich gleichbehandeln sollte. Je mehr schwarze Bürger in den Genuss sozialer Fürsorge kamen, desto größer wurden allerdings die Klagen im weißen Amerika über vermeintliche Missbräuche des Wohlfahrtsstaats. Es entstand der Begriff Welfare Queen - zu deutsch etwa: Königin Hartz IV. Doch die Sorge, arme Schwarze würden üppig von Steuergeldern leben, war schon immer eine Lüge.

Der Begriff war das Ergebnis jahrzehntelanger Propaganda. In seiner Doku von 2002 "Century of the Self" erklärt der Brite Adam Curtis, wie die Werbebranche und die Industrie in den USA bei der Einführung des New Deals zusammenarbeiteten, um mithilfe der Psychoanalyse Freuds die heutige Konsumgesellschaft zu schaffen. Die Bürger sollten sich nicht zusammentun, um ihre gemeinsamen Interessen zu verteidigen - denn das wäre schlecht fürs Geschäft - sondern sie sollten Sachen kaufen, die sie im Grunde nicht benötigten. Wie der Titel der Doku klarmacht: Die Menschen sollten sich vor allem als Individuen sehen, nicht als Teil einer Gesellschaft - denn das sei faschistisch und unamerikanisch.

Weitere historische Puzzleteile wurden in einem 2015 veröffentlichten Buch namens One Nation Under God: How Corporate America Invented Christian America erläutert: Der Autor Kevin Kruse zeigt, dass US-Industrielle nicht nur die Werbebranche, sondern auch die Kirche für ihre Zwecke nutzten. Roosevelt hatte nämlich in den 1930er Jahren immer wieder religiöse Anspielungen in seine Reden eingebaut, um für seine Sozialpolitik zu werben. Die Geschäftswelt holte sich als Reaktion darauf ihre eigenen Prediger, die gegen Roosevelts vermeintlichen "christlichen Sozialismus" wetterten und den Amerikanern erklärten, nur jeder selbst könne die eigene Seele retten. Entsprechend seien Versuche des Staates, den Armen zu helfen, nicht nur fehlgeleitet, sondern auch "Tyrannei" und antichristlich. So erklärte der junge Prediger Billy Graham 1951, "die größte Not" der Armen sei nicht "Geld, Essen, oder Medizin, sondern Jesus." Wenn überhaupt, sollten die Armen von der Kirche Hilfe bekommen, nicht von einem gottlosen Staatsapparat. Kruse selbst nennt diesen Konservatismus amerikanischer Art "christlichen Neoliberalismus".

In den 80er und 90er Jahren ist der christliche Psychologe James Dobson zu erwähnen. Er beeinflusste das republikanische Lager mit seiner These, Väter sollten streng sein. Kinder müsse man auch mal körperlich züchtigen. "Als wir klein waren", sagte mir neulich ein alter Spielkamerad aus Grundschulzeiten, "hatten die Kinder nur Angst vor ihren Eltern." Als großer Trump-Fan sehnt er sich nach dieser Zeit zurück.

Auf die Wirtschaft übertragen bedeutet das Prinzip des strengen Vaters: Der Staat muss armen Menschen Disziplin beibringen. Sozialhilfe macht sie nur abhängig vom Staat und nimmt ihnen den Ansporn weg, ihr Leben selbst in die Hände zu nehmen. (Das Ideal des strengen Vaters erklärt auch zum Teil, weswegen eine Mehrheit der weißen Frauen in den USA für Trump stimmte, denn dieser gibt sich, soweit es ihm als Mittsiebziger gelingt, gerne als starken Mann aus. Nicht nur Männer, sondern auch viele Frauen in den USA haben die Ideologie des strengen Vaters verinnerlicht.)

Es gelang diesen Kräften, viele Amerikaner gegen den Sozialstaat einzuschwören. Und so kommt es, dass die Bedürftigen in den USA für Politiker stimmen, die ihnen die staatliche Unterstützung kürzen. Für Hillary Clinton stimmten rund 51% der Amerikaner, ihre Wahlkreise machten aber 64% der Wirtschaftskraft der USA aus. Absurd aber wahr: Tendenziell wollen wohlhabendere Amerikaner ihren Mitbürgern über die staatliche Fürsorge helfen - die Bedürftigen lehnen die Unterstützung aber immer wieder als unchristlich ab.

Schließlich gelang es den US-Industriellen, sogar die Wirtschaftsphilosophie zu vereinnahmen. Die "unsichtbare Hand" des schottischen Moralphilosophen Adam Smith gilt als zentraler Begriff in den heutigen Wirtschaftswissenschaften, obwohl diese für Smith nur eine Randmetapher war. Der Markt regele alles von alleine, so der Glaube in den USA, wenn der Staat sich einfach raushält. Mehr noch: Laut Smith sei das beste Ergebnis zu erzielen, wenn jeder seine eigenen Interessen schützt. "Kennen Sie eine Gesellschaft, die nicht auf Gier basiert?", fragte 1979 der renommierte Ökonom Milton Friedman einen TV-Moderator. Individualistischer geht's nicht.

Und doch ist Friedmans Annahme so falsch, wie die amerikanische Lesart von Smiths beiden Hauptwerken. Smith selbst sprach häufig davon, dass der Mensch seinen Selbstwert daraus beziehe, von anderen geschätzt (nicht beneidet) zu werden. Wir wollen alle geliebt und beliebt sein. Friedman hätte besser einen Anthropologen oder Ethnologen als einen TV-Moderator gefragt. Bereits 1944 schrieb Karl Polanyi in seiner Großen Transformation gegen die weitverbreitete Annahme unter Ökonomen, Märkte seien schon immer zentral gewesen: "Die Geschichtsschreibung und Ethnographie ... kennen keine Wirtschaft vor der unseren, die auch nur annähernd von Märkten kontrolliert und reguliert wurde." Die Anthropologen und Ethnologen kennen auch keine Gesellschaft, die auf Gier basiert. Empfohlen sei hier Debt: the first 5,000 years.

Der US-Konservatismus basiert also auf einer Fehldeutung der Lehren Adam Smiths zusammen mit einem missverstandenen Christentum - und einer großzügigen Prise Geschichtsvergessenheit, vor allem in Sachen Rassismus. Nicht erst seit kurzem regieren alternative Fakten in den USA.