Welfare Queen, oder: Warum die Vergangenheitsbewältigung zum Exportgut werden muss
- Welfare Queen, oder: Warum die Vergangenheitsbewältigung zum Exportgut werden muss
- US-Konservative sind oft keine
- Was lernt man für Deutschland daraus?
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Man wirft den Brexit, Trump, AfD & Co. gerne in einen Topf und spricht vom aufziehenden Populismus, und doch gibt es Unterschiede. Der Versuch einer Antwort eines lange in Deutschland lebenden Südstaatlers
Auf einem kleinen Friedhof außerhalb des Dorfes Stanford im US-Bundesstaat Mississippi liegen die Vorfahren meines Vaters begraben. Die Identität einer dort begrabenen Isabelle Morris (1870-1942), geborene Knight, beschäftigt mich seit einigen Jahren. Denn die Familie Morris lebte damals im benachbarten Jones County.
Ein gewisser Newton Knight hatte im Bürgerkrieg 1861-1865 Jones County zum "Free State of Jones" erklärt. Mitten in Mississippi war also ein Gebiet aus der Konföderation der Südstaaten ausgetreten. Ob es wirklich offiziell zu diesem Austritt kam oder ob Knight lediglich rund 125 Mitkämpfer auf seine Seite zog, ist bis heute nicht geklärt.
Wir wissen allerdings, worum es ihm ging. Damals besaß ein Viertel der Weißen im Süden Sklaven - und nur ein Prozent von ihnen mehr als hundert. Als armer Weißer wollte Knight nicht für die Rechte dieses einen Prozents kämpfen. Er glaubte, die Reichen würden die Sklaverei nutzen, um die armen Menschen - Weiße und Schwarze - auseinanderzutreiben. Später lebte er mit einer ehemaligen Sklavin und den gemeinsamen Kindern zusammen. Er starb erst 1922, ganze 57 Jahre nach Ende des Bürgerkriegs.
Knight hatte es also mitten in Mississippi geschafft, jahrzehntelang gegen miscegenation-Gesetze zu verstoßen; die Ehe zwischen Schwarzen und Weißen war verboten. Weder das Gesetz noch der Klu Klux Klan konnten ihm jedoch etwas anhaben. Die verschleierten Klansmen waren Feiglinge, die sich schwache Opfer aussuchen. Newton Knight und seine Leute hätten zurückgeschossen.
Ob diese Isabelle auf dem Familienfriedhof eines seiner Kinder war, habe ich nicht klären können. Meine Verwandten wissen nur, dass sie mit Newton verwandt war - und dadurch wir mit ihm. 2009 erschien das Buch The State of Jones. Seitdem weiß ich vom Free State of Jones, aber ich wagte es gar nicht, meine Familie danach zu fragen. Sie wählten alle Trump. Die Frage konnte also heikel sein. 2016 aber lief der Film zum Buch im Kino, und das Thema stand beim letzten Besuch zu Hause im Raum.
Stolz war niemand in meiner Familie auf Newton. "Er war... wie sagt man das?" suchte eine Verwandte nach dem richtigen Begriff. "Ein Verräter?" bot ich an. "Nein, ein Deserteur", sagte ein anderer.
Geschichtsvergessenheit
Eine deutsche Familie wäre eher froh, einen Freiheitskämpfer gegen die Nazis in den eigenen Reihen zu haben. Die Deutschen distanzieren sich lautstark von den dunkelsten Seiten ihrer Vergangenheit. Als Björn Höcke von der AfD Anfang des Jahres meinte, nur die Deutschen würden ihre Scham zur Schau stellen, erntete er Kritik. Von Links sowieso, aber auch Peter Tauber, Generalsekretär der CDU, sprach von einer "widerlichen Entgleisung." Und doch hat Höcke mit der Formulierung recht: Nur die Deutschen haben eine Vergangenheitsbewältigung. Unrecht hat er, wenn er diese abschaffen und die Vergangenheit wieder schönreden will, wie die Amerikaner dies bis heute tun. Stattdessen sollten auch andere Länder sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit befassen. Die Vergangenheitsbewältigung muss zum Exportgut werden.
Deutschland hat nicht nur ein Holocaust-Denkmal, sondern ganz Berlin erinnert schonungslos an die Nazi-Zeit. Und das Stolperstein-Projekt bringt die Erinnerung an alle Orte, wo unschuldige Menschen zu Opfern wurden - man findet sie überall.
Auch in den USA fanden überall Gräueltaten statt. Immer wieder beschränkt man mit Verweis auf die Sklaverei den Rassismus auf die Südstaaten, als hätte Oregon 1857 Schwarzen nicht generell verboten, sich dort niederzulassen - als hätte Ohio dieses Verbot nicht bereits 1804 erfunden. Auch Delaware, Kentucky, Maryland und Missouri erlaubten beim Ausbruch des Bürgerkriegs 1861 den Besitz von Sklaven, obwohl diese nicht zu den Südstaaten zählten.
Schaut man sich eine Karte der USA von 1861 an, besteht das Land weitgehend aus Sklavenstaaten mit einem kleinen Streifen von Bundestaaten im Norden, die weder freie, gleichberechtigte noch versklavte Schwarze wollten. Man spricht allerdings gewöhnlich von Bundesstaaten, wo die Sklaverei verboten war - nicht von Bundesstaaten, die auch keine freien Schwarzen haben wollten. Vier Jahre später wurde die Sklaverei abgeschafft. Dann gab es nur noch Bundesstaaten, die keine gleichberechtigten Schwarzen wollten.
"Aber das ist doch alles lange her, die Schwarzen hatten mittlerweile genug Zeit, um aufzuholen." So klingt die übliche Antwort des weißen Amerikas auf diese Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Dennoch finden die ersten zaghaften Versuche einer Vergangenheitsbewältigung in den USA gerade statt. Kein Museum der Sklaverei, aber immerhin: Ein National Museum of African American History and Culture wurde im September 2016 auf dem Mall in Washington eröffnet, nur ein paar Gehminuten vom Kongress und Weißen Haus entfernt. Und eine neue Onlinekarte zeigt die rund 5.000 Orte, wo Menschen gelyncht wurden. Drei Viertel der Opfer waren schwarz, viele andere waren Hispanics.
In Slavery by Another Name (2009) widerlegte der Historiker Douglas Blackmon den Mythos des langsamen Fortschritts für Schwarze seit dem Ende der Sklaverei, indem er zeigte, wie die Schwarzen in den USA ab etwa 1890 quasi wieder versklavt wurden. Zum Beispiel wurde das Herumstehen zum Verbrechen: das Loitering war erfunden. So konnte die Polizei jeden verhaften, der nicht direkt arbeitete und zur Arbeit ging. Kontrolliert wurden selbstverständlich vor allem Schwarze. Um die Strafen zu zahlen, wurden die Angeklagten quasi als Leiharbeiter billig verdingt. So finanzierte sich manch ein kommunaler Haushalt durch hohe Gebühren für Lappalien, die Schwarze "begehen" - bis heute, wie man seit den Ausschreitungen in Ferguson/Missouri weiß.
Bundesbehörden forcierten diesen Rückschritt im ganzen Land. Der Verkehrsminister unter Präsident Obama, Anthony Foxx, machte der Nation klar, dass der Ausbau der Highways in den 1950ern bewusst eingesetzt wurde, um schwarze Familien zu enteignen und schwarze Nachbarschaften zu zerteilen. Der Anschluss der Städte an die Highways erfolgte oft mitten durch schwarze Gemeinden, die den weißen Stadträten schon immer ein Dorn im Auge waren. Systematisch wurden Schwarze - durch Gesetze des Bundes, nicht nur in den Südstaaten - auch benachteiligt, wenn es um geförderten Wohnungsbau ging. So waren jahrzehntelang niedrig verzinste Bundesdarlehen an die Bedingung geknüpft, dass neue Wohngebiete rein weiß sein mussten.
Nicht alle weißen Amerikaner hören diese Tatsachen gerne. Auf der Webseite The American Conservative stand nach dem Amtsantritt Trumps, junge Weiße hätten es satt, für alles schuldig gemacht zu werden, weswegen sie heute zu den white supremicists überlaufen würden. Ob sie obige historische Tatsachen überhaupt kennen? Warum fragen sie ihre Eltern und Großeltern nicht wie die Deutschen: Was habt ihr gewusst? Was habt ihr getan?