"Weniger ist Zukunft"
IBA Stadtumbau 2010 - oder: Was bedeutet urbane Schrumpfung im europäischen Kontext?
Anfang April wurde in Sachsen-Anhalt die Internationale Bauausstellung 2010 – mehr oder minder feierlich – eröffnet. Beteiligt sind 19 Städte, die sich seit dem Startsignal 2002 nach und nach unter diesem anspruchsvollen Signet versammelten. Wobei man das Akronym IBA wohl eher als eine Art 'Markensehnsucht' interpretieren muss, denn weder geht es im Sachsen-Anhaltinischen richtig international zu, noch darf man auf eine architektonische Ikonographie hoffen, wie sie eigentlich solchen Anlässen inhärent ist. Die IBA Stadtumbau 2010 stellt hingegen eine Projekt- und Strategieorganisation dar, die für die absterbenden Klein- und Mittelstädte auf der Basis regionaler Ressourcen ein eigenständiges Profil entwickelt.
Was auch immer man an einzelnen Ansätzen in Aschersleben oder Quedlinburg, in Stendal, Magdeburg und Sangerhausen, in Eisleben, Merseburg oder Wittenberg, in Halberstadt, Weißenfels, Dessau und Naumburg verfolgte: Subsummiert wurde es schließlich unter dem paradox anmutenden Leitmotiv "Weniger ist Zukunft". Über die jeweiligen lokalen Konzepte ist zwischenzeitlich in vielen Medien berichtet worden. Hier indes soll die Versuchsanordnung gleichsam aus der Ferne betrachtet und auf ihre gesellschaftlichen Implikationen hin abgeklopft werden.
Unser historisches Verhältnis zur Stadt, so befand der Philosoph Boris Groys vor einiger Zeit, sei vom utopischen Traum nach vollständiger Vernünftigkeit, Übersichtlichkeit und Kontrollierbarkeit der eigenen Umwelt geprägt. Zwar sind Anspruch und Wirklichkeit selten einmal deckungsgleich. Aber angesichts dessen, dass schrumpfende, perforierte und stückweise brachfallende Städte in den neuen Bundesländern zu einem Normalfall der Stadtentwicklung zu werden drohen, muten solche Erwartungen tatsächlich utopisch an.
Zumal die Herausforderung, vor der die betroffenen Städte stehen, sich nicht auf die Formel "Bevölkerungsrückgang gleich Leerstand gleich Abriss" verkürzen lässt. Denn jener Sog – ausgehend von wirtschaftlicher Strukturschwäche und fehlenden Arbeits- und Ausbildungsplätzen, Wegzüge von Jüngeren und Qualifizierten, Leerstand von Wohnungen, zunehmende Armut und Überalterung, sinkende Steuereinnahmen bei steigenden Ausgaben für die soziale Sicherung, schlechtes Image und ausbleibende Investitionsbereitschaft, somit Verstärkung der wirtschaftlichen Strukturschwäche – erzeugt insgesamt ein Abwärtsspirale, die als strukturelle Schrumpfung alle städtischen Lebensprozesse erfaßt. Das aushalten zu können, ohne seine Identität zu verlieren, wird zur zentralen Forderung an den Stadtumbau.
Wäre Prophylaxe in der Politik wichtiger als Reaktion, dann ließen sich daraus auf europäischer Ebene viele Lehren ziehen. Indes, langsam nur sickert die Botschaft ins Bewußtsein: Planung kann heute nicht mehr nur Wachstumsüberschüsse verteilen, sondern muss sich auch mit der Verschärfung von Verteilungskonflikten auseinandersetzen. Bezüglich der Neuansiedlung von Unternehmen und Privathaushalten wächst die Konkurrenz zwischen Ländern, Regionen und Gemeinden. Die Niederlassung an einer Stelle führt jedoch unweigerlich zu Wegzug, Leerstand und Brachfallen an einer anderen. Etwaige Gewinner hier generieren Verlierer dort.
Die klassische Standortpolitik, stark auf staatlichen Subventionen basierend, ist fragwürdig geworden – zumindest, sofern sie darunter allein die Privatisierung industrieller Kerne, den Abriss vermeintlich veralteter Strukturen und die Ausweisung von Neusiedlungsquantitäten versteht. Freilich liegt eine gewisse Paradoxie in dem Umstand, dass die globalen Maßstäbe immer dominanter als Koordinaten für das lokale Handeln werden, und zugleich die kommunalen und individuellen Spielräume immer kleiner.
Doch nach wie vor werden die Konsequenzen der Schrumpfung unterschätzt. Sie lassen sich eben nicht auf eine Frage von Gebäudeabriss oder Quartiersaufwertung (namentlich in Plattenbausiedlungen) reduzieren - wie es die bisherige Debatte in der Regel tut -, sondern rührt an der Substanz einer auf Wachstum und Fortschritt geeichten Gesellschaft. Vergleichbare Lebensverhältnisse, wie sie das Grundgesetz vorschreibt, werden zunehmend unerreichbar und räumliche Disparitäten sich zwangsläufig verstärken. In Deutschland wie in Europa.
Idealiter hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass Städte nicht mehr "mit dem Kompass" geplant werden können. Womit die Ausrichtung auf mehr oder weniger unveränderliche physikalische Bedingungen, die Festlegung einer mehr oder weniger unveränderlichen Stadtstruktur desavouiert ist. Dessen ungeachtet strebt Stadtplanung (noch) immer danach, prognostizierten Entwicklungen mit neuen, möglichst weitsichtig angelegten Mauern gleichsam "vorzubauen". Heute geht es eher – oder zugleich – darum, "rückzubauen". Dafür aber existiert kein Rezept.
Es wird immer Situationen geben, in denen ein Stadtbereich von Grund auf neu geplant und geordnet werden muss – und andere, in denen man weitgehende Erhaltung anstreben wird. In jedem Einzelfalle also müssen Prioritäten geklärt, Ziele formuliert werden: Beispielsweise können geschichtliche Substanz und Gestalt in einen gewissen Widerspruch zur wirtschaftlichen und funktionellen Lebensfähigkeit des Viertels geraten, was indes nicht kongruent sein muss mit einer Verbesserung von Lebens- und Umweltqualität für die Bewohner.
Die Abwägung und Zielformulierung ist stets auch eine Wertentscheidung, und für die als nachrangig eingestuften Werte müssen dann meist Opfer in Kauf genommen werden. Dabei handelt es sich immer um subjektive Wertungen, die durch keine Kosten-Nutzen-Analyse ersetzt werden kann. In der öffentlichen Planung geht es also um kollektive Werturteile, die sich letzten Endes in politischen Entscheidungen niederschlagen. Noch jedoch gibt es keine gemeinsamen Maßstäbe für den Stadtumbau in Europa.
Stets ist für den Stadtumbau das Finden der angemessenen Nutzung von zentraler Bedeutung. Sie hängt eng zusammen mit den auf das Gebiet einwirkenden Wirtschaftskräften: Einerseits kann zu viel Druck, der nach mehr Ladenfläche, Parkplätzen, Liefermöglichkeiten verlangt, das Gefüge leicht sprengen; andererseits führt zu geringe Wirtschaftskraft zum Schwinden jener Erträge, aus denen die Erhaltung der Substanz finanziert werden kann, und damit zum Verfall.
Zukunftsstrategien dürfen sich nicht auf kleinteilige Reparaturen beschränken; ebenso wenig wie sie sich bloß auf die Wohnfunktion beziehen können, denn der Leerstand von Wohnraum ist nur ein Niederschlag gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Trends. Es wird eine Vielzahl von kleinen Projekten und Maßnahmen sein, die diesen Weg markieren. Gleichwohl sind diese einzubetten in eine gesamtstädtische Strategie – und sei es die eines perspektivischen Inkrementalismus. Denn die neue Herausforderung, den Um- und Rückbau zu steuern, betrifft die Maßstabsebene der Region ebenso wie die kleinteiligen städtischen Nachbarschaften. Zum Teil bedingen sich beide Prozesse wie in einem atmenden Organismus.
Die perforierte Stadt
Was heißt das in Bezug auf den europäischen Kontext? Zunächst einmal – bei aller Dramatik der Situation in manchen Städten – wäre für eine gewisse Gelassenheit zu plädieren. Zeigt doch ein Blick auf die Entwicklung städtebaulicher Grundgedanken in unserem Jahrhundert, dass wir es mit einer ständigen Veränderung von Schwerpunkten und Wertmaßstäben zu tun haben: Heute hui, morgen pfui. Ein großer Teil der Wandlungen stammt dabei aus der Ermüdung am vorher Gängigen. Meinungsbildung im Städtebau vollzieht sich in Pendelschwüngen.
Neue Gedanken, im Ansatz durchaus fruchtbar, werden modisch aufgemacht, mit überhöhten Erwartungen befrachtet – und schnell verworfen, wenn sie eben diese Erwartungen nicht erfüllen. Es besteht kein Anlass zu der Vermutung, dass solche Wandlungen sich nicht fortsetzen. Und so wird auch die Einschätzung von städtebaulicher Angemessenheit wahrscheinlich in Zukunft ähnlichen Veränderungen unterworfen sein, wie wir sie bisher schon erlebt haben.
Wenn es in der Europäischen Union ein städtebauliches Leitbild gibt, dann ist es das von der "sustainable city" – hinreichend unspezifisch, um allseits akzeptiert zu sein. Die Kosten-Nutzen-Relation für Infrastruktur und Flächeninanspruchnahme spielt dabei eine wichtige Rolle. Dass Innen- vor Außenentwicklung gehe, ist demzufolge ein der heutigen Stadtentwicklungspolitik tief eingewobener Leitsatz, der seine grundlegende Angemessenheit und Gültigkeit behält, auch wenn es von Fall zu Fall angebracht ist, davon abzuweichen. In diesem Sinne, und um eine Beispiel zu nennen, mag die "perforierte Stadt" zwar kaum ein geeignetes Leitbild abgeben, wohl aber kann sie eine temporär angemessene Strategie für die Schulterung des Umbruchs darstellen – insbesondere, wenn mit Instrumenten wie Gestattungsverträgen überlieferte Baurechte nicht außer Kraft gesetzt, sondern eben nur den konkreten Bedingungen angemessene "Zwischennutzungen" autorisiert werden.
Es ist dies eine offene Option auf die Zukunft, die zumindest nichts "verbaut". Just diese Erfahrungen und Lerneffekte, die sich im "Instrumentenkasten" und den rechtlichen Rahmenbedingungen des Städtebaus niederschlagen, könnten sukzessive auf die europäische Ebene transponiert werden. Hier sei lediglich auf die integrierten Stadtentwicklungskonzepte hingewiesen, die dem Stadtumbau Ost den einzelfallbezogenen Rahmen geben.
Allerdings wäre dabei die Relativität bisheriger Städte(bau)politik realistisch einzuschätzen. Ist es doch ein Mythos, dass raumrelevante Entscheidungen einzig durch städtebauliche Leitvorstellungen, stadtplanerische Instrumente oder architektonische Eingriffe getroffen werden. Viele Politikbereiche wirken auf die Stadt ein und prägen ihre Entwicklung meist weit nachhaltiger, als es die (Städte)Baupolitik vermag. So sind großflächige Einzelhandelszentren nicht das Ergebnis städtebaulicher Einsichten, sondern steuerrechtlicher Mechanismen.
Die Innenstädte in ihrer Monotonie oder Attraktivität werden durch Gewerberecht eher beeinflusst als durch städtebauliche Akzente. Die Banalität des Warenangebotes ist Ergebnis der zunehmenden Filialisierung der örtlichen Ladenlokale vor dem Hintergrund der Konzentrationsprozesse im Einzelhandel – das immergleiche Angebot der Filialisten spricht in ganz Europa dieselbe Sprache.
Zudem muss man sehen, dass bislang, und nicht nur beim Stadtumbau, die Idee des gesellschaftlichen Fortschritts viel zu stark an die Semantik neuer urbaner Layouts geknüpft und die Eigendynamik gewachsener Milieus negiert wurde. Dabei gilt es, Alt und Neu gemeinsam in ihr Recht zu setzten, in einer Synthese auf der Basis einer fallweisen Filterung. Gerade weil es heute mehr denn je um das Problem der 'bestehenden Stadt' – und nicht um ihre Neuerfindung – geht, sind Lösungen nur möglich, wenn man sich nicht nur um die Dinge kümmert, die zu konsolidieren und zu retten sind, sondern auch um die Demolierungen, Veränderungen und neuen Verwendungsmöglichkeiten.
Woran es, in Europa wohl mehr als hierzulande, mangelt, das ist eine neue Geist- und Werthaltung bezüglich des postindustriellen Urbanismus. Vor allen Programmen steht die Einsicht: Der Umbau unserer Städte verlangt zuvorderst einen Umbau in den Köpfen. Geht es doch nicht bloß um Renovation, sondern auch um Rückbau von Stadt – bis hin zu Rückgabe von Siedlungsfläche.
Man sollte vor diesem Begriff nicht zurückschrecken. So ist etwa im Bergbaurecht diese Konsequenz systematisch verankert. Die Renaturierung ausgebeuteter Abbaugebiete ist selbstverständlicher Bestandteil der wirtschaftlichen Betätigung von Bergwerksunternehmen. Auch beim Getränkepfand oder bei der Altautoregelung sind Steuerungsinstrumente etabliert, die vor Jahren noch für politisch undenkbar und nicht realitätstauglich gehalten wurden. Sollten Regelungen dieser Art nicht auch auf die Stadtentwicklungspolitik übertragbar sein? Könnte dies nicht gar – Stichwort Nachhaltigkeit – bevorzugter Gegenstand für eine EU-Initiative sein?
Nach der Stadterweiterung kommt der Stadtumbau
Das Phänomen der Schrumpfung, d.h. massiver Bevölkerungsrückgang und anhaltende wirtschaftliche Probleme bei nachlassender kommunaler Steuerungsfähigkeit, wird zunehmend mehr Städten seinen Stempel aufdrücken, in Mittelengland genauso wie im Mezzogiorno. Mit bloß kurzfristigen und unterkomplexen Planungen, mit illusorischen Wachstumshoffnungen wird dem nicht beizukommen sein. Vielmehr gilt es, eine neue Sensibilität dafür zu wecken, dass die großen Herausforderungen der städtischen Zukunft zum einen ehrlich benannt und zum anderen bewältigt werden müssen, indem man diese Aufgaben auch "institutionalisiert": Es braucht also Institutionen auf kommunaler Ebene, die Langfristigkeit und Zukunftsorientierung sicherstellen. Genauso aber braucht es im vereinten Europa professionelle Ansprechpartner.
Sicherlich, auf europäischer Ebene hat das Thema noch längst nicht die Aufmerksamkeit und Anerkennung erfahren, die ihm gebührt. Neben den hinlänglich bekannten mentalen Barrieren mag dies auch an der 'Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen' liegen. Viele europäische Städte boomen, und sind demzufolge damit beschäftigt, ihre Wachstumsprobleme zu bewältigen. In Spaniens Metropolen etwa steht eine massive Stadterweiterung - genährt durch die bislang ungesättigte Nachfrage nach Wohneigentum – nach wie vor auf der Tagesordnung.
Als institutioneller Fördertatbestand steht der Stadtumbau bislang nicht auf der Prioritätenliste der einschlägigen EU-Programme. Dennoch, ob nun in Manchester oder Mulhouse, ist Schrumpfung präsent, und auch in Malmö oder Catania ist sie nicht ganz fremd. Für viele Städte und Regionen Europas mögen die Erfahrungen und strategischen Ansätze der jüngeren ostdeutschen Vergangenheit durchaus hilfreich sein; stellen sie doch im internationalen Kontext eine Art Pionierleistung dar. Unter Umständen könnte (Stadt)UMBAU gar zu einem festen Begriff in einer globalisierten lingua franca werden – so wie es etwa 'Zeitgeist' und 'Kindergarten', 'Gestalt' oder 'Leitmotiv' als deutsche Ausdrücke im Englischen längst sind. Und was vermag einen solchen Ideentransfer sinnfälliger zu illustrieren?