Wenn Gremien entscheiden…

Seite 2: TINA herrscht alternativlos

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Warnungen werden ignoriert oder mit schwachen Argumenten in den Wind geschlagen. Die Gruppe behauptet, diese Lösung sei "alternativlos" - "There is no alternative". Spötter verkürzten dies rasch auf TINA.

Eine Suche nach besseren Alternativen findet daher erst gar nicht statt. Die Aufmerksamkeit der Gruppe konzentriert sich ausschließlich auf die positiven Aspekte einer Handlung, und die Lösungsvorschläge werden nur bruchstückhaft diskutiert und durchdacht.

Die Gruppe hält hartnäckig an ihren Fehlentscheidungen fest und meint, dass sich das Blatt nach einigen anfänglichen Fehlschlägen rasch zum Besseren wenden werde. Die Auswirkungen können dramatisch sein. Nachdem eine Aktion erst einmal in Gang gesetzt wurde, wird sie bis zum bitteren Ende und ohne Rücksicht auf Verluste durchgefochten.

Die Missgeschicke und negativen Reaktionen werden auf eine schlechte Ausführung der Entscheidung zurückgeführt. Die Entscheidung an und für sich wird aber als weiterhin richtig empfunden und gegenüber Kritikern geradezu mit Zähnen und Klauen verteidigt.

Das ist nicht etwa die Beschreibung der öffentlichen Diskussion über den "Euro-Rettungsschirm". Dies sind sozialpsychologische Erkenntnisse aus den 1970er Jahren. Sie klingen aber wie ein brandaktueller Kommentar zur Bewältigung zur Euro-Schuldenkrise von 2011/2012. Genauso verhalten sich demokratische Gremien, wenn sie sich in Fehlentscheidungen verrannt haben.

Erstmals wissenschaftlich analysiert hat 1972 der amerikanische Psychologe Irving L. Janis (1918-1990) das Groupthink-Phänomen. Er untersuchte Ereignisse in der jüngeren US-Geschichte, die im Rückblick nach der allgemeinen Überzeugung aller verantwortungsbewussten Beobachter auf eindeutigen Fehlentscheidungen beruhten: Pearl Harbor, Koreakrieg, McCarthy-Ära, Invasion in der Schweinebucht und Vietnamkrieg. Er versuchte zu klären, warum Gruppen von höchst kompetenten Beratern diese offensichtlichen Fehlentscheidungen auch noch sehenden Auges vorantrieben.

Den Begriff Groupthink entwickelte Janis, um zu erklären, wie es kommt, dass hoch qualifizierte Gruppen, die zudem Zugang zu den geheimsten Informationen hatten, häufig völlig dumme und verfehlte Entscheidungen treffen.

Zentrale Erkenntnis der Untersuchung war, dass die Beraterstäbe einer starken Gleichschaltung im Denken unterworfen waren. Dieses Phänomen nannte Janis "Groupthink".

Nach Irving L. Janis hat das Groupthink Syndrome2 acht Symptome, die sich in drei Gruppen einteilen lassen:

  1. Überschätzung der Macht und Moral der Gruppe: 1. Illusion der Unverwundbarkeit bei allen oder den meisten Gruppenmitgliedern. Sie führt zu maßlosem Optimismus und verleitet dazu, extreme Risiken einzugehen. 2. Glaube an die der Gruppe eigene Moral. Er führt dazu, dass man die ethischen oder moralischen Folgen seiner Entscheidungen nicht beachtet.
  2. Scheuklappendenken: 3. Gemeinsame Anstrengung, die eigenen Entscheidungen zu rationalisieren, um Warnungen oder andere Informationen zu entwerten, die dazu führen könnten, dass man seine Entscheidungen nochmals überdenkt und gegebenenfalls revidiert. 4. Eine stereotype Sicht der Gegner als zu böse, um mit ihnen echte Verhandlungen zu versuchen, oder als zu schwach oder zu dumm, um den riskanten eigenen Vorgehensweisen zu begegnen.
  3. Uniformitätsdruck: 5. Selbstzensur gegen Abweichungen vom anscheinenden Gruppenkonsens. Die einzelnen Gruppenmitglieder halten deshalb Bedenken oder Einwände zurück. 6. Illusion der Einmütigkeit. 7. Druck auf Gruppenmitglieder, die Einwände vorbringen gegen Stereotype, Illusionen und Engagements der Gruppe. Widerspruch wird als Illoyalität gebrandmarkt. 8. Auftreten von selbsternannten Zensoren, die die Gruppe abschirmen gegen Informationen und Meinungen, die die Gruppe in ihrer Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit erschüttern könnten.

Groupthink führt dazu3, dass man

  • Alternativen nur höchst unzureichend erarbeitet;
  • mögliche Zielsetzungen nur unzureichend erarbeitet;
  • die Risiken der gefällten Entscheidung mangelhaft überlegt;
  • einmal verworfene Alternativen nicht mehr in Betracht zieht;
  • sehr mangelhaft Informationen sammelt;
  • Informationen tendenziös auswertet;
  • keine Vorkehrungen für etwaige Hindernisse, Rückschläge oder Versagen trifft.

Die Verantwortlichen verstecken sich in der Masse

Zu den gefährlichsten Einzelphänomenen von Gruppenentscheidungen gehört die Entindividualisierung. Die Mitgliedschaft in einer Gruppe bringt es mit sich, dass sich der Einzelne weniger unmittelbar für sein Handeln verantwortlich fühlt. Die Wahrscheinlichkeit, in der Gruppe entdeckt zu werden und zur Rechenschaft gezogen werden zu können, ist sehr gering, daher sinkt das Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen für die eigenen Handlungen.

Er versteckt sich in der Gruppe. Folglich tut er als Gruppenmitglied Dinge, zu denen er sich allein nie bereitgefunden hätte. Der Einzelne verschmilzt jenseits aller Vernunft mit der Emotionalität der Gruppe. Und tatsächlich kann die Zugehörigkeit zu einer Gruppe dem Einzelnen ein Gefühl nie gekannten Selbstbewusstseins und persönlicher Stärke vermitteln.

Untersuchungen zeigen, dass bei Gruppenentscheidungen häufig die Position der Mehrheit oder der Person mit dem höchsten Status angenommen wird. Groupthink kann zur Folge haben: eine Konformität im Denken, einen Konsens um jeden Preis, ein übersteigertes Wir-Gefühl, kaum einen Blick nach außen, eine Unterdrückung gegenteiliger Meinungen.

Einmal gefällte Entscheidungen werden verteidigt, unabhängig davon, ob sie tatsächlich die erhoffte Wirkung haben oder noch schlimmere Entscheidungen bedingen. Eine Wissensentwicklung und ein Wissenserwerb werden in einem solchen Umfeld kaum erfolgen.

Gruppendenken ist eine Form des kollektiven Irrsinns

Gruppen wie Parteien, Parlamente, Fraktionen haben die Tendenz zum Groupthink. Groupthink prägt immer wieder die Politik demokratischer Systeme. Es ist eine Form des kollektiven Irrsinns, in den sich Gruppen bis hin zu ganzen Nationen immer wieder hineinsteigern. Und sie wird stets dadurch gefördert, dass die Parlamente immer größer werden: Riesenapparate, in denen der Einzelne sich verliert. Der 1. Bundestag hatte noch 402 Abgeordnete und ist seither ständig gewachsen. Der 18. Bundestag bringt ist mit seinen 631 Abgeordneten ein Organisationszyklop.

Auch in der deutschen Politik gab und gibt es solche Phasen des kollektiven Wahnsinns, in denen alle rationalen Kontrollen außer Kraft sind.

Klassisches Beispiel ist die Phase grenzenloser Euphorie nach der Wiedervereinigung, als niemand hören wollte, dass es ökonomischer Unfug war, die Mark der DDR eins zu eins gegen die DM umzutauschen, und die langanhaltende Phase der Einführung des Euro, als niemand sich für die Gegenargumente der Kritiker interessierte, die da lauteten, die Einführung einer gemeinsamen Währung ohne jede koordinierte Wirtschaftspolitik müsse in die Katastrophe führen.

Und das Groupthink-Phänomen setzt sich fort: Eine auf sich gestellte (abgeschottete) Gruppe (die europäischen Politiker und besonders die europäischen Finanzminister) neigt plötzlich zur Kohäsion, weil unter externem Stress und Zeitdruck eine gemeinsame Entscheidung gefragt ist. Ohne große Diskussion, Hauptsache man kommt irgendwie durch und übersteht den Entscheidungsdruck. Dann gibt es keinen mehr, der kritische Fragen stellt, Alternativen werden nicht mehr ausreichend berücksichtigt; denn alle Entscheidungen sind ja absolut alternativlos…

Teil 11: Parlamentarier im Würgegriff des Fraktionszwangs.

Nach Artikel 38 GG sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Blasse Theorie. In der politischen Praxis ist das eine große Lüge: Die Fraktionen stimmen in der Wirklichkeit so gut wie immer geschlossen ab. Abweichler werden nicht geduldet. Tatsächlich sind die Abgeordneten aller Parteien nicht viel mehr als die willfährigen Sklaven ihrer Fraktionsführungen: Abstimmvieh. Sie können es sich nicht leisten, einmal aufzumucken, wenn sie ihren Parlamentssitz behalten wollen.