Wenn Meinungsvielfalt destruktiv wird
Seite 3: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind keine Meinungen
- Wenn Meinungsvielfalt destruktiv wird
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- Wissenschaftliche Erkenntnisse sind keine Meinungen
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Feststellungen müssen sich an der Realität eines Sachgebietes bewähren. Da zählen die Ansichten von denjenigen, die Sachkompetenz besitzen, mehr als die Ansichten derer, die von der Sache wenig oder gar keine Ahnung haben. Was Sachverständige bei genauerer Untersuchung einer Sache erklären, sind begründete Expertisen, keine Meinungen. Wer ihnen nicht folgt, kann ziemliche Enttäuschungen erleben.
Wissenschaften beziehen sich auf Sachverhalte. Wissenschaftler erforschen ihren Sachbereich oder Teile davon intensiv, grundlegend und systematisch. Ihr Ziel ist es, neue und verlässliche Erkenntnisse über den Forschungsgegenstand zu finden. Forschung ist ein Verfahren, in dem in der wissenschaftlichen Community anerkannte Standards gelten. Dazu gehören auch Prüfverfahren, die die Verlässlichkeit der neuen Erkenntnisse erhärten sollen.
Einzelne Wissenschaftler können hervorragende Leistungen erbringen, sie müssen ihre Ergebnisse aber der Prüfung durch die Community ihres Fachbereichs unterziehen. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen intersubjektiv sein, dass heißt von allen nachvollzogen werden können. Wissenschaftliche Ergebnisse sind grundsätzlich offen, revidierbar und gelten nur solange, wie sie nicht "falsifiziert" werden, das heißt, nicht durch andere Befunde widerlegt werden.
Trotzdem gibt es durch Überprüfungsverfahren gesicherte und an der Realität bewährte Erkenntnisse, die von der Mehrheit der maßgeblichen Forscher anerkannt werden. Es gilt aber immer der Vorbehalt: "Soweit wir nach dem heutigen Stand der Forschung wissen…" Wissenschaftliche Forschungsergebnisse sind also keine bloßen "Meinungen".
"Meinungsvielfalt" ist in der Forschung nicht angebracht, im Gegenteil, sie ist ein schlechtes Zeichen für ein Forschungsgebiet. Meinungen bei unsicheren Kenntnislagen gibt es unter Wissenschaftlern natürlich auch, aber wenn sie wissenschaftlich relevant sein sollen, müssen sie in begründete "Hypothesen" umformuliert werden, die der Überprüfung harren.
Bei Nicht-Wissenschaftlern liegen oft Missverständnisse über die Art wissenschaftlicher Erkenntnisse vor. Man meint, sie stellten "Meinungen" dar und seien mehr oder weniger austauschbar. Das beobachte ich bei Corona-Leugnern und "Querdenken"-Anhängern. Die wenigsten haben sich intensiv mit dem Virus Sars-Cov-2 und der von ihm ausgelösten Krankheit Covid-19 beschäftigt. Sie beziehen ihr Wissen aus sekundären Zeitungs- oder Internetartikeln und nicht aus wissenschaftlichen Primär-Veröffentlichungen. Sie greifen dann zu Aussagen angeblicher "Experten" oder beschränken sich auf einzelne Forschungsergebnisse, die ihrer Einstellung entgegenkommen, aber eventuell längst überholt sind.
Ein Beispiel ist die Resonanz, die der Mikrobiologe und Epidemiologe Prof. Dr. Sucharit Bhakdi und seine Frau, die Biochemikerin Prof. Dr. Karina Reiß mit ihrem Bestseller "Corona Fehlalarm?" in diesen Kreisen gefunden haben. Bhakdi und Reiß sind nicht als Coronaviren-Forscher hervorgetreten. Das eingängig geschriebene Buch ist keine Abhandlung, die wissenschaftlichen Kriterien entspricht, sondern eine tendenziöse "Streitschrift", bei der auch der politisch-gesellschaftliche Hintergrund der Autoren deren Argumentation beeinflusst. Ein großer Teil der auf das Sars-Cov-2-Virus und Covid-19 bezogenen Behauptungen in diesem im Juni 2020 erschienenen Buch ist nicht haltbar.
Nach wissenschaftlichen Kriterien lassen sich inzwischen Teile der prüfbaren Thesen Bhakdis falsifizieren, andere nicht sicher belegen. Letzteres zum Beispiel in der Frage von Unsicherheiten und der mutmaßlichen Sinnlosigkeit von Schutzimpfungen gegen das Virus. In anderen Fällen interpretiert er Befunde tendenziös-übertrieben oder ignoriert ihm widersprechende Forschungsergebnisse.
Trotz Vorerkrankung viel Lebenszeit verloren
Um nur einen Punkt zu nennen: Statistische Berechungen deuten darauf hin, dass ein großer Teil der vorerkrankten im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen wesentlich länger hätten leben können. Obduktionen haben diesen Befund bestätigt. Sie ergaben, dass die meisten der Covid-19-Opfer mit Vorerkrankungen nicht hauptsächlich ihren bestehenden Leiden erlegen sind, sondern hauptsächlich oder direkt an den Folgen von Covid-19 starben. Sie haben unter Umständen beträchtliche Lebenszeit verloren, die sie trotz Einschränkungen auf subjektiv lebenswerte Weise hätten verbringen können.
Die Stellungnahmen von auf ihrem Gebiet ausgewiesenen und anerkannten Wissenschaftlern haben einen anderen Rang als die "Meinungen" von weniger ausgewiesenen "Experten" oder Nicht-Fachleuten. Es ist gut, wenn auch Nicht-Fachleute die Entwicklung lebensrelevanter Fachgebiete mitverfolgen, sich dazu Gedanken machen und sich ihre Meinung darüber bilden. Dabei kann eine kritische Haltung sinnvoll sein. "Wissenschaftsgläubigkeit" ist keine adäquate Haltung. Nicht-Fachleute können aber nicht beanspruchen, es besser zu wissen als Experten. Sie sollten sich über die Grenzen ihres Wissensstandes im Klaren sein. Es gehört zu einer modernen Gesellschaft und ihrer Politik, sich an wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen über Sachverhalte zu orientieren, aber subjektive "Privatmeinungen" können dabei nicht den Ausschlag geben.
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