Wenn Meinungsvielfalt destruktiv wird

Seite 4: Defizitäres Wissen: Leserkommentare zu Corona-Fragen

Wie verbreitet defizitäres Wissen über das Wirken des Sars-Cov-2-Virus und darüber, wie es effektiv bekämpft werden kann, ist, kann man Leserbriefen an Zeitungen und Kommentaren zu einschlägigen Internetartikeln entnehmen.

Als Beispiel können hier vier Kommentar-Ausschnitte zu dem Telepolis-Artikel "Covid-19: Wie könnte eine dritte Welle aufgehalten werden?" dienen.

1. "Ich persönlich halte Null-Covid oder Zero-Covid für eine Nebelkerze, um mit einer Extremsituation drohen zu können."

Das Statement zeigt ein Informationsdefizit. Eine nähere Beschäftigung mit der Corona-Bekämpfung in Australien, Neuseeland oder Taiwan würde dem Kommentator vor Augen führen, dass diese Strategien erfolgreich sind.

Kompetente Wissenschaftler halten die Null-Covid-Strategie auch bei uns für anwendbar und für den effizientesten Weg, um Covid-19 einzudämmen. Die lokalen Ansteckungszahlen in Australien bewegen sich seit längerem um den Null-Bereich .

2. "Da die überwiegende Mehrheit der Infizierten nicht stirbt, die meisten sogar milde Verläufe bis ganz asymptomatische Verläufe haben, zeigt da? Cov 19 ein Virus ist, mit dem ein intaktes Immunsystem gut fertig werden kann. Auch ohne Impfung, ohne Antikörper … Die Situation [Vitamin D-Mangel im Winter] war so vorherzusehen wie andere Grippewellen auch … Daher: Körper mit Vitamin D und die anderen immunrelevanten Mikronährstoffe Versorgen, und in so einer Gesellschaft kann sich ein Virus wie Corona nicht verbreiten."

Richtig ist, dass die Mehrzahl der Infizierten nicht stirbt und milde Verläufe zeigt. Dies geht aber an der Tatsache vorbei, dass es schwere Krankheitsverläufe und Todesfolgen gibt, während die Auswirkungen einer Infektion auch bei leichten Verläufen noch weitgehend unklar sind. Prozentual können die schweren Verläufe und Todesfälle gering erscheinen, dagegen sind die absoluten Zahlen horrend.

Nur teilweise richtig ist, dass unser Immunsystem "gut" mit dem Sars-Cov-2-Virus und seinen Varianten fertig wird. Aus noch nicht ausreichend erforschten Gründen trifft dies auf einen Teil der Infizierten zu, auf andere aber nicht, wobei es auch schon Menschen schwer erkrankten, die zu keiner "Risikogruppe" gehören. Offenbar spielt nicht nur das Immunsystem eine Rolle, sondern auch andere Faktoren, etwa die Menge der eingeatmeten Viren.

Auf das geradezu hinterhältige Eindringen des neuartigen Virus in unsere Zellen und seine Ausbreitung im Körper das menschliche Immunsystem offenbar nicht generell und bei allen Menschen vorbereitet. Niemand weiß, ob das eigene Immunsystem mit einer Ansteckung "gut" fertig wird. Die Unsicherheit wird noch durch die neuen Virusvarianten vergrößert. Jedenfalls ist es weder medizinisch, noch ethisch, noch gesundheitspolitisch vertretbar, die Zahl und das Schicksal der bereits schwer Erkrankten oder vorzeitig Verstorbenen und die möglichen weiteren Fälle herunterzuspielen.

Empfehlung: Beschäftigung mit der Wirkweise des Virus; medizinische Fallstudien zum Verlauf der Krankheit lesen - oder ein Praktikum auf einer Intensivstation eines Krankenhauses mit Corona-Patienten machen.

Die aktuelle Studienlage lässt einen möglichen Zusammenhang zwischen einem niedrigen Vitamin-D-Serumspiegel und einem erhöhten Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf vermuten. Eine Kausalität kann hierbei nicht abgeleitet werden. Studien kommen zu dem Schluss, dass es keine sichere Evidenz für eine präventive Wirkung von Vitamin D im Zusammenhang mit Covid-19 gibt. Vitamin-D-Einnahme im Übermaß kann sich sogar nachteilig auswirken.

"Derzeit liegen keine Argumente vor, die eine Supplementation von Vitamin D bei Personen mit adäquatem Vitamin-D-Status mit dem Ziel der Prävention einer SarsCoV-2-Infektion oder der Verringerung des Schweregrades einer Covid-19-Erkrankung begründen können", so die Deutsche Gesellschaft für Ernährung.

Die Empfehlung, Vitamin D und Mineralstoffe bei einer Mangelsituation zur Stärkung des Immunsystems einzunehmen, mag nützlich sein. Wenn Heilpraktiker oder Ärzte raten, eine Pandemie allein mit Vitamin-D-Gaben und weiteren Nahrungsergänzungsstoffen zu bekämpfen, ist dies naiv und unverantwortlich.

Das Vorurteil, dass es sich bei Covid-19 um eine "leichte Grippe" handle, ist anscheinend unausrottbar. Beide Erkrankungen sind gefährlich und können letal enden. Covid-19 kann sich in seiner Symptomatik deutlich von einer saisonalen Grippe unterscheiden.

Empfehlung: Studien zum klinischen Verlauf von Covid-19 zur Kenntnis nehmen.

3. "Auf der Ebene von Nur-Fakten war 2020 ein ganz normales Jahr ohne Übersterblichkeit. Alles, was von dieser schlichten Feststellung abweicht, war und ist gelogen."

So einfach ist das nicht. Es stimmt, dass auf das ganze Jahr gesehen 2020 keine deutliche Übersterblichkeit festzustellen war. Das hängt vermutlich auch damit zusammen, dass es keine ausgeprägte Grippewelle gab. Man sollte aber auch auf die Monate und Wochen blicken, in denen die Covid-19-Ansteckungsrate hoch war. Im April und im Dezember verzeichnete das Statistische Bundesamt eine deutlich höhere Sterblichkeit als in den vergangenen Jahren - in der Woche vor Weihnachten um 24 Prozent.

In einzelnen Ländern wie Sachsen und Brandenburg lag sie noch wesentlich höher als im Bundesländerdurchschnitt. Die Übersterblichkeit verlief ziemlich parallel zur Zunahme der gemeldeten Covid-19-Infektionen. Wenn die Statistik auch keine Angaben über die Todesursachen enthält, liegt der Schluss doch nahe, dass die Übersterblichkeit mit den durch Corona bedingten Todesfällen zusammenhängt.

4. "Das eine und einzige Motiv des Merkelregimes ist das Gefügigmachen des Bürgers für künftige gutsherrenartliche Übergriffe."

Das ist eine der "zahmsten" Unterstellungen, die in anderen Kommentaren der Regierung, Virologen, der Berichterstattung in Medien und der "gefügigen" Bevölkerung gemacht werden. Wie soll man auf so pauschale und unbelegte Behauptungen reagieren? Mit realitätsbezogenen Argumenten kommt man gegen solche Konstruktionen und Narrative wohl nicht mehr an. Man könnte mit dem Kommentator durchgehen, mit welcher Vielzahl an Beteiligten und Meinungsverschiedenheiten die Regierungsbeschlüsse zustande kommen. Dann müsste eigentlich einsichtig sein, dass die Rede von einem "Merkelregime" an der Realität vorbeigeht.

Wenn "Meinungen", die auf Vermutungen und Befürchtungen beruhen, zu "Glaubenssätzen" gerinnen, sind die Grundlagen einer sach- und vernunftbezogenen Diskussion verlassen. Damit sind aber auch Grundlagen verlassen, auf die eine demokratisch verfasste Gesellschaft angewiesen ist.

Meinungsvielfalt in Corona-Zeiten - problematisch?

Die Analyse von weiteren Kommentaren würde ein ähnliches Bild abgeben. Ich verstehe, dass es bei der sich ständig verändernden Informationslage zum Corona-Geschehen schwierig ist, sich einen stets aktuellen und begründeten Überblick zu verschaffen. Ich kann nachvollziehen, dass es nahe liegt, die Gefährdung durch Covid-19 zu verharmlosen - damit lässt sich leichter leben, als sie sich ständig vor Augen zu halten.

Auch ich empfinde die Restriktionen, die uns verordnet werden, als belastend und nicht immer sinnvoll. Aufs Ganze gesehen finde ich aber, die bisherigen Maßnahmen der deutschen Regierungen waren zu zögerlich, um effizient zu sein.

Nachvollziehbar sind Meinungsäußerungen, die das subjektive Befinden in der Corona-Lage thematisieren und emotional geraten. Es ist auch verständlich, dass es Einwände und Widerstände gegen die Aussagen der Corona-Experten und die Maßnahmen der Corona-Politik gibt. Meinungen, die offiziellen Linien widersprechen, sind Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Aber ich erwarte, dass Einwände zutreffend sind und Argumente begründet.

Und da hapert es bei Corona-Verharmlosern und Maßnahmen-Gegnern, nicht nur meiner Meinung, sondern auch meinen hier und an anderer Stelle belegten Feststellungen nach.

Hinter Meinungsäußerungen, die nicht nur Befindlichkeiten ansprechen, sondern sich auf Sachverhalte beziehen, sollte eine gewisse Sachkenntnis stehen. Die zitierten Kommentare zum besagten Telepolis-Artikel lassen das nicht erkennen. In den Kommentaren wird nicht differenziert, Fakten, die nicht ins eigene Bild passen, bleiben unbeachtet. Es werden unbelegte Behauptungen aufgestellt, die an Verleumdungen grenzen oder solche darstellen.

Zudem fällt auf, dass die zitierten Kommentatoren sich nicht mit dem Artikel auseinandersetzen. Sie nehmen ihn nicht als Möglichkeit wahr, ihre Standpunkte zu überdenken, sondern benutzen ihn als Aufhänger für ihre vorgefasste Meinungen.

Nach der Lektüre von 1.076 Kommentaren zu diesem Artikel bleibt bei mir der Eindruck, dass hier - bis auf Ausnahmen - nicht interessierte Leser am Werke sind, sondern eine Gruppe, die ihr eigenes Spiel betreibt und sich gegenseitig die Bälle zuspielt. Man bestätigt sich gegenseitig und verschließt sich gegen Einwände.

Es mag "altmodisch" und unrealistisch erscheinen, aber meine Auffassung ist, wer sich öffentlich äußert, könnte seinem Anliegen sehr nützen, wenn er seine Meinungskundgaben auf sachliche und ethische Vertretbarkeit überprüfte.

Die schlechte Diskussionskultur ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal von Telepolis, sondern findet sich auch in Meinungsäußerungen zu Corona-Artikeln in anderen Online-Magazinen oder Printmedien. Gegenüber Stimmen, die die Covid-19-Gefährdung ernst nehmen und notwendige Restriktionen bejahen, überwiegen die Äußerungen derjenigen, die die Gefahren verharmlosen.

Nach Umfragen zu urteilen, repräsentieren sie keine Bevölkerungsmehrheit, aber sie scheinen sich häufiger und regelmäßiger zu Wort zu melden als andere. Auch als Minderheit beeinflussen sie Öffentlichkeit und Politik. Da muss man schon nach den Folgen fragen.

"Meinungsvielfalt" hat offenbar nicht nur schöne, sondern auch destruktive Seiten. Die Meinungen der Beschwichtiger und Maßnahmen-Gegner wirken sich ohne Zweifel kontraproduktiv für die Bekämpfung der Pandemie aus. Sie erfordert eine gut informierte und gemeinsam handelnde Gesellschaft.

Das Sars-Cov-2-Virus kümmert sich nicht um Meinungen, die seine Folgen leugnen oder verharmlosen. Im Gegenteil: sie ebnen ihm seinen Weg.

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