Wenn Steine weinen

Make Way for Tomorrow

Kein Platz für alte Leute im traurigsten Film der Welt

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Deutschland vergreist, die Alterspyramide macht einen Kopfstand. In zehn Jahren, heißt es, werden hierzulande mehr als zwanzig Millionen Menschen gesundheitsbedingt pflegebedürftig sein (die Hälfte davon demenzkrank). Die Politiker reden viel und unternehmen wenig. Wenn sich daran nicht grundlegend etwas ändert, warnen Experten, werden nicht nur immer mehr Leute mit der Verantwortung für ihre Angehörigen überfordert sein, wir werden auch bald eine massive Debatte über Sterbehilfe haben. Betroffene schreiben inzwischen Bücher mit Titeln wie Mutter, wann stirbst du endlich?, und es gibt erste Vorschläge, die Mama und den Papa aus Kostengründen in ein Heim in Osteuropa abzuschieben, statt von dort unterbezahltes Pflegepersonal zu importieren wie bisher. Was also tun? Die Probleme wenigstens offen ansprechen und sich nicht in die Tasche lügen, würde Leo McCarey sagen. Sein Film, den ich heute empfehlen möchte, ist auch schon etwas älter (kürzlich wurde er 75) und doch hochaktuell. Er ist der traurigste Film, den ich je gesehen habe, und einer von den schönsten. Ein Meisterwerk der schnörkellosen Regiekunst, der Erzählökonomie und des die Phantasie freisetzenden Minimalismus.

Filme, die man gesehen haben muss, ehe einen die Demenz ereilt. Folge 4:

Into the future we’ll travel alone ...

"A Man and a Maid"

Rhoda Cooper (17) geht mit ihrer Oma Lucy (70) ins Kino. Dort gibt es nur noch getrennte Plätze. Für Rhoda ist das perfekt, weil sie sich eigentlich mit einem Mann treffen will. Sie schleicht sich aus dem Saal, um am Ende der Vorstellung wiederzukommen, verspätet sich dann aber. Lucy steht schon, von ihrer Enkelin unbemerkt, vor dem Kino, als Rhoda von dem Mann abgesetzt wird, mit dem sie das heimliche Rendezvous hatte. Bevor sie ihre Oma sucht, fragt Rhoda die Platzanweiserin nach der Handlung des Films ("Souls at Sea"). "Die alte Geschichte von dem Kerl, der die Schuld für was auf sich nimmt, das sein Freund gemacht hat", sagt die Frau. "Der Freund ist eine Ratte und lässt den netten Kerl in den Knast gehen. Aber wenn die Ratte dann stirbt und alles zugibt …" Ja, was dann? Weil das ein Film wie viele andere ist weiß man gleich, was folgt. Alles wird gut, sagt die Platzanweiserin, der Junge und das Mädchen kriegen sich und heiraten. So löst Hollywood traditionell seine Konflikte. "Gibt es irgendwo was Trauriges?", fragt Rhoda. "Ein paar weinen immer, wenn der Hund stirbt", antwortet die Platzanweiserin. Draußen vor dem Kino, bei ihrer Oma, tut Rhoda ganz unschuldig: "Das war ein guter Film, oder? Den Jungen mochte ich sehr." Lucy erwidert trocken: "Na, da weiß ich nichts davon. Ich habe ihn nur kurz gesehen, als du aus seinem Auto gestiegen bist."

Aus dem Beschriebenen lässt sich einiges lernen. Die Alten sind mitunter nicht halb so dumm, wie die Jungen meinen; man sollte sie nicht unterschätzen. In Make Way for Tomorrow geht es um das Sehen und Interpretieren. Wer sieht wann was, welche Schlüsse werden daraus gezogen, und wer sieht es nicht? Und: Von einem Film, der nach ein paar Leinwandminuten gleich mal zusammenfasst, was im Kino üblicherweise geboten wird, sollte man nicht unbedingt erwarten, dass er das vertraute Schema wiederholt und sich an die Hollywood-Konventionen hält (der Junge und das Mädchen müssen Schwierigkeiten überwinden, kriegen sich dafür aber umso sicherer). Die weibliche Hauptrolle spielt denn auch nicht die junge Rhoda, die das Leben noch vor sich hat, sondern die alte Lucy, die am Ende des ihren angekommen ist. Man sollte sich weder darauf verlassen, dass es ein optimistisches Happy Ending geben wird noch darauf, dass man sich wohlig darin einrichten kann, wie mitfühlend man doch ist, weil man Tränen vergießt, wenn der Hund stirbt. Das heißt nicht, dass es in Make Way for Tomorrow nichts zum Weinen gibt. Dieser Film ist sogar einer der größten Tear-Jerker in der Geschichte Hollywoods. Aber Make Way for Tomorrow ist traurig und nicht sentimental. Seine Handlung und die Art, wie diese erzählt wird, machen ihn so besonders. Hollywood hat nie wieder einen solchen Film hervorgebracht.

Erfinder von Stan & Ollie

Make Way for Tomorrow (deutscher Verleihtitel: "Kein Platz für Eltern") beruht auf einem 1934 erschienenen Roman von Josephine Lawrence, Years Are So Long. Lawrence schrieb eine Ratgeber-Kolumne für die Wochenzeitung Newark Sunday Call. Die beiden am häufigsten gestellten Fragen waren: "Muss ich mich um meinen Vater und meine Mutter kümmern?" und "Warum wollen unsere Kinder jetzt, da wir alt sind, nichts mehr von uns wissen?" Lawrence brachte das auf die Idee zu ihrem Roman über ein altes Ehepaar, das in der Depressionszeit verarmt und auf seine Kinder angewiesen ist (muss man nicht gelesen haben, lieber mehr McCarey-Filme sehen). Am Ende stirbt der Mann, die Frau wird von den Kindern in ein Heim gesteckt. Alte Leute, Armut, Tod und Unterbringung in einer Verwahranstalt für Senioren, wirtschaftliche und seelische Depression - der Stoff, nach dem sich Hollywood die Finger leckte, war das nicht unbedingt. Dieses Buch wäre nie verfilmt worden (oder nur in einer gnadenlosen Kitsch-Version), wenn es nicht einen Regisseur und Produzenten mit dem Standing eines Leo McCarey gegeben hätte, der das Projekt gegen alle Widerstände durchdrückte.

McCarey ist heute weitgehend vergessen, oder er wird verkannt: als irisch-katholischer Fachmann für rührselige Momente mit Zuckerguss (wegen Going My Way und The Bells of Saint Mary’s, mit Bing Crosby als Priester) und als Rechtsaußen von Hollywood, weil er im Kalten Krieg an Treffen eines Hexenjäger-Komitees teilnahm (was er nicht hätte tun sollen, auch wenn er nie Namen nannte, wie häufig unterstellt). 1952 drehte er mit My Son John ein Familiendrama, das als schlimmer Pro-McCarthy-Film verschrien ist, was höchstens zur Hälfte stimmt, weil er sich primär einem seiner Lieblingsthemen widmete, dem Generationenkonflikt. Bevor seine Karriere in den 1940ern auseinanderzufallen begann, war McCarey in Hollywood eine große Nummer, galt er als Erfolgsgarant.

Leo McCarey inszenierte sehr komische Kurzfilme mit Charley Chase und Max Davidson sowie den mit Abstand besten aller Filme der Marx Brothers, Duck Soup, den Mussolini so hasste, dass er ihn in Italien verbieten ließ. Die Nachwelt sollte McCarey schon allein deshalb Kränze winden, weil es seine Idee war, aus Stan Laurel und Oliver Hardy ein Duo zu machen. Bei einigen der besten Laurel-&-Hardy-Kurzfilme führte er Regie (Liberty, Wrong Again), oder er hatte die Oberaufsicht (Big Business), was oft dasselbe war. McCarey entwickelte den von Mack Sennett geprägten Slapstick-Film weiter, indem er nicht nur auf ein furioses Tempo setzte, sondern geschickt platzierte Rhythmuswechsel einführte.

Er ist einer der Erfinder der verzögerten, die Komik noch verstärkenden Reaktion ("slow burn"), die zur Spezialität von Laurel und Hardy wurde. In Big Business versuchen die beiden, einen Christbaum an James Finlayson zu verkaufen, was erst zu einigen Missgeschicken und dann zur Zerstörung eines Hauses und eines Autos führt. Die anarchische Lust an der Destruktion erhält dadurch ihre Komik, dass die Konfliktparteien (und schließlich sogar ein Polizist) ruhig bei der Vernichtung ihres Eigentums zuschauen, um sodann zum Gegenschlag auszuholen. Wie nebenbei und ganz unaufdringlich halten diese grandiosen Zerstörungsorgien eine moralische (aber nicht moralisierende) Lektion bereit, die sich auch in Make Way for Tomorrow findet: die Menschen könnten viel Schlimmes verhindern, und sie wissen, dass sie es verhindern könnten, doch sie tun es nicht.

Liberty

In Liberty brechen Stan und Ollie aus dem Gefängnis aus, ziehen im Fluchtauto statt der Gefängniskluft ihre Anzüge an, verwechseln aber in der Eile die Hosen. Anschließend müssen sie versuchen, diese auf offener Straße zu tauschen, wodurch sie in verfängliche Situationen geraten. In Wrong Again wird ein Gemälde mit dem Titel "Blue Boy" gestohlen. Stan und Ollie glauben, dass ein Rennpferd gleichen Namens entwendet wurde. Als sie (den falschen) Blue Boy seinem Besitzer zurückbringen wollen, bittet der sie, ihn auf das Klavier zu stellen, weil er denkt, dass es das Gemälde ist. Andere Filme würden spätestens dann enden, wenn die jeweiligen Aufgaben erledigt sind. Bei McCarey fängt der Aberwitz damit erst an. In seinen besten Filmen verfolgt er die Ausgangssituation konsequent bis zu ihrem Ende, ohne unterwegs die Geschichte und die Charaktere zu verraten, um es so hinzubiegen, dass es keinem weh tut. Seine Komödien zeichnen sich dadurch genauso aus wie seine Melos, wobei beide Genres sowieso enge Verwandte sind. McCarey hat einige überzeugende Belege für die alte Weisheit geschaffen, dass die besten Komödien die sind, die jederzeit in die Tragödie umkippen könnten, oder umgekehrt. Der Blick für das Komische in tragischen Situationen ist eines seiner Markenzeichen.

Liberty

Den Roman von Josephine Lawrence wollte McCarey aus ganz persönlichen Gründen unbedingt verfilmen. 1936 drehte er The Milky Way mit Harold Lloyd. Am Set trank er frische Milch, die er nicht vertrug, weil sie nicht pasteurisiert war. Damals starb sein Vater, zu dem er eine sehr enge Beziehung hatte. McCarey war so krank, dass er nicht zur Beerdigung gehen konnte. Danach wollte er einen Film zu Ehren seines Vaters machen, woraus man aber nicht schließen sollte, dass das ein rein privates Projekt war. Mit Make Way for Tomorrow ist es so wie oft bei McCarey: das an der Oberfläche Politische transportiert private Anliegen und im scheinbar Privaten verbirgt sich das Politische, auch wenn es nie direkt angesprochen wird. Der Film beginnt, per Texttafel, mit dem Vierten Gebot ("Du sollst Vater und Mutter ehren"). Wer aber hofft (oder fürchtet), dass jetzt die katholische Familiendoktrin ausgebreitet wird, erlebt eine Enttäuschung. Die Religion wird in den bewegten Bildern nicht mehr vorkommen, oder wenn doch, dann in Form christlich-humanistischer Wertvorstellungen. Make Way for Tomorrow wirbt mit der für McCarey typischen Diskretion für die New-Deal-Politik von Präsident Roosevelt.

Wrong Again

McCarey wählte nicht nur ein als Kassengift geltendes Sujet, er verzichtete auch auf große Stars, um den mit solchen Stars verbundenen Zwängen zu entgehen. Einige der Beteiligten haben später berichtet, dass Adolph Zukor, Gründer und starker Mann der Paramount, regelmäßig am Set erschien und McCarey drängte, ein Happy Ending anzukleben. McCarey blieb standhaft. Sehr namhafte Kollegen - von John Ford über Frank Capra bis zu Jean Renoir - überschütteten ihn mit Lob, als der Film fertig war. George Bernard Shaw schickte ihm einen Dankesbrief. Auch die Mehrzahl der Kritiker war begeistert, schrieb allerdings Besprechungen, die Studiobosse hassten. Tenor: Toller Film, ein Meisterwerk, nur furchtbar traurig. Make Way for Tomorrow wurde ein finanzieller Misserfolg, spielte die Produktionskosten kaum wieder ein.

Schreckliche Wahrheit

Vielleicht war es tatsächlich so, dass die von der Weltwirtschaftskrise gebeutelte Nation im Alltag genug Trauriges erfuhr und das nicht noch im Kino fortsetzen wollte. Und vielleicht klingt es nur so logisch, weil es uns Generationen von Produzenten, Fernsehredakteuren und Werbestrategen eingebläut haben: Das Volk will unterhalten werden, will Zerstreuung statt Problembewusstsein. Es könnte aber sein, dass dabei die tröstliche Wirkung der Wahrheit unterschätzt wird, dass sich ein beachtlicher Teil des Publikums gegen Schmalz und Zuckerguss entscheiden würde, wenn eine Alternative angeboten würde. Die Frage muss also lauten: Erhielt Make Way for Tomorrow eine faire Chance? Vermutlich nicht. Meinen Recherchen nach wurde der Film von der Paramount ziemlich lustlos beworben. Das begann schon früh. Die Hollywood-Korrespondenten der Zeitungen und Fan-Zeitschriften hielten sich an sehr schlichte Regeln. Wenn ein Studio einen Film ohne Stars produzierte, so eine davon, war das ein Zeichen, dass es kein Vertrauen in das Projekt hatte. Damit, dachten die Korrespondenten, lohnte es sich für sie nicht, die Dreharbeiten zu besuchen und einen Artikel darüber zu schreiben. Die Paramount hätte gegensteuern können, tat es aber nicht. So gab es kaum Vorberichterstattung über Make Way for Tomorrow, die für die Vermarktung eines Films sehr wichtig ist. Gestartet wurde er unmittelbar vor Muttertag. Auch das war miserables Marketing, Gleichgültigkeit oder böse Absicht. Ein ungünstigerer Starttermin hätte sich für einen Film mit diesem Thema schwer finden lassen.

Aber warum hätte jemand absichtlich Geld verlieren sollen? Im autokratisch regierten Hollywood des alten Studiosystems waren solche Bestrafungsaktionen gegen aufmüpfiges Personal gar nicht so selten. Von der Warte der Studiobosse aus rechneten sie sich, weil sich der Rest der Angestellten leichter auf Linie bringen ließ, wenn an einem von ihnen ein Exempel statuiert worden war. Wie auch immer es dazu gekommen sein mag, ob es am fehlenden Happy Ending lag oder nicht: Zukor konnte von sich sagen, dass er wieder einmal recht gehabt hatte. Trotzdem ging er nicht als Sieger aus der Auseinandersetzung hervor. Als die Paramount McCareys auslaufenden Vertrag nicht verlängern wollte, wechselte dieser zu stark verbesserten Konditionen zur Columbia des diktatorisch agierenden Harry Cohn. Make Way for Tomorrow war ein Flop, hatte dem Regisseur jedoch viel Prestige eingebracht. Damit war er der ideale Mann für Cohn, der sich seit längerem mit seinem eigenwilligen Star-Regisseur Frank Capra bekriegte. Auch das war in der Studioära ein gängiges Mittel der Disziplinierung. Man engagierte einen potentiellen Nachfolger, um dem Star zu signalisieren, dass er nicht unersetzlich war.

McCarey inszenierte für die Columbia eine der besten Screwball Comedies und den Kassenschlager der Saison, The Awful Truth, mit Cohns damaliger Lieblingsschauspielerin Irene Dunne und Cary Grant in den Hauptrollen. Grant etablierte mit diesem Film seine Leinwand-Persona, die ihn zum führenden Komödiendarsteller Hollywoods machte. "Ich tat so, als wäre ich jemand, der ich gern sein wollte", sagte er selbst dazu, "und schließlich wurde ich zu dieser Person. Oder sie wurde ich. Oder wir trafen uns irgendwo." "Irgendwo" dürfte das Atelier gewesen sein, wo McCarey die Schauspieler zum Improvisieren ermunterte, statt ihnen fertige Dialoge zu geben. Grant kam damit anfangs nicht zurecht und wollte aussteigen, um dann aus der Not eine Tugend zu machen. Er orientierte sich bei seiner Darstellung des Jerry Warriner am Sprachduktus, den Manierismen und Bewegungen des Regisseurs. Damals wurde der Cary Grant geboren, den wir alle kennen. Leo McCarey scheint so ähnlich gewesen zu sein wie er.

McCarey erhielt für The Awful Truth den Oscar. In seiner Dankesrede meinte er, dass der falsche von den beiden Filmen ausgezeichnet worden sei, die er 1937 inszeniert hatte. Später drehte er auch wieder Melos (Love Affair und das Remake, An Affair to Remember, sind exzellent), allerdings mit verjüngtem Personal. Make Way for Tomorrow inspirierte Yasujirō Ozu zu Reise nach Tokio, den viele für das größte seiner Meisterwerke halten. In Hollywood blieb McCareys Film, der ihm von allen seinen Regiearbeiten die liebste war, ein Unikat. In gewisser Weise hatte also doch Adolph Zukor gesiegt. Der Stoff wurde von der US-Filmindustrie für publikumsuntauglich empfunden, Make Way verschwand im Archiv. Die Erinnerung an den Film hielten Leute wach, die ihn gesehen hatten, darunter immer wieder namhafte Regisseure. So entwickelte sich Make Way zu einem kaum gezeigten Geheimtipp, der nie auf Videokassette erschien. Ich habe ihn zum ersten Mal in einer recht passablen Verleihkopie gesehen, die jemand für ein paar Dollar bei ebay ersteigert hatte. Weil den Film keiner mehr kannte, hatte niemand mitgeboten. Jetzt kann man ihn auf DVD und Blu-ray neu entdecken.

Schöne Bescherung

Wie war das noch mal mit Weihnachten, bevor das arme Fest von den Geschäftemachern in Geiselhaft genommen wurde? Es hatte mit der Art zu tun, wie wir miteinander umgehen, und mit Nächstenliebe. Josef und die schwangere Maria suchten eine Bleibe, wurden überall abgewiesen und kamen schließlich in einem Stall in Bethlehem unter, wo Maria ihr Kind zur Welt brachte. Wie wäre es, dachten sich McCarey, seine Drehbuchautorin Viña Delmar (Verfasserin des Skandalromans Bad Girl und dann auch des Skripts zu The Awful Truth) und deren Gatte Eugene Delmar (Albert Otto Zimmerman, so sein richtiger Name, ging Viña beim Schreiben zur Hand), wenn wir das Ganze vom anderen Ende der Chronologie her betrachten? Josef und Maria sind alt geworden, Maria hat nach dem ersten noch vier weitere Kinder geboren, das Ehepaar hat alle fünf großgezogen, und jetzt, am Ende ihres Lebens, sind die zwei alten Leute wieder auf Herbergssuche. Wie wird das ausgehen?

Weil das ein Film ist, der nie in die Sentimentalitätsfalle tappt, wird die weihnachtliche Besinnlichkeit im Rekordtempo abgehakt. Die erste Einstellung leiten - nur so lang wie für das Wiedererkennen erforderlich - ein paar Jingle-Bells-Klänge ein. Zu sehen ist ein idyllisch wirkendes Haus mit Gartenzaun in verschneiter Winterlandschaft. Das könnte ein Klischeebild von "Middle America" sein, wo die Welt noch in Ordnung ist, wo die Familie hochgehalten wird und traditionell die amerikanischen Werte verortet werden - wenn nicht, als Warnung, eine Latte am adretten Gartenzaun fehlen würde. In dem Haus wohnen Barkley (Bark) und Lucy Cooper. Die beiden haben ihre Kinder zu sich gebeten, um ihnen etwas mitzuteilen.

Make Way for Tomorrow

McCarey braucht, unterstützt von einem hervorragenden Schauspielerensemble, nur wenige Einstellungen, um die Kinder zu charakterisieren. George ist der Einfühlsame und bemüht, die Fassade so aufpoliert zu halten, dass es nach heiler Familienidylle aussieht. Cora ist die leidende Scheinheilige, die sich für andere aufopfert, und dies am liebsten, wenn jemand dabei zuschaut. Nellie ist die Eitle, tut arm, obwohl sie teure Kleider trägt und hat nichts abzugeben, weil sie dann Abstriche an ihrem Lebensstil machen müsste. Robert, der Jüngste, hat ein Alkoholproblem und spielt so erfolgreich den Clown, dass ihn keiner richtig ernst nimmt oder etwas von ihm verlangt. Und Addie, die dritte Tochter, ist gar nicht erst gekommen. Seit ihrem Umzug nach Kalifornien, meint Robert, hat sie nicht einmal eine Orange geschickt, womit auch über sie das Nötige gesagt wäre.

Als alle im Wohnzimmer versammelt sind, lässt Bark die Bombe platzen. Seit beinahe vier Jahren ohne Anstellung, konnte er die Hypothekenzahlungen für das Haus nicht mehr leisten. Randy Dunlap, der Bankdirektor, hat ihm die Zwangsvollstreckung angekündigt. Der Direktor, sagt Bark, habe sich sehr freundlich und mitfühlend gegeben; trotzdem habe er den Eindruck gewonnen, dass dieser innerlich jubiliert habe. Randy Dunlap werden wir nie zu Gesicht kriegen, und doch hat er eine unheimliche Präsenz. Er ist der Chef der Bank, die nun ein gutes Geschäft machen wird, und früher, als junger Mann, hat er Lucy den Hof gemacht, die sich damals für Bark entschied, den einfachen Buchhalter. Durch diesen Kunstgriff verzahnen McCarey und seine Drehbuchautoren zwei Bereiche miteinander, von denen der eine nur in Form der Auswirkungen zu bemerken ist, die er auf den anderen hat: das, was wir heute den Finanzsektor nennen und das häusliche Glück einfacher Leute, die es zu einem ebenso bescheidenen wie prekären Wohlstand gebracht haben.

Make Way for Tomorrow

Leo McCareys Filme trumpfen nicht mit auf sich selbst verweisenden Bravourstücken wie komplizierten Kamerafahrten oder Schnittfolgen auf, sind aber durchaus virtuos. Große McCarey-Momente gibt es immer dann, wenn seine Charaktere auf etwas reagieren. Ihr alter Verehrer Randy Dunlap, sagt Lucy zu dessen Verteidigung, habe nicht etwa Druck ausgeübt, sondern sie aufgefordert, sich Zeit mit dem Ausziehen zu lassen. Nach dieser präzise gesetzten Spitze gegen den Zynismus der Bank fragt Cora, wie viel Zeit er ihnen gegeben habe. "Sechs Monate", antwortet Bark. Eine Einstellung zeigt die vier nebeneinander sitzenden Geschwister, und man glaubt, die Steine aufprallen zu hören, die ihnen von den Herzen fallen. "Na, dann eilt es ja nicht so", meint Nellie stellvertretend für alle vier. McCarey hat die Szene meisterlich inszeniert. Darum weiß man genau, dass damit nicht gemeint ist: "Dann haben wir ausreichend Zeit, um Pläne für die Zukunft zu machen", sondern: "Dann müssen wir uns vorerst um nichts kümmern und können in Ruhe zurück nach Hause fahren".

Problemlösung

Nach Victor Moore, der den Bark Cooper spielt (mit 61 war er deutlich jünger als dieser), ist heute ein Busbahnhof in Queens benannt. In den 1930ern war er ein Broadway-Star. Seit 1915 trat er auch in Filmen auf. Das Drehbuch ist für einen wie ihn geschrieben. McCarey dürfte ihn besetzt haben, weil er über viel Erfahrung als Komödiant verfügte und ein Gespür für das richtige Timing hatte. Und weil die Tragödie die Schwester der Komödie ist fragt Nellie, wann die sechs Monate abgelaufen seien. "Nächsten Dienstag", gibt Bark zur Antwort. Zwei Söhne und zwei Töchter sind entgeistert. McCarey hat das erstklassig vorbereitet. Man erhält einen ersten Vorgeschmack davon, was seinen Film so menschlich macht. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Geschichte an einem Schwarz-Weiß-Muster auszurichten: Böse Kinder kümmern sich nicht um ihre braven Eltern oder schlimme Eltern bringen ihre armen Kinder in eine unmögliche Situation. McCarey ist das zu einfach. Die Kinder wollen wissen, warum die Eltern sie nicht eher informiert haben? Weil sie bis zuletzt hofften, dass sich ihre Lage noch bessern würde, erwidern die Eltern.

Sehr verantwortungsvoll den Kindern gegenüber war das natürlich nicht, denn diese werden jetzt ohne Vorwarnung mit vollendeten Tatsachen konfrontiert. Die Eltern lässt das in einem schlechten Licht erscheinen. Allerdings haben wir da schon erfahren, dass sich die Kinder - zeitiger informiert - ohnehin nicht gleich um das Wohnungsproblem gekümmert hätten, sondern später irgendwann, vielleicht. Das ist die Strategie des Films. Eindeutige Schuldzuschreibungen werden sofort unterlaufen. McCarey schiebt hier eine ungewöhnliche Einstellung ein. Vor uns sitzen, mit dem Rücken zu uns, Cora und Nellie, die Töchter. Über ihre Köpfe hinweg sehen wir die beiden alten Leute, die ihren Kindern Rede und Antwort stehen müssen wie arme Sünder. Das könnte ein Tribunal sein oder eben die typische Kinosituation, mit uns als Zuschauern in der zweiten Reihe. McCarey wird später noch Gelegenheit finden, uns mit einzubeziehen. Er zeigt Menschen und ihre Verhaltensweisen, ohne zu verurteilen. Die Bewertung überlässt er dem Publikum. Dabei dürfen wir uns dann auch fragen, wie wir selbst reagieren würden, wenn wir Knall auf Fall alte Eltern zu versorgen hätten oder auf die Hilfe unserer Kinder angewiesen wären, weil uns die Bank das Haus pfändet. Wer da den moralischen Zeigefinger hebt, wird ihn schnell kleinlaut wieder einziehen.

Make Way for Tomorrow

Statt sich vertagen zu können, müssen die Geschwister die drohende Obdachlosigkeit der Eltern abwenden. Man könnte eine Wohnung für die beiden mieten, doch dafür fehlt das Geld. George will seine Tochter Rhoda aufs College schicken und muss die Gebühren dafür aufbringen. Coras Ehemann ist arbeitslos. Nellie hat Geld, würde das aber nie zugeben und sagt wie üblich, dass die Geschäfte ihres Gatten Harvey immer schlechter gehen. Robert, die Schnapsnase, hat schon Eggnogg gemacht (ein alkoholhaltiges Getränk mit Ei und Milch, das man in angelsächsischen Ländern gern zur Weihnachtszeit reicht) und ein launiges Gedicht aufgesagt. Mehr erwartet keiner von ihm.

Rhoda hat ein Gästebett in ihrem Zimmer. George versichert, dass sich seine Tochter über einen Besuch von Oma Lucy freuen würde. Bei Cora steht ein Sofa im Wohnzimmer. Da könnte Bark übernachten. Das Problem ist nur: George wohnt in New York und Cora 300 Meilen davon entfernt. Sie und Bark, sagt Lucy, haben sich fest vorgenommen … um dann abzubrechen. Jeder im Raum könnte den Satz vervollständigen, aber keiner spricht ihn aus. Das alte Ehepaar will sich in der kurzen Lebenszeit, die ihm noch bleibt, nicht mehr trennen. Alle sind peinlich berührt. Zum Glück kann Nellie ihrem Hang zum Protzen nicht widerstehen. Sie verspricht, die Eltern bei sich aufzunehmen - nicht sofort, aber in drei Monaten. Die Geschwister kennen einander ziemlich gut. Sie alle wissen, dass Nellie ihr Versprechen nicht einhalten wird. Trotzdem tun alle so als ob, um vorläufig ein Problem loszuwerden, das sie nicht lösen können oder wollen. Wer so etwas noch nicht erlebt hat, im Kreise der lieben Familie oder anderswo, dem wünsche ich, dass es so bleiben möge.

Bridge mit Oma Lucy

Beulah Bondi, die damals 48-jährige Darstellerin der Lucy Cooper, stand schon mit sieben auf der Bühne (als der kleine Lord), feierte mit 37 ihr Broadway-Debüt und spielte gleich eine 79-Jährige. Von da an war sie auf alte Frauen abonniert, im Theater wie im Kino. In vier Filmen ist sie die Mutter von James Stewart, darunter in Frank Capras Weihnachtsklassiker It’s a Wonderful Life. Nie war sie besser als in Make Way for Tomorrow. Ganz allmählich wird das, mit Billigung und Unterstützung des Regisseurs, ihr Film, was völlig unerwartet kommt, weil sie bis zur Mitte schwer auszuhalten ist, die Oma für Masochisten. Nach dem Familienrat im Haus der Eltern (respektive der Bank) begegnen wir ihr schlafend im Zimmer ihrer Enkelin wieder. Rhoda kämpft da bereits mit der Platzangst und versucht, wenigstens den Opa - in Form eines an der Wand hängenden Ölgemäldes - ins Wohnzimmer auszuquartieren. Man kann da gut McCareys subtilen Witz studieren. Ursprünglich wollte Rhoda das Gemälde haben, weil sie es als wertvolle Antiquität betrachtete. Jetzt soll es aus dem Zimmer verschwinden, weil eine Antiquität aus Fleisch und Blut im Gästebett übernachtet.

Make Way for Tomorrow

Im Gegensatz zum gemalten Opa kann die Oma reden. Sie redet sogar andauernd. Rhodas Freunde kommen nicht mehr in die Wohnung, weil Lucy sich immer ungefragt dazu setzte und mit Anekdoten aus ihrem Leben die Konversation dominierte. Natürlich mischt sie sich in die Haushaltsführung von Anita ein, der Frau von George. Dessen frisch gewaschenes und gebügeltes Smokinghemd gibt sie ungebeten in die Reinigung, weil es ihr nicht frisch genug ist. Ihren Sohn und seine Bedürfnisse, sagt Lucy, kennt sie am allerbesten. Schwiegertöchter lieben das. Einmal wollen George und Anita abends ausgehen. Lucy sitzt leidend im Schaukelstuhl. Sie hat Magenschmerzen, die Beine tun ihr weh. Nachdem George und Anita das erfahren haben, dürfen sie mit schlechtem Gewissen losziehen und sich einen schönen Abend machen. Lucy Cooper hätte Anspruch auf einen Ehrenplatz im Pantheon monströser Kinomütter, wenn das kein Film darüber wäre, dass man mehr als eine Perspektive einnehmen sollte, ehe man sich ein Bild macht. Der Umschwung vollzieht sich in Etappen.

Make Way for Tomorrow

Anita und George Cooper scheinen ein komfortables Leben zu führen. Sie haben eine geräumige Wohnung in New York, und wenn sie zum Bridge bitten, kommen die Teilnehmer in Abendgarderobe. Nach und nach stellt sich heraus, wie es wirklich ist. Anita ist tagsüber berufstätig wie ihr Mann. Um das Familieneinkommen aufzubessern und die Wohnung halten zu können gibt sie abends Bridgeunterricht. Das Smokinghemd, das Lucy in die Reinigung gegeben hat, um ein Sonderangebot zu nützen, ist das einzige, das George besitzt. Von da aus ließe sich ganz leicht eine in die Katastrophe führende Geschichte konstruieren: Weil George sich kein neues Smokinghemd leisten kann, verstößt er gegen den Dress Code. Anitas snobistische Bridgeschüler sind pikiert und suchen sich eine andere Lehrerin. Weil nun Geld in der Kasse fehlt, müssen die Coopers Schulden machen. Sie können sich die Wohnung nicht mehr leisten, darum hat Anita keine Chance, neue Schüler zu finden, Rhoda kann nicht aufs College gehen und so weiter. Mit anderen Worten: Auch die bürgerliche Existenz der Coopers steht auf der Kippe. Von der Fassade darf man sich nicht täuschen lassen.

Make Way for Tomorrow

Der Bridgeabend wird für George und Anita zur Qual. McCarey inszeniert das Martyrium als chinesische Wasserfolter. Mitten in der Veranstaltung trägt Mamie, das voluminöse Hausmädchen, Lucys Schaukelstuhl ins Zimmer. Lucy folgt im Kleid einer einfachen alten Frau vom Lande, nimmt Platz und schaukelt los, bis die Unterhaltung der Bridgeschüler verstummt und das Knarzen des Schaukelstuhls den Raum erfüllt. Es geht sogar noch schlimmer. Lucy stellt sich an einen der Tische, kommentiert das Blatt der Spieler und erzählt eine ihrer Anekdoten, die keiner hören will. George und Anita würden am liebsten im Boden versinken.

Make Way for Tomorrow

Der Höhepunkt der Peinlichkeit ist erreicht, als der jetzt bei Cora wohnende Bark anruft. Lucy steht am Telefon, spricht mit dem Akzent einer Frau mit geringer Bildung und dies so laut, als müsse sie die 300 Meilen zwischen ihr und ihrem Mann ohne technische Hilfsmittel überbrücken. Wieder erstirbt die Unterhaltung. Alle hören Lucy beim Telefonieren zu. Wieder ist sie der Eindringling in einem fremden Raum. Dann dreht sich die Stimmung. Die Bridgespieler werden Zeugen des Elends von zwei alten, in finanzielle Not geratenen Leuten, die nach fünfzig Jahren des Zusammenlebens zum ersten Mal getrennt sind und sich an die Hoffnung klammern, in drei Monaten wieder vereint zu sein. Die Damen und Herren in ihren Abendkleidern und Smokings sind jetzt die Eindringlinge. Lucy ist keine peinliche Person mehr. Vielmehr schämen sich die Bridgespieler für das, was sie bisher gedacht haben. Sie alle fühlen nun mit der alten Frau. McCarey hätte den Spieß einfach umdrehen und blöde Reiche zeigen können, über deren Snobismus man als Zuschauer die Nase rümpft. Das war ihm zu billig. Er macht die Reichen menschlich (statt zu Karikaturen), darum ist auch sein Film so menschlich.

Am warmen Ofen

Nach dieser Szene sind wir bereit für ein Gespräch alter Männer, irgendwo in der Provinz. Bark hat sich mit dem jüdischen Zeitschriftenhändler Max Rubens angefreundet, an dessen Ofen er gern die Zeitung liest, weil es bei seiner Tochter Cora so ungemütlich ist. Das könnte eines dieser Rührstücke werden, mit denen öffentlich-rechtliche Fernsehsender ihr Seniorenpublikum für dumm verkaufen, wenn im Dialog keine Sentimentalitätsbremse eingebaut wäre. Stolz seien sie auf ihre Sprösslinge, versichern sich die beiden alten Herren. Seine Kinder kommen ohne ihn aus, meint Max, und er ohne sie. Sein Laden bringe genug ein, er habe seine Frau Sarah, manchmal spiele er auf seiner Geige, mehr brauche er nicht zum Leben. "Mein Leben ist genauso wie das Ihre", erwidert Bark. "Außer, dass ich keinen Laden habe, dass meine Frau 300 Meilen entfernt ist und dass ich nicht Geige spielen kann." Es fällt nicht schwer zu ergänzen, was zu Bark Coopers Unglück noch fehlt: Er braucht seine Kinder. Man muss lange suchen, um einen Hollywood-Regisseur zu finden, der ein so desillusioniertes Verhältnis zur Familie hat (dem amerikanischen Heiligtum schlechthin) und sich das auch zu sagen traut. McCarey stellt wie üblich nur fest und kommt ohne Vorwurf aus. Er hütet sich vor eindeutigen Schuldzuweisungen und überlässt das Urteil dem Zuschauer.

Make Way for Tomorrow

"Jemand muss sie eben großziehen", sagt Bark, als eine Mutter mit ihrem Sohn den Laden betritt, um ein Exemplar von "Sincere Confessions" zu kaufen. In einem anderen Film wäre das jetzt der sentimentale Moment (gern mit Hund oder eben, wie in diesem Fall, mit kleinem Kind), der uns falschen Trost spendet und suggeriert, dass alles halb so schlimm ist. Nicht in Make Way for Tomorrow. Statt einem süßen kleinen Jungen den Kopf zu tätscheln, um sodann ein seliges Lächeln aufzusetzen, fragt Max das Kind: "Wirst du nett zu deiner Mutter sein, wenn du groß bist?" Die Mutter sieht ihren Sohn erwartungsvoll an, ihre Gesichtszüge bereiten schon das Lächeln vor, doch der Kleine schweigt. "Jimmy, warum antwortest du dem Mann nicht?" will die Mutter wissen. "Was soll ich sagen?" erwidert Jimmy. Der Mutter ist das so peinlich, dass sie rasch den Laden verlässt, während sie Jimmy sagt, dass "Ja" die richtige Antwort gewesen wäre. Wir bleiben mit der Frage zurück, ob das nicht nur die politisch korrekte, sondern auch die ehrliche Antwort gewesen wäre. Die beiden alten Herren, aus Erfahrung klug geworden, lächeln milde. Und McCarey hat gezeigt, dass man für aufrichtige Geständnisse keine Worte braucht. Jimmys Schweigen ist genug. Kein Wunder, dass dieser Film keinen Oscar erhielt, dass er nicht einmal nominiert wurde.

Make Way for Tomorrow

Meistens haben solche Szenen wie die im Zeitschriftenladen eine rein technische Funktion. Sie dienen dazu, Zeitsprünge oder Ortswechsel zu glätten und dem Zuschauer eine Orientierungshilfe zu geben. McCarey ist das zu mechanisch. Er nützt die dramaturgische Notwendigkeit, um uns etwas über die Beziehungen der Generationen zueinander mitzuteilen. Jimmy wird noch lernen, was er sagen muss (ohne den Worten Taten folgen zu lassen). Bark Cooper, der alte Mann, hat das schon hinter sich und wird trotzdem wieder behandelt wie ein kleiner Junge. Er hat versehentlich seine Brille zerbrochen. Max Rubens fragt ihn, wie seine Tochter darauf reagiert hat. Eine Antwort ist dieses Mal nicht erforderlich. Wir wissen auch ohne sie, dass Cora, die Frau mit den Haaren auf den Zähnen, ihren Vater ausgeschimpft hat, als wäre er ein ungehorsames Kind. Zugleich beantwortet das Rubens’ Ausgangsfrage: Wie werden die Kinder ihre Eltern behandeln, wenn sie groß sind. Bark erfährt das täglich.

Von Dieter Hildebrandt stammt der Rat an die Eltern, nett zu ihren Kindern zu sein, weil sie es sind, die einmal das Altenheim aussuchen werden. Das bringt uns zu Nellie, Tochter Nummer Zwei. Weil Barks Brille in der Reparatur ist bittet er Max Rubens, ihm einen Brief von Lucy vorzulesen. Mit jedem Tag, schreibt Lucy, vermisse sie Bark ein wenig mehr. Nellie kenne eine Frau in einem Altenheim und habe sie zu einem Besuch zu ihr mitgenommen. Das Heim sei furchtbar trostlos gewesen, aber Nellie habe es scheinbar sehr schön gefunden und das mehrfach betont. Max ahnt, worauf das hinausläuft und macht eine missbilligende Pause, damit auch die Begriffsstutzigen im Publikum folgen können. Diese Heime müssen schrecklich sein, meint Bark. Max liest weiter.

Make Way for Tomorrow

Nellie, schreibt Lucy, geht es gesundheitlich gar nicht gut. Der Arzt rät dringend zu einem Tapetenwechsel. Eine Europareise soll es sein. Jetzt macht sich die arme Nellie schlimme Sorgen - nicht wegen ihr selbst, sondern weil sie die Eltern nicht zu sich nehmen kann wie versprochen. Diese Nellie-Variante des Nettseins, die mit schönen (und verlogenen) Worten, ist sogar Max Rubens zuviel, der sich sonst so erfolgreich mit sarkastischen Bemerkungen gegen eine zynische Gesellschaft wehrt. Er faltet den Brief zusammen, gibt ihn zurück und fordert Bark auf, den Rest zu lesen, wenn seine Brille repariert ist. Dabei wendet er den Blick ab, weil er Bark nicht in die Augen schauen kann. Uns, dem Publikum, ist das nicht vergönnt. Wir haben Bark soeben dabei zugesehen, wie er älter und gebrechlicher wurde, während ihm dämmerte, was das für ihn und Lucy bedeutet. Wenn McCarey fand, dass etwas gezeigt und gesehen werden musste, dann zeigte er es auch. Diese eine Szene, in der zwei alte Männer am warmen Ofen sitzen, enthält mehr Elend und Gewalt als mancher Actionfilm mit Splattereinlagen. Ob es mehr Empörung über die strukturelle Gewalt in einer kapitalistischen Gesellschaft geben würde, wenn Blut dabei fließen würde?

Erholungsreise

Make Way for Tomorrow steckt voll bitterer Ironie und zeigt, wie aus kleinen Dingen große Katastrophen werden können. Bei Barks Anruf in New York ist Lucy sehr besorgt, weil er sich mit dem Geld für das Ferngespräch auch einen warmen Schal hätte kaufen können. Der Schal, mit dem er im Zeitungsladen hantiert, ist offenbar nicht warm genug. Am Ende der Szene geht Bark hinaus auf die Straße. Es schneit. Auf einer Tafel sind offene Stellen angeschrieben. Für einen Buchhalter wie ihn ist nichts dabei. Danach liegt er mit einer Erkältung … nicht im Bett, sondern auf dem Sofa in der Wohnung von Cora, die er beim Reinemachen stört. Man kann leicht erschließen, was passiert ist. Aufgewühlt von Lucys Brief, ist Bark durch die Straßen gelaufen, um einen Job zu finden (ein Job bedeutet Geld, mit Geld könnte er eine eigene Wohnung mieten und Lucy zu sich holen). Dabei hat er sich verkühlt. McCarey will ein mitdenkendes Publikum. Er gibt uns alle nötigen Informationen, verbinden müssen wir sie selber. Das ist gut für den Verstand und steigert die emotionale Intensität des Films. Wer bei einer Geschichte mitdenkt hat ein engeres Verhältnis zu ihr und den handelnden Personen als ein passiver Konsument. Ob die Welt ein besserer Ort wäre, wenn ARD und ZDF weniger Rosamunde Pilcher und Sturm der Liebe und dafür mehr Filme wie Make Way for Tomorrow zeigen würden? Ich möchte das nicht ausschließen. Utopien müssen schon deshalb sein, weil sie uns in vermeintlich alternativloser Zeit daran erinnern, dass es sehr wohl Alternativen gibt.

Make Way for Tomorrow

Cora putzt die Wohnung, weil gleich der Doktor kommt. Was andere Leute von einem denken, das ist ganz wichtig. Darum muss die Fassade stimmen, und darum wird Bark schnell ins Schlafzimmer und ins bequeme Bett gescheucht, als es klingelt. Der Doktor soll einen guten Eindruck von Cora haben, die sich aufopferungsvoll um ihren kranken Vater kümmert. Der Vater wiederum hat kein Vertrauen zum ihm zu jungen und unerfahrenen Hausarzt und will sich nicht untersuchen lassen. Vordergründig ist das ein Schwank zum Thema "Alte Männer und ihre Macken". Man versteht auch, dass einem dieser Opa ziemlich auf die Nerven gehen kann. Tatsächlich ist es eine - fest im Alltäglichen verankerte und deshalb nicht sofort als solche erkennbare - Tragödie, denn Cora verfolgt einen sinistren Plan. Durch das Szenario, das ihre Schwester Nellie entwickelt hat, um sich aus der Verantwortung zu stehlen (vorgetäuschte Krankheit, Europareise zur Erholung), ist sie auf eine Idee gekommen.

Make Way for Tomorrow

In diesem rauen Klima, sorgt sie sich, wird ihr Vater nie gesund werden. Wie wäre es, wenn er nach Kalifornien fahren würde, zu ihrer Schwester Addie (das ist die, die nicht einmal eine Orange geschickt hat und bestimmt hocherfreut ist, wenn der alte Mann vor der Tür steht)? Der Doktor hält das für nicht erforderlich, was aber nichts ändert, weil es sowieso nicht um die Gesundheit geht und Cora das Gegenteil behaupten kann, sobald er gegangen ist. Fortan wird sie einen Hausarzt haben, der Barks Verschickung in das sonnige Kalifornien fordert, so wie Nellie einen Hausarzt hat, der darauf besteht, dass sie nach Europa reist. So generiert die eine Lüge eine andere. Auf der Strecke bleibt ein altes Ehepaar.

Zunächst aber steht Max Rubens vor Coras Tür, um Bark eine von seiner Frau Sarah zubereitete Hühnersuppe zu bringen. Das gestaltet sich als schwierig - nicht so sehr, weil Cora ihrem Vater die Suppe nicht gönnt, sondern weil die Leute glauben könnten, dass er von ihr keine bekommt (was stimmt). Auch der Antisemitismus spielt eine Rolle, ohne dass es direkt ausgesprochen würde. Max weiß, dass ihn Cora nicht in der Wohnung haben möchte, weil er ein Jude ist und versucht, zu Bark vorgelassen zu werden, indem er mit freundlicher Ironie den jüdischen Geschäftemacher gibt, wie es von ihm erwartet wird. McCarey inszeniert das mit der ihm eigenen Subtilität und hat in Maurice Moskovitch, einem Star des jiddischen Theaters in New York, auch den richtigen Darsteller dafür (Moskovitch brillierte 1930 als Jud Süß in einer Bühnenfassung von Lion Feuchtwangers Roman, war ein umjubelter Shylock und ist vor allem als Mr. Jaeckel in Chaplins The Great Dictator in Erinnerung geblieben). Regisseur und Darsteller spielen mit den Klischees vom "Juden", statt sie kritik- und gedankenlos zu reproduzieren wie damals üblich.

Make Way for Tomorrow

McCareys Umgang mit Minderheiten ist bemerkenswert. Als Mamie, die Hausangestellte von George und Anita Cooper, besetzte er die famose Louise Beavers. Statt die ewig gleiche Rolle der servilen Schwarzen spielen zu müssen, darf (und soll) sie eine selbstbewusste berufstätige Frau sein. Im ersten Dialog, den sie zu sprechen hat, kündigt sie Anita an, dass sie sich eine andere Stellung suchen wird, wenn sie weiter auf ihre freien Abende verzichten muss, weil jetzt noch Lucy zu versorgen ist. McCarey inszeniert das als ein Gespräch zweier gleichberechtigter Frauen. Für damalige Zuschauer kam das völlig unerwartet. Schwarze im Hollywoodfilm der 1930er sind unterwürfig, klagen nicht über ihre Arbeitsbedingungen und denken nicht an Kündigung; höchstens werden sie gefeuert.

Blick in den Spiegel

Die Familie war von jeher die heilige Kuh von Hollywood. Idealerweise leben mehrere Generationen harmonisch unter einem Dach, halten eisern zusammen und trotzen so allen Widernissen (Beulah Bondi erhielt 1977 einen Emmy für ihren Gastauftritt in der TV-Serie The Waltons). Was aber, wenn man weder eine Farm noch eine Ranch hat, sondern eine Wohnung in der Stadt, in der die Oma den lieben langen Tag herumsitzt und den anderen durch ihre Dauerpräsenz auf die Nerven geht? Paradoxerweise fällt die Familie dann dadurch auseinander, dass sie zusammengehalten werden soll. Mamie kann kaum mehr Zeit mit ihrem Mann verbringen, weil sie sich um Lucy kümmern muss (welcher andere Film aus den 30ern interessiert sich für das Privatleben einer schwarzen Hausangestellten?). Rhoda geht öfter aus als früher, und weil sie ihre Freunde nicht mehr mit nach Hause bringt (zur Oma), wissen die Eltern nicht, mit wem sie sich da trifft.

Die Lage spitzt sich zu, als Rhoda nachts nicht nach Hause kommt. Lucy fühlt sich mitschuldig, weil sie Anita nichts von deren Heimlichkeiten gesagt hat. Anita, die bisher eine fast engelsgleiche Geduld aufbrachte, platzt der Kragen. Sie sagt der Schwiegermutter, was sie ihr immer schon mal sagen wollte. Tag Gallagher hat auf die ganz besondere Art und Weise hingewiesen, wie McCarey diesen lange überfälligen Streit inszeniert. Beide Frauen blicken sich in Schuss-Gegenschuss-Kompositionen an und dabei auch direkt in die Kamera (oder doch beinahe). In amerikanischen Filmen, und in Filmen generell, sind solche 180-Grad-Schnittfolgen extrem selten. Hollywood hat vom bürgerlichen Theater das Konzept einer unsichtbaren "vierten Wand" übernommen, die Bühne und Zuschauerraum trennt. Schauspieler im Theater tun so, als wäre das Publikum nicht da. Die in Hollywood entwickelten Inszenierungs- und Montageregeln sind darauf angelegt, die Anwesenheit des Publikums vergessen zu lassen.

Make Way for Tomorrow

Bei McCarey schauen sich Lucy und Anita an, und weil die Kamera bei Schuss und Gegenschuss auf einer gedachten, Beulah Bondi und Fay Bainter (Anita Cooper) verbindenden 180-Grad-Achse bleibt, sind wir genau dazwischen. Als Zuschauer ist man da also mitten drin, statt das Geschehen wie sonst vom Rand aus zu beobachten. Es ist sehr schwer, aus einer solchen Position heraus Partei zu ergreifen. McCarey setzt diese 180-Grad-Konstruktionen an dramaturgisch wichtigen Stellen ein. Beim Streit mit Anita geht plötzlich ein Ruck durch die bisher kaum auszuhaltende alte Frau. Statt weinerlichem Selbstmitleid zeigt sie eine innere Stärke, die man bis zu diesem Moment höchstens ahnen konnte. Mitten in Anitas Wutrede sagt sie, dass es ihr leid tut und dass sie gut nachvollziehen kann, wie es der Schwiegertochter geht. Das nimmt Anita (und uns, die wir auch von der Oma genervt waren) den Wind aus den Segeln und gibt Lucy eine Statur, die sie bislang nicht hatte.

Kaum ein Zuschauer wird sich beim Sehen des Films bewusst sein, dass McCarey gegen die Regeln der Hollywood-Ästhetik verstößt; das macht es umso wirkungsvoller. Den 180-Grad-Trick wiederholt er am Ende des zweiten Drittels, nach einer Leinwandzeit von etwa einer Stunde. Nach dem Vorgefallenen haben George und Anita das Gefühl, dass sie sich zwischen Lucy und ihrer Tochter entscheiden müssen, die sie zu verlieren drohen, wenn die Oma noch lange bei ihnen wohnen bleibt. Darum wird Lucy - hinter ihrem Rücken - im "Idylwild Home for Aged Women" angemeldet, das Nellie angeblich so schön findet (nach Geschlechtern getrennte Altenheime waren früher durchaus üblich, was es für Ehepaare noch schlimmer machte). Als dort ein Platz frei wird, muss George seiner Mutter zwei unangenehme Dinge sagen: Bark soll zu Addie nach Kalifornien, die leider nur Platz für den Vater hat, Lucy ins Heim.

Make Way for Tomorrow

Teil 1 gelingt ihm einigermaßen (Kalifornien nur wegen der Gesundheit, und vorübergehend), aber wie kann er das Heim begründen? Lucy hat den Brief des Idylwild Home in der Post gesehen und gibt sich wieder einen Ruck, um es ihm so leicht wie möglich zu machen. Die alte Frau ringt sich zu einer Wahrheit durch, die ihr Sohn nicht aussprechen kann, und danach zu einer frommen Lüge. Ihr sei klar geworden, sagt sie (ganz ohne Vorwurf), dass sie nie wieder mit Bark zusammen leben wird. Deshalb müsse sie nun gestehen, dass sie lieber in einem Heim mit Gleichaltrigen wohnen würde als bei George und seiner Familie. Beide wissen, dass Letzteres geschwindelt ist. Während aber die anderen aus Eigennutz lügen, tut Lucy es aus Liebe zu ihrem Sohn und um das Unvermeidliche erträglicher zu machen. Das ist nicht mehr die tüttelige, um sich selbst kreisende Oma, die wir zu kennen glaubten, sondern eine zähe Person, die gelernt hat, stark zu sein, wenn es darauf ankommt und darum Respekt verdient. Im Roman von Josephine Lawrence wird Lucy immer hilfloser, ein Objekt des Mitleids. Bei McCarey behält sie ihre Würde.

Wenn man sich eine Szene wie die mit George und Lucy ausdenkt und niederschreibt, und wenn man sie dann verfilmt, wie sie im Drehbuch steht, wird das Ergebnis fast unausweichlich sentimental. McCarey entging dieser Falle mit Hilfe der improvisierenden Darsteller. Die Improvisation reduziert das Gekünstelte, fügt stattdessen eine authentische Komponente hinzu, und das Authentische war von jeher der Feind des Sentimentalen (Gary Giddins, Jazz- und Filmkritiker der Village Voice, erklärt so ähnlich das Phänomen, dass es so schwierig ist, die Charaktere in Gut und Böse einzuteilen: weil die Schauspieler von ihrer eigenen Person aus improvisieren, nicht als erfundene Figur, bringen sie menschliche Nuancen in eine Szene, die den üblichen Schwarz-Weiß-Schemata zuwiderlaufen). Grundvoraussetzung war natürlich, dass McCarey Darsteller vom Format eines Thomas Mitchell (George) und einer Beulah Bondi hatte, die als Lucy Cooper eine der ganz großen schauspielerischen Leistungen im amerikanischen Film der 1930er hinlegt.

Make Way for Tomorrow

Nach vollbrachter Tat (Lucy hat ihrer Unterbringung im Altenheim zugestimmt) tritt George, von sich selber angewidert, zu Anita vor einen Spiegel. "So, das war’s", sagt er. "Während die Jahre vergehen, kannst du immer auf diesen Tag zurückblicken und mächtig stolz auf mich sein." Das ist ein typischer McCarey-Moment, bedrückend und doch irgendwie tröstlich. Der Film vergisst niemals, dass das Leben weitergehen muss, das der Alten und noch viel mehr das der Jungen, dass jede Generation ihre Rechte und Erwartungen hat und nicht nur die, mit der wir gerade sympathisieren. Darum steht ein Bild von Rhoda neben dem Spiegel, in dem sich George und Anita doch irgendwie noch ansehen können, auch wenn es ihnen nicht leicht fällt und sie sich gerade nicht besonders leiden können. Dann wird die Leinwand kurz dunkel.

Riester-Rente oder doch ein Haus?

Der dritte Akt gehört dem alten Paar. Bark kommt nach New York, um von dort mit dem Zug nach Kalifornien zu fahren. Nach fünfzig Jahren Ehe bleiben den beiden fünf gemeinsame Stunden. Auch das könnte der Ausgangspunkt für triefende Sentimentalität sein. Aber Lucy hat sich ausbedungen, dass Bark von ihrer Unterbringung im Heim nichts erfahren darf - eine letzte fromme Lüge und das erste Mal in den fünfzig Jahren, dass sie ein Geheimnis vor ihm hat. Wenn er abgefahren ist wird sie die erste Nacht im Idylwild Home verbringen. Ihren Schaukelstuhl hat man schon hingebracht. Dieser Schaukelstuhl zieht sich als Motiv durch den Film. Am Anfang trägt ihn Mamie in das Wohnzimmer von George und Anita, wo sein Knarzen von Lucy als störender Präsenz im bis dahin geordneten Haushalt zeugt. Dann erweist sich die im Schaukelstuhl sitzende Lucy als "a real mensch", wie der Jude Rubens sagen würde. Und am Ende wird der Schaukelstuhl ins Altenheim transportiert, weil in diesem Film - und in der Gesellschaft, die er zeigt - Menschen wie Möbelstücke behandelt werden, die man von hier nach da verfrachtet.

Make Way for Tomorrow

McCarey gelingt dabei das Kunststück, zu kombinieren, was sich eigentlich nicht kombinieren lässt. Es gibt ausreichend Momente, in denen man sein Taschentuch vollweinen kann, und doch wird der Film nie Rührstück oder Traktat, bleibt er nüchterne Bestandsaufnahme. Statt mit der Bibel oder mit religiösen Erbauungstexten nach uns zu werfen, wird McCarey, der katholische Regisseur von Pfarrer- und Nonnenfilmen, der vermeintliche Kommunistenhasser und Rechtsaußen von Hollywood, politisch, gibt er sich als Anhänger von Roosevelt zu erkennen. Man muss nur genau hinschauen. McCarey bleibt immer dezent, statt zu predigen. Es gibt nicht ein Wort, das direkt auf Roosevelt und seine Politik hinweisen würde. Und doch ist der New Deal nicht aus Make Way for Tomorrow wegzudenken.

Was macht man, wenn man ein paar Stunden in New York verbringt und kein Geld hat? Einen Schaufensterbummel, der kostet nichts. McCarey führt uns in eine der teuren Einkaufsstraßen und fragt (durch die Bilder, nicht im Dialog), was der Kapitalismus Leuten wie Lucy und Bark Cooper zu bieten hat? Zum Beispiel dies: Ein Herrenausstatter hat seine Auslage mit teurer Ware bestückt. Doch wer mit Barks Augen in das Fenster blickt sieht nur das Schild, auf dem ein Verkäufer (oder nur ein Hilfsarbeiter?) gesucht wird. Das wäre eine letzte Chance. Bark geht unter einem Vorwand in den Laden und kommt gleich wieder heraus; für den Arbeitsmarkt ist er viel zu alt. Die Bank nebenan hat das Bild eines wohlhabenden Paares ins Fenster gestellt, das seinen Lebensabend in bequemen Sesseln am Kamin genießt. Man solle vorsorgen, solange man noch jung ist, verlangt der Werbetext.

Make Way for Tomorrow

Fürwahr. Bark und Lucy sind selber schuld. Hätten sie mal besser vorgesorgt, während sie mit dem mageren Gehalt eines Buchhalters fünf Kinder großzogen. Auch George und Anita sollten dringend etwas zur Seite legen, während sie das Geld für die Collegeausbildung ihrer Tochter ansparen und sich den Kopf zerbrechen, wie sie das Altenheim für die Oma stemmen sollen. Schöne neue Finanzprodukte wie die Riester-Rente, mit denen die Verkäufer satte Gewinne machen, gab es damals noch nicht. Aber wie wäre es mit einem Investment bei den Lehman Brothers? In Immobilien dagegen sollten sie nur investieren, wenn sie ganz sicher sind, dass sie den Kredit, den ihnen die Bank bestimmt großzügig gewährt (mit Bonitätsprüfung oder ohne), zurückzahlen können. Sonst nämlich pfändet ihnen die Bank die Eigentumswohnung oder das Haus wie Bark und Lucy und sie müssen froh sein, wenn sie danach keine Schulden haben, statt dem Heim, das sie jahraus jahrein abbezahlt haben, bis es nicht mehr ging. Hier, glaube ich, ist auch die Erklärung dafür zu suchen, warum McCareys Kritik an einem Land, das den Markt alles regeln lässt, so dezent ist. Er war ein gänzlich unzynischer Regisseur. Weil es aber schwer bis unmöglich ist, ohne Zynismus auf eine zynische Welt zu reagieren, wählte er den indirekten Weg.

Soziale Sicherung für weiße Männer

Wahrscheinlich fiel ihm die Zurückhaltung leicht, weil er für etwas sein konnte statt dagegen. Im August 1935 verabschiedete der Kongress den Social Security Act, eines der wichtigsten Vorhaben der Regierung Roosevelt. Damit wurde in den USA die Rentenversicherung eingeführt. Die Sozialgesetzgebung im Rahmen des New Deal war so umstritten wie später Obamas Reform des Gesundheitswesens, mit der Einführung einer verpflichtenden Krankenversicherung. Es gab erbitterten Widerstand vom rechten Flügel des politischen Spektrums und den Vorwurf, Roosevelt sei "unamerikanisch" und wolle Amerika dem "Sozialismus" ausliefern (die Tea-Party-Bewegung lässt grüßen). Wenn man aus der Geschichte etwas lernen kann, dann dies: Obama wird sich in seiner zweiten Amtszeit nicht nur deshalb um die Aussöhnung in einem zerstrittenen Land bemühen müssen, weil er sonst den Staatshaushalt nicht genehmigt kriegt. Durch das Lagerdenken der 1930er wurde der Paranoia und der Verfolgung Andersdenkender in der McCarthy-Ära der Boden bereitet (die aktuelle Rhetorik erinnert an finstere Zeiten). Viele von denen, die sich als Roosevelt-Unterstützer exponiert hatten, landeten auf schwarzen Listen. Darum ist es umso bedrückender und unverständlicher, dass sich McCarey dafür hergab, das Projekt der Hexenjäger durch seine Anwesenheit zu legitimieren, auch wenn er keine Namen nannte.

Obwohl 1935 verabschiedet, war der Social Security Act so umkämpft wie nie zuvor, als der Film entstand. Die Gegner versuchten, Roosevelts Sozialgesetze vor dem Supreme Court zu Fall zu bringen. Auch das kennt man. Obamas Krankenversicherung wurde mit einer knappen Mehrheit der Richterstimmen bestätigt (am bedeutsamsten an seiner Wiederwahl könnte sich einmal erweisen, dass jetzt die Demokraten und nicht die Republikaner Richter ernennen, die noch ihre Posten innehaben werden, wenn Obama längst in Rente ist). Roosevelt hatte bereits erleben müssen, dass einige seiner New-Deal-Gesetze von Richtern, denen er eine politische Motivation unterstellte, als verfassungswidrig kassiert worden waren. Um sich eine ihm und seiner Politik zugeneigte Mehrheit zu sichern, schlug er Anfang 1937 eine neue Regelung vor. Dem Präsidenten sollte es erlaubt werden, zusätzliche Bundesrichter zu ernennen, wenn sich amtierende Richter über 70 weigerten, in den Ruhestand zu gehen (damals allein sechs am Supreme Court). Das Manöver scheiterte am negativen Echo in der Öffentlichkeit, belastete das ohnehin vergiftete politische Klima noch weiter und brachte Roosevelt erst recht den Vorwurf ein, eine sozialistische Diktatur errichten zu wollen (bei der Rentenversicherung kam ihm die Biologie zu Hilfe: einer von den republikanischen Richtern starb).

Soweit der historische Hintergrund. Alles, was in Make Way for Tomorrow passiert, ist ein Beleg für die Notwendigkeit des Social Security Act. Daraus folgt nicht automatisch, dass McCarey und seine Drehbuchautoren blind gegenüber den Schwächen und Ungerechtigkeiten in den Sozialgesetzen gewesen wären. Bezeichnenderweise endet der zweite Akt nicht, wie zu erwarten, mit Anita und George vor dem Spiegel. McCarey schiebt an dieser dramaturgisch wichtigen Stelle eine kleine, aber feine (und ihm zur Ehre gereichende) Szene mit Lucy und Mamie ein. Lucy schenkt Mamie eine von ihr angefertigte Handarbeit, als Dank für die ihr erwiesenen Freundlichkeiten. Mamie sagt, dass sie den Nachmittag mit ihrem Mann verbringen kann, weil ihr die Coopers freigegeben haben.

Make Way for Tomorrow

Das ist wieder eine dieser unprätentiösen, auf Regie-Schnickschnack verzichtenden McCarey-Szenen, die einem verschiedene Perspektiven anbieten und dadurch ein komplexes Bild ergeben. In Krimis gibt der Ehemann dem Personal frei, wenn er seine Gattin ermorden und die Leiche beseitigen will. George und Anita, vom schlechten Gewissen geplagt, haben es so eingerichtet, dass niemand aus dem Haushalt dabei ist, wenn Lucy ein letztes Mal die Wohnung verlässt; ganz so, als wollten die beiden keine Zeugen haben, denen sie später wieder begegnen müssen (den mit beinahe menschlichen Eigenschaften ausgestatteten Schaukelstuhl transportiert ein Arbeiter ab). Mamie ist wegen des Abschiedsgeschenks beschämt, weil sie die alte Dame - wie wir auch - falsch eingeschätzt hat und aus jetziger Sicht nicht freundlich genug zu ihr war. Und Lucy wird bewusst, dass auch Mamie ein Familienleben hat (oder haben könnte) und sie ein ähnliches Schicksal teilen. Beide sind wegen ökonomischen Notwendigkeiten von ihren Männern getrennt.

Dazu kommt der Subtext. Lucy und Mamie sind die beiden Personen im Cooper-Haushalt, die der von weißen Männern formulierte Social Security Act am stärksten diskriminiert. Hausfrauen wie Lucy blieben von ihren Männern abhängig, Kindererziehung etc. wurden von der Rentenversicherung nicht erfasst. Etwa zwei Drittel aller berufstätigen schwarzen Frauen waren Hausangestellte wie Mamie. Diese Berufsgruppe war von der Rentenversicherung ausgenommen, genauso wie das Pflegepersonal, ob weiß oder schwarz, das sich im Idylwild Home um Lucy und die anderen Seniorinnen kümmern wird. Das Sozialversicherungssystem war so konstruiert, dass die Mehrheit der Frauen und der Schwarzen durch das Raster fiel.

Make Way for Tomorrow ist auch deshalb ein so guter Film, weil McCarey es versteht, solche Dinge mit zu reflektieren, ohne dafür den moralischen Zeigefinger heben zu müssen oder ermüdende Dialoge in Leitartikelform zu brauchen. Das Mittel seiner Wahl ist die Auslassung, die Freisetzung eines Maximums an Phantasie durch Minimalismus. So erfahren wir zum Beispiel nie, wo Rhoda war, als sie nachts nicht nach Hause kam, wie lange und mit wem sie weg war, wie ein Skandal vermieden wurde und was das für ein Skandal gewesen wäre. McCarey baut seine Szenen so auf, dass sie uns zum Nachdenken darüber inspirieren, was früher war, was gerade geschehen ist und was die Zukunft bringen wird. Paradoxerweise sind es die Ellipsen, die Löcher im Gewebe (und das Mitdenken des Publikums), durch die ein enorm dichter Film entsteht.

Rhythmuswechsel

Höchste Zeit für die utopischen Momente, für die Alternativen in der Alternativlosigkeit. Statt in der Depression zu versinken und sich gegenseitig zu sagen, wie schlimm alles ist, versuchen die beiden alten Leute, das Beste aus den fünf Stunden zu machen, die ihnen bleiben. McCarey unterstützt sie dabei nach Kräften. Einen eigenen Wagen konnten sich Bark und Lucy nie leisten. Aber jetzt bietet ihnen ein Autoverkäufer spontan eine Spritztour in einer Luxuskarosse an. In diesem Wagen, das ist eine der vielen Paradoxien des Films, reduziert sich das Tempo der modernen Welt, in der alles zu schnell für Lucy und Bark ist, es ist nun ihr Rhythmus, an dem wir uns orientieren. Der Verkäufer setzt sie vor dem Luxushotel ab, in dem sie vor fünfzig Jahren schon einmal waren, auf Hochzeitsreise. Hier erlaubt sich McCarey den am deutlichsten politischen Kommentar des Films.

Make Way for Tomorrow

Im Hintergrund ist ein Ausschnitt von einem dieser pompösen Paläste des Finanzwesens zu sehen, das Gebäude der Republic National Bank. Man darf hier an die republikanischen Grundsätze denken, an das Streben nach Glück und so weiter, aber eben auch an die Republikanische Partei, an ihre Ablehnung von Roosevelts Sozialgesetzen und ihre Verflechtung mit der Finanzlobby. Zugleich wird dadurch die Utopie relativiert, an der uns McCarey teilhaben lässt. Ganz egal, wie vielen freundlichen und hilfsbereiten Menschen Lucy und Bark Cooper in ihren fünf Stunden begegnen: auf der anderen Straßenseite steht immer das steinerne Monument eines wenig sozialen Kapitalismus, die Republikaner-Bank. McCarey lässt uns nie vergessen, dass das eine Gesellschaft bleibt, die von der Zeit und vom Geld regiert wird. Dafür hat er ebenso einfache wie eindrucksvolle Bilder gefunden. Bark etwa greift sich mehrfach an die Brust. Die Hand führt er nicht an sein Herz, sondern an die Uhr, die tickt. (Benjamin Franklin, einer der Gründerväter der USA, war stets dem Gemeinwohl verpflichtet, prägte jedoch auch gruselige Kalendersprüche wie "Zeit ist Geld".)

Make Way for Tomorrow

Im Hotel ist niemand ungeduldig, weil zwei alte Menschen nicht schnell genug durch die Drehtür kommen oder zu lange brauchen, um zu sagen, was sie sagen wollen. Bark will an der Bar einen Aperitif nehmen, und Lucy lässt sich überreden, einen mitzutrinken, was vor fünfzig Jahren undenkbar gewesen wäre. Weil McCarey ein so guter Regisseur und Beulah Bondi eine so gute Schauspielerin ist, sieht man als Zuschauer die alte Frau und zugleich, vor seinem geistigen Auge, das scheue junge Mädchen, das sie einmal war. Das Geistige spielt überhaupt eine große Rolle in diesem wunderbar doppelbödigen Film, der nun geistige Getränke verabreicht, weil der Hotelmanager, des fünfzigjährigen Jubiläums wegen, die Drinks und ein Dinner spendiert. Letzteres ist eigentlich nicht möglich, weil die Coopers von ihren Kindern erwartet werden, die sich bei Nellie zum Abendessen versammelt haben. Doch Bark ergreift die Initiative, ruft bei Nellie an und sagt, dass sie nicht kommen werden.

Make Way for Tomorrow

Auch diesen Anruf würde ich zu den utopischen Momenten rechnen, die danach fragen, ob es wirklich keine Alternative zur Bank auf der anderen Straßenseite gibt, ob wir nicht öfter so miteinander umgehen könnten wie in diesem Traumhotel und ob es sein muss, dass wir unsere Lebenszeit und unsere Energie für das Aufrechterhalten einer Fassade verwenden, hinter der sich der Eigennutz verbirgt. Nein, sagt der Film. Bark und Lucy müssen nicht mit George, Cora, Nellie und Robert einen Braten essen und ein Photo von sich machen lassen, das sich die Kinder ins Album kleben, damit sie später in nostalgischen Erinnerungen an damals schwelgen können, als sie den Eltern - die dann leider nach Kalifornien respektive ins Heim für alte Frauen mussten - einen schönen Abend bereiteten und sogar die Kosten für einen Festtagsbraten nicht scheuten. Dieser vorgezogene Leichenschmaus bleibt Bark und Lucy erspart. Und so wie meistens gibt es einen Widerhaken.

Make Way for Tomorrow

Wir hören nicht, was Bark zu Nellie sagt, sehen nur ihr Gesicht dabei. Sehr angenehm ist das Telefonat für sie nicht. Man kennt da bereits die leicht abschätzige Art, wie Bark mit seinen Sprösslingen kommuniziert. Ihre Söhne und Töchter, meint der Hoteldirektor, haben den Coopers bestimmt viel Freude gemacht. "Ich wette, dass Sie keine Kinder haben", erwidert Bark. Ist das ein aus der Not geborener Sarkasmus, oder war Bark schon immer so, und wie wirkte das auf Nellie und ihre Geschwister, als sie noch klein waren? Bei Barks Anruf steht Lucy draußen vor der Telefonzelle. Was für eine Mutter war sie den Kindern, und wie hat das die Beziehungen beeinflusst? Hat man erst angefangen, darüber nachzudenken, findet man viele Hinweise, die man anfangs übersehen hat. Darum habe ich auch keine Skrupel, hier den Inhalt zu erzählen. Das ist kein Krimi, der seine Spannung aus der Suche nach dem Mörder bezieht. Je mehr Vorwissen man hat, desto vielschichtiger und besser wird der Film.

Rosebud

Irgendwann merkt man, dass das eine ebenso schöne wie traurige Liebesgeschichte ist. Es dauert nur eine Weile, bis der Groschen fällt, weil das Liebespaar nicht von der jungen Rhoda und einem ihrer Männerfreunde gebildet wird, sondern von zwei alten Leuten, die einander sehr vertraut sind und doch noch immer Neues an sich entdecken. Einmal sehen wir Bark und Lucy wie am Anfang ihre Kinder: von hinten und so, als würden sie im Kino in der Reihe vor uns sitzen. Das Liebespaar ist gerade dabei, sich zu küssen, als McCarey die vierte Wand einreißt. Lucy wird darauf aufmerksam, dass sie und ihr Liebster von uns, dem Publikum, beobachtet werden, schaut uns an (durch die Kamera), senkt verlegen lächelnd den Blick und ist wieder das scheue junge Mädchen von vor fünfzig Jahren. Bark hat ihr soeben gesagt, dass sie für ihn nach wie vor die Allerschönste ist. McCarey gibt ihm durch seine Inszenierung recht. Ich kann mich an keine Einstellung in einem Hollywood-Film der 1930er erinnern, die berührender wäre als diese.

Make Way for Tomorrow

Früher, als ihr Leben noch intakt war, besaßen die beiden ein Buch mit Lucys Lieblingsgedicht. So wie ihr Haus gehört jetzt auch das Buch Randy Dunlap und der Bank, aber das Gedicht, versichert Lucy, konnten sie ihnen nicht wegnehmen, denn sie hat den Text im Kopf. Dann trägt sie es für Bark vor, vom ersten bis zum letzten Wort. Wer außer Leo McCarey hätte sich das getraut? Die Schnittfrequenz war damals nicht so hoch wie heute. Trotzdem gab es schon das Diktat der Geschwindigkeit. Eine Strophe, schön und gut. Aber ein (sentimentales) Gedicht in voller Länge (eingebettet in einen unsentimentalen Kontext)? Nach Meinung der Studiobosse wollte das Publikum Zerstreuung statt Konzentration, musste es Schlag auf Schlag gehen, statt irgendwo länger zu verweilen. McCarey war das egal. Übrigens erfahren wir noch, dass Lucy die Stelle im von der Bank gepfändeten Gedichtband mit einer Rosenknospe eingemerkt hatte. Wer nach dem Ursprung für "Rosebud" in Citizen Kane sucht, sollte Make Way for Tomorrow auf die Liste setzen. Orson Welles liebte McCareys Film und interessierte sich für ähnliche Themen (siehe die Bank in Citizen Kane und den Zerfall einer Familie in The Magnificent Ambersons). Im Gespräch mit Peter Bogdanovich sagte er, Make Way sei so traurig, dass er Steine zum Weinen bringen könne.

Lucy möchte mit Bark tanzen. Kaum haben die beiden die Tanzfläche erreicht, als das Orchester eine rumbaartige Melodie zu spielen beginnt. Da können sie nicht mitmachen. Bisher haben sie wie selbstverständlich mit dazugehört. Jetzt wirken sie alt, klein und verloren. Die Wirklichkeit, ist zu befürchten, hat sie eingeholt. Aber einer der utopischen Momente, bei denen man sich fragt, warum das eigentlich eine Utopie sein muss, der geht noch. Der Kapellmeister sieht das hilflose Paar auf der Tanzfläche, ändert kurzerhand das Programm und lässt das Orchester den alten Schlager "Let Me Call You Sweetheart" spielen. Das ist ein Walzer, zu dem die Coopers gemeinsam mit den anderen tanzen können, und die Rosenknospe ist jetzt erblüht, weil es im Schlager heißt: "Birds are singing far and near, Roses blooming ev’rywhere". Lange, bevor der Begriff von der "inklusiven Gesellschaft" erfunden war, zeigte McCarey schon, wie man das abstrakte Konzept sichtbar macht und mit Leben füllt.

Make Way for Tomorrow

Das Wort "Moment" ist dabei sehr wichtig. Keiner von den netten fremden Leuten, denen es Freude macht, dem alten Paar, das ganz reizend ist, wenn man es nicht von früh bis spät in der zu engen Wohnung sitzen hat, etwas Gutes zu tun, würde auf die Idee kommen, Bark und Lucy jeden Tag auf eine Spritztour mitzunehmen oder ihnen jeden Abend das Dinner zu bezahlen. "Manchmal ist es viel einfacher, zu den Eltern anderer Leute nett zu sein als zu den eigenen", bemerkt Gary Giddins dazu. "Wir haben dann keine Verantwortung. Der Autoverkäufer und der Hoteldirektor müssen sie am Abend nicht mit nach Hause nehmen." Die netten Leute sagen freundlich Guten Tag, und genauso freundlich sagen sie Auf Wiedersehen (aber bitte nicht gleich). Make Way for Tomorrow ist ein zu ehrlicher Film, um darüber hinwegzutäuschen.

Der Schlager wird unser Liebespaar fortan begleiten ("Let me call you Sweetheart, I’m in love with you"), wird im Rest des Films das musikalische Thema sein. Weil aber letztlich doch die Zeit und das Geld (und die Bank auf der anderen Straßenseite) die Welt regieren, tickt die Uhr gnadenlos weiter. Die Tanzmusik aus dem Hotel wird im Radio übertragen, und der Orchesterchef wendet sich an die Hörer: "Good evening everybody. […] It’s nine o’clock, and is everybody happy? Smile and the world smiles with you, folks." Wenn das so einfach wäre. "Neun Uhr" heißt für das Paar, dass Bark zum Zug muss. Eine Hoffnung gibt es noch, während Bark und Lucy, das Lied auf den Lippen, im Taxi zum Bahnhof fahren, denn schließlich ist das ein Hollywoodfilm.

Lieber mit schlechtem Gewissen

Ein schöner Film sei es gewesen, meint Lucy, als sie im ersten Akt aus dem Kino kommt, manchmal traurig, doch mit Happy Ending. Ganz egal, wie finster die Lage zu sein scheint … nein, mehr wolle sie nicht sagen, um den anderen den Spaß nicht zu verderben. Wie also wird McCarey die Kurve kratzen, um der guten alten Hollywood-Tradition zu folgen und dem Publikum das Happy Ending zu verschaffen, das dieses angeblich haben will? Randy Dunlop, der Bankdirektor, wird eher nicht dem Materialismus abschwören und die Pfändung von Haus und Gedichtband rückgängig machen. Wie wäre es mit Max Rubens? Er könnte anrufen und melden, dass er einen Job für Bark gefunden hat. Einer aus der Bridge-Gesellschaft könnte ein Philanthrop sein und sein Scheckbuch zücken. Nellie könnte auf ihre Europareise verzichten und ihren Gatten Harvey überreden, Bark und Lucy doch bei sich aufzunehmen. So viele Möglichkeiten. Alle verlogen, aber das ist man als Kinozuschauer gewöhnt. Wie also wird McCarey es machen?

Make Way for Tomorrow

McCarey zeigt uns ein letztes Mal die Kinder, die bei Nellie und mit Nellies Braten, der jetzt kalt geworden ist, auf die Eltern gewartet haben, um familiäre Harmonie zu demonstrieren. Sohn Robert, dem Clown, fällt die Aufgabe zu, die unangenehme Wahrheit auszusprechen: "Komisch, oder? Wir haben schon die ganze Zeit über gewusst, dass wir als Kinder wahrscheinlich der schlimmste Haufen Taugenichtse sind, der je großgezogen wurde, aber das hat uns nichts weiter ausgemacht, bis wir herausfanden, dass Paps es auch wusste." So ist das wohl. Man hält die Fassade aufrecht und richtet sich dahinter ein, bis einer, der nicht mehr mitmacht, anruft und sagt, wie es wirklich ist, dann fällt das Lügengebäude um. Bliebe noch der tränenreiche Abschied am Bahnhof, bei dem die Kinder winken und sich durch Melodramatik davon überzeugen, dass sie selbst am meisten unter der Situation leiden.

Das geht dummerweise auch nicht, weil der Zug in zwei Minuten abfährt. "Wenn wir nicht zum Bahnhof kommen", sagt Nellie ganz erschrocken, "dann werden sie denken, dass wir schrecklich sind." Und George erwidert: "Sind wir das nicht?" Nein, würde McCarey antworten, nur allzu menschlich und damit alles andere als perfekt. Die Kinder haben eine Wahl. Sie können sich um die Eltern kümmern, auch wenn es schwierig wird, oder sie tun es nicht und bezahlen mit ihrem schlechten Gewissen dafür. George, Robert, Cora und Nellie tun es nicht und nehmen das schlechte Gewissen in Kauf, weil ihnen das lieber ist als die Alternative, die es immer gibt. Auch im echten Leben soll das manchmal so sein. Make Way for Tomorrow teilt an keiner Stelle in Gut und Böse ein, ist weder zynisch noch denunziatorisch, sondern ehrlich. Der Film könnte auch Leute interessieren, die weder Kinder noch Eltern haben. Nicht nur im Bereich der Altenpflege ist man im Zweifel geneigt, das schlechte Gewissen zu wählen. Denn das Leben muss schließlich weitergehen.

Am Ende stehen Bark und Lucy, eines der wunderbarsten Liebespaare der Filmgeschichte, allein am Bahnhof. Er werde einen Job finden, sagt Bark, und Lucy dann sofort nachkommen lassen. Sicher, antwortet Lucy, so machen wir’s. Beide wissen, dass das nicht stimmt. Bark fährt mit dem Zug nach Kalifornien, wo es noch eine Tochter gibt, die ihn nicht bei sich haben will, und Lucy geht ins Altenheim, wo der Schaukelstuhl auf sie wartet. Dann ist dieser furchtbar traurige, Steine zum Weinen bringende Film vorbei, und man würde ihn am liebsten gleich noch einmal anschauen, weil er so schön, so menschlich und so ehrlich ist.

Make Way for Tomorrow

Make Way for Tomorrow ist einer von den vielen Filmen, die bisher vergeblich auf eine deutsche DVD-Veröffentlichung warten und weiter warten werden, weil jetzt die Blockbuster mit den am Computer generierten Spezialeffekten und die Remakes von den Remakes auf Blu-ray transferiert werden müssen. Zum Glück gibt es das Ausland. Leo McCareys Meisterwerk ist in Frankreich und Spanien erschienen sowie - mit verbesserter Bildqualität - in den USA (Criterion Collection) und in Großbritannien (Masters of Cinema). Ich würde zur "Dual Format Edition" von MoC raten. Da kriegt man für etwas weniger Geld den Film auf DVD und auf Blu-ray und außerdem das von Criterion übernommene Bonusmaterial: die üblichen Reminiszenzen von Peter Bogdanovich und die Gedanken von Gary Giddins, die mir persönlich große Lust gemacht haben, sein Buch Warning Shadows - Home Alone with Classic Cinema zu lesen. Wer im Land mit der Pseudo-Filmkultur wohnt und auf deutsche Untertitel angewiesen ist hat leider Pech gehabt. Daran wird sich so bald nichts ändern. Also: Englisch lernen!

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