"Wenn die Geretteten die Hoffnung verlieren, haben wir auf dem Schiff ein Pulverfass"
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Dokumentation der Pressekonferenz von Sea-Watch am 2. Juli 2019 in Berlin zur Festnahme der Kapitänin und der Beschlagnahme des Schiffes
Mit der Festnahme der Kapitänin Carola Rackete und der Beschlagnahme des Schiffes "Sea-Watch 3" durch italienische Behörden hat die Auseinandersetzung um die Rettung von Flüchtlingen und Migranten aus Seenot im Mittelmeer eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Am 2. Juli 2019 führte die Nicht-Regierungsorganisation (NGO) Sea-Watch in Berlin dazu eine Pressekonferenz durch.
Marie Naass, Ruben Neugebauer und Chris Chodotzki stellten zunächst die Lage vor und beantworteten dann Fragen. Deutlich wurde, wie dramatisch Seenotrettungen sind und vor allem, wie politisch der Konflikt ist. Eine Dokumentation.
Statements
Marie Naass
Am 12. Juni haben wir 53 Menschen aus Seenot gerettet und darüber alle relevanten Koordinierungsstellen in Kenntnis gesetzt. Nach internationalem Recht war Lampedusa der nächste sichere Hafen, deshalb haben wir Kurs auf Lampedusa genommen. Nach 17 Tagen erst, am 29. Juni, konnten die letzten Menschen von Bord gehen. Wir hatten mehr als zwei Wochen keinen sicheren Hafen und bis zum letzten Moment auch keinen sicheren Hafen zugewiesen bekommen, außer Tripolis [in Libyen], der nicht als sicherer Hafen anerkannt werden kann.
Deshalb hat unsere Kapitänin keine andere Möglichkeit gehabt, als vom Nothafenrecht Gebrauch zu machen, nach dem eine Hafeneinfahrt gerechtfertigt ist, wenn schwerwiegende Umstände vorliegen. Unsere Kapitänin ist in den Hafen eingefahren, weil deutlich war, dass sich die Situation an Bord der Sea-Watch 3 über 16 Tage lang stetig verschlechtert hat und 13 Menschen evakuiert werden müssten. Italien wäre verpflichtet gewesen, uns die Hafeneinfahrt zu gewähren, was sie nicht getan haben, woraufhin unsere Kapitänin verpflichtet war, vom Nothafenrecht Gebrauch zu machen.
Carola Rackete ist derzeit unter Hausarrest (gestern Abend wurde sie daraus entlassen, Erg. d. Red.). Wir müssen betonen, dass wir eine politische Lösung brauchen und dass Solidaritätsbekundungen gerade von politischer Seite nicht wirklich viel bringen. Wir sehen die Verantwortung insbesondere auch bei der deutschen Regierung, damit sich solche Stand offs [Verweigerung der Hafeneinfahrt] und solche Schachereien nicht jedes Mal wiederholen.
Ruben Neugebauer
Wichtig ist, dass jetzt zum ersten Mal seit langem wieder eine entsprechende Aufmerksamkeit auf der Situation im zentralen Mittelmeer liegt. Die Katastrophe dort setzt sich unvermindert fort. Derzeit ist unser Schiff unterwegs von Lampedusa nach Licata, wo es unter Beschlagnahme steht. In den zwei Tagen, die unser Schiff beschlagnahmt ist, hat unsere Crew, die sich noch auf dem Schiff befindet, über Funk von mehreren Seenotfällen Kenntnis genommen.
Sowohl italienische als auch tunesische Fischer haben in relativ verzweifelter Art und Weise von Booten in Seenot berichtet. Wir haben jetzt eine sehr mutige Kapitänin, Carola Rackete, gesehen, die alles Nötige getan hat, um die Sicherheit der Menschen an Bord zu gewährleisten, so wie man es eigentlich von jedem Kapitän erwartet. Das ist allerdings bei weitem nicht die Regel.
Wir haben z.B. eine zunehmende Zahl von Handelsschiffen, die proaktiv von Seenotfällen wegfahren, wenn sie davon Kenntnis nehmen. Wir haben Fälle, wo teils mehr als 24 Stunden nicht gerettet wird, im Übrigen auch von Militärschiffen, italienisches Militär, aber auch maltesisches Militär hat häufiger nur gerettet, wenn unsere Aufklärungsflugzeuge sie darauf hingewiesen haben, dass sie gerade auf Video aufgezeichnet werden. Und das passiert eben weitgehend ungesehen.
Deswegen ist es auch so wichtig, dass Carola [Rackete] gezeigt hat, dass es möglich ist, sich an internationales Recht zu halten. Und umso schlimmer ist es, dass sie jetzt in Haft ist, weil das natürlich ein ganz fatales Signal aussendet an andere Schiffe, die dort in der Gegend unterwegs sind, weil die sich natürlich in Zukunft zweimal überlegen werden, ob sie ein Boot in Seenot gesehen haben oder nicht, wenn sie feststellen, was das für Konsequenzen hat.
Vielleicht noch ein Wort zur Bundesregierung. Wir sind tatsächlich sehr enttäuscht. Diese Situation, dass die italienischen Häfen von Salvini geschlossen worden sind, besteht jetzt schon seit einem Jahr. Damals hat Salvini der Aquarius als erstem Schiff den Hafen verschlossen. Seither hätte die Europäische Union und auch die Bundesregierung Zeit gehabt, eine Lösung für diese Situation zu finden.
Es gibt in der deutschen Verfassung sehr klare Grundrechtsparagrafen, auf die man sich nach dem Zweiten Weltkrieg ja aus gutem Grund geeinigt hat, und es ist die Aufgabe der Bundesregierung, die in ihrem Verantwortungsbereich - und dazu gehört nun mal auch die europäische Außengrenze - konsequent durchzusetzen. Es gibt allein in Deutschland über 60 Städte und Kommunen, die sich bereit erklärt haben, Menschen aufzunehmen.
Im aktuellen Fall hat der Bürgermeister von Rottenburg, Stephan Neher, sehr deutlich gemacht, wie es gehen kann, wie Solidarität konkret aussieht. Der ist ja nun auch von der CDU. Er hat nämlich gesagt: "Naja, 53 Leute, wo liegt denn das Problem? Die nehmen wir alle auf." Und notfalls ruft er ein Busunternehmen an, schickt dann einen Bus runter, der die Leute abholt. Das ist der Weg, wie es gehen kann.
Rottenburg ist nun wirklich eine kleine Stadt, da kann man von der Bundesregierung schon erwarten, dass sie z.B. sagt: "Wir nehmen jetzt erst mal bis auf weiteres alle auf, die auf dem Mittelmeer gerettet werden." Das sind nicht viele Leute, das sind nur ein paar hundert im Moment, die da übers Mittelmeer kommen. Und wenn man dafür keine Lösung finden kann als eines der reichsten und größten Länder in der EU, dann ist das wirklich beschämend.
Chris Chodotzki
Eine Frage, die uns immer wieder gestellt wird: War das denn nötig, in die italienischen Hoheitsgewässer und in diesen Hafen einzufahren? Ich würde jetzt von der ganz konkreten Perspektive einer Person darauf eingehen, die mit an Bord war bei einem der letzten Stand off Anfang Januar vor Malta und sagen: Ja, das war definitiv nötig. Wir waren 16 Tage dort draußen alleine gelassen von der EU, und jetzt wird gesagt: Hätte man nicht noch auf eine politische Lösung warten können für ein, zwei Tage?
Die Sache ist: Die Situation hat sich in der Zeit kontinuierlich verschlechtert. Menschen, die aus libyschen Knästen kommen, aus libyschen Lagern, wo sie illegal eingesperrt waren, finden sich wieder zusammengepfercht auf einem beengten Raum über eine längere Zeit, Seekrankheit, das über mehrere Wochen zu erdulden, zehrt dann doch sehr an den Menschen. Und dementsprechend war der Notstand, den unsere Kapitänin Carola Rackete dann erklärt hat.
In diesem Notstand wurde sie und ihre Crew mit den geretteten Menschen dann noch mal 60 Stunden allein gelassen, bis sie sich dann finally entschlossen hat, in diesen Hafen einzufahren, auch gegen den Willen und die Blockade der Autoritäten. Die Sache ist die: Wenn auf so einem Schiff, die Menschen, die gerettet wurden, die Hoffnung verlieren, dass sie in einen sicheren Hafen kommen und das passiert zusammen damit, dass sie das Vertrauen in die Crew verlieren, dann haben wir auf dem Schiff ein Pulverfass.
Da kann diese Situation jeden Tag eskalieren. Unsere Kapitänin hatte tatsächlich Angst, dass sich Menschen da etwas antun, dass sich Menschen möglicherweise sogar umbringen, weil das auch angedroht wurde. [Im Januar] ist bei uns eine Person schlussendlich über Bord gesprungen in einem Akt der Verzweiflung, zum Glück tagsüber und hat sich auch relativ schnell wieder rausfischen lassen.
Wenn so was allerdings nachts passiert, dann ist es einfach vorbei mit der Person. Unsere Crew hat suicide watches geschoben, also Selbstmord-Wachen, 24 Stunden. Die Crew war sowieso 24/7 im Einsatz seit dem Beginn der Rettung. Die Crew war auch am Rande ihrer Kräfte, genau wie unsere Kapitänin. Insofern: Diese Entscheidung konnte zu keinem Zeitpunkt anders getroffen werden.
Ruben Neugebauer
Und für diese Entscheidung ist nicht nur Carola Rackete verantwortlich, die da letztendlich Verantwortung übernommen und genau das Richtige getan hat, sondern Schuld an dieser Situation ist natürlich in erster Linie Matteo Salvini, der die Häfen geschlossen hat, aber in genau gleichem Maße eben auch die deutsche Bundesregierung und alle anderen europäischen Staaten, die über zwei Wochen lang keine Verantwortung übernommen haben.
Man muss sich das vorstellen: Wir haben hier einen Kontinent mit mehr als 500 Millionen Einwohnern und mehrere Regierungen, die es über zwei Wochen lang nicht hinbekommen, 50 Flüchtende auf diesem Kontinent zu verteilen - das ist absurd. Das Problem ist aber, dass es nicht nur mangelnder Wille ist, sondern, dass es sogar eigentlich Politik der Staaten ist, so ist zumindest unser Eindruck, und dass der Effekt, den diese Stand offs eben haben, z.B. auf Handelsschiffe, durchaus gewollt ist.
Wir haben einen Außenminister, der zwar Donnerstage für Demokratie fordert, auf der anderen Seite aber die sogenannte libysche Küstenwache ausbilden lässt, die Menschen, die aus Seenot gerettet werden, wieder in libysche Folterlager zurückbringt. Die Würde des Menschen ist unantastbar und das muss eben auch auf dem Mittelmeer gelten. Das ist die Situation, die wir gerade haben.
Marie Naass
Noch eine Sache, dann können wir zu Fragen übergehen. Es gibt ja Gründe, warum wir geschlossene Häfen haben, und diese Gründe sind vielschichtiger, als dass wir einen rechtsradikalen italienischen Innenminister haben. Ich finde es wichtig, dass wir da nicht stehen bleiben, eine Einzelperson für ihre mutigen Taten zu feiern, sondern dass wir uns wirklich die Frage stellen, warum ist es denn, wie es ist?
Deutschland hat 2018 in kein anderes EU-Land so viele Menschen zurückgeschoben wie nach Italien und sich dabei auf die Dublin-Reform berufen und gleichzeitig eine Reformierung der Dublin-Reform, die wirklich Solidarität in Europa ermöglichen würde, seit Dezember 2017 in Brüssel blockiert.