"Wenn die Geretteten die Hoffnung verlieren, haben wir auf dem Schiff ein Pulverfass"

Symbolfoto: sea-eye.org/Presse

Dokumentation der Pressekonferenz von Sea-Watch am 2. Juli 2019 in Berlin zur Festnahme der Kapitänin und der Beschlagnahme des Schiffes

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Mit der Festnahme der Kapitänin Carola Rackete und der Beschlagnahme des Schiffes "Sea-Watch 3" durch italienische Behörden hat die Auseinandersetzung um die Rettung von Flüchtlingen und Migranten aus Seenot im Mittelmeer eine neue Stufe der Eskalation erreicht. Am 2. Juli 2019 führte die Nicht-Regierungsorganisation (NGO) Sea-Watch in Berlin dazu eine Pressekonferenz durch.

Marie Naass, Ruben Neugebauer und Chris Chodotzki stellten zunächst die Lage vor und beantworteten dann Fragen. Deutlich wurde, wie dramatisch Seenotrettungen sind und vor allem, wie politisch der Konflikt ist. Eine Dokumentation.

Statements

Marie Naass

Am 12. Juni haben wir 53 Menschen aus Seenot gerettet und darüber alle relevanten Koordinierungsstellen in Kenntnis gesetzt. Nach internationalem Recht war Lampedusa der nächste sichere Hafen, deshalb haben wir Kurs auf Lampedusa genommen. Nach 17 Tagen erst, am 29. Juni, konnten die letzten Menschen von Bord gehen. Wir hatten mehr als zwei Wochen keinen sicheren Hafen und bis zum letzten Moment auch keinen sicheren Hafen zugewiesen bekommen, außer Tripolis [in Libyen], der nicht als sicherer Hafen anerkannt werden kann.

Deshalb hat unsere Kapitänin keine andere Möglichkeit gehabt, als vom Nothafenrecht Gebrauch zu machen, nach dem eine Hafeneinfahrt gerechtfertigt ist, wenn schwerwiegende Umstände vorliegen. Unsere Kapitänin ist in den Hafen eingefahren, weil deutlich war, dass sich die Situation an Bord der Sea-Watch 3 über 16 Tage lang stetig verschlechtert hat und 13 Menschen evakuiert werden müssten. Italien wäre verpflichtet gewesen, uns die Hafeneinfahrt zu gewähren, was sie nicht getan haben, woraufhin unsere Kapitänin verpflichtet war, vom Nothafenrecht Gebrauch zu machen.

Carola Rackete ist derzeit unter Hausarrest (gestern Abend wurde sie daraus entlassen, Erg. d. Red.). Wir müssen betonen, dass wir eine politische Lösung brauchen und dass Solidaritätsbekundungen gerade von politischer Seite nicht wirklich viel bringen. Wir sehen die Verantwortung insbesondere auch bei der deutschen Regierung, damit sich solche Stand offs [Verweigerung der Hafeneinfahrt] und solche Schachereien nicht jedes Mal wiederholen.

Ruben Neugebauer

Wichtig ist, dass jetzt zum ersten Mal seit langem wieder eine entsprechende Aufmerksamkeit auf der Situation im zentralen Mittelmeer liegt. Die Katastrophe dort setzt sich unvermindert fort. Derzeit ist unser Schiff unterwegs von Lampedusa nach Licata, wo es unter Beschlagnahme steht. In den zwei Tagen, die unser Schiff beschlagnahmt ist, hat unsere Crew, die sich noch auf dem Schiff befindet, über Funk von mehreren Seenotfällen Kenntnis genommen.

Sowohl italienische als auch tunesische Fischer haben in relativ verzweifelter Art und Weise von Booten in Seenot berichtet. Wir haben jetzt eine sehr mutige Kapitänin, Carola Rackete, gesehen, die alles Nötige getan hat, um die Sicherheit der Menschen an Bord zu gewährleisten, so wie man es eigentlich von jedem Kapitän erwartet. Das ist allerdings bei weitem nicht die Regel.

Wir haben z.B. eine zunehmende Zahl von Handelsschiffen, die proaktiv von Seenotfällen wegfahren, wenn sie davon Kenntnis nehmen. Wir haben Fälle, wo teils mehr als 24 Stunden nicht gerettet wird, im Übrigen auch von Militärschiffen, italienisches Militär, aber auch maltesisches Militär hat häufiger nur gerettet, wenn unsere Aufklärungsflugzeuge sie darauf hingewiesen haben, dass sie gerade auf Video aufgezeichnet werden. Und das passiert eben weitgehend ungesehen.

Deswegen ist es auch so wichtig, dass Carola [Rackete] gezeigt hat, dass es möglich ist, sich an internationales Recht zu halten. Und umso schlimmer ist es, dass sie jetzt in Haft ist, weil das natürlich ein ganz fatales Signal aussendet an andere Schiffe, die dort in der Gegend unterwegs sind, weil die sich natürlich in Zukunft zweimal überlegen werden, ob sie ein Boot in Seenot gesehen haben oder nicht, wenn sie feststellen, was das für Konsequenzen hat.

Vielleicht noch ein Wort zur Bundesregierung. Wir sind tatsächlich sehr enttäuscht. Diese Situation, dass die italienischen Häfen von Salvini geschlossen worden sind, besteht jetzt schon seit einem Jahr. Damals hat Salvini der Aquarius als erstem Schiff den Hafen verschlossen. Seither hätte die Europäische Union und auch die Bundesregierung Zeit gehabt, eine Lösung für diese Situation zu finden.

Es gibt in der deutschen Verfassung sehr klare Grundrechtsparagrafen, auf die man sich nach dem Zweiten Weltkrieg ja aus gutem Grund geeinigt hat, und es ist die Aufgabe der Bundesregierung, die in ihrem Verantwortungsbereich - und dazu gehört nun mal auch die europäische Außengrenze - konsequent durchzusetzen. Es gibt allein in Deutschland über 60 Städte und Kommunen, die sich bereit erklärt haben, Menschen aufzunehmen.

Im aktuellen Fall hat der Bürgermeister von Rottenburg, Stephan Neher, sehr deutlich gemacht, wie es gehen kann, wie Solidarität konkret aussieht. Der ist ja nun auch von der CDU. Er hat nämlich gesagt: "Naja, 53 Leute, wo liegt denn das Problem? Die nehmen wir alle auf." Und notfalls ruft er ein Busunternehmen an, schickt dann einen Bus runter, der die Leute abholt. Das ist der Weg, wie es gehen kann.

Rottenburg ist nun wirklich eine kleine Stadt, da kann man von der Bundesregierung schon erwarten, dass sie z.B. sagt: "Wir nehmen jetzt erst mal bis auf weiteres alle auf, die auf dem Mittelmeer gerettet werden." Das sind nicht viele Leute, das sind nur ein paar hundert im Moment, die da übers Mittelmeer kommen. Und wenn man dafür keine Lösung finden kann als eines der reichsten und größten Länder in der EU, dann ist das wirklich beschämend.

Chris Chodotzki

Eine Frage, die uns immer wieder gestellt wird: War das denn nötig, in die italienischen Hoheitsgewässer und in diesen Hafen einzufahren? Ich würde jetzt von der ganz konkreten Perspektive einer Person darauf eingehen, die mit an Bord war bei einem der letzten Stand off Anfang Januar vor Malta und sagen: Ja, das war definitiv nötig. Wir waren 16 Tage dort draußen alleine gelassen von der EU, und jetzt wird gesagt: Hätte man nicht noch auf eine politische Lösung warten können für ein, zwei Tage?

Die Sache ist: Die Situation hat sich in der Zeit kontinuierlich verschlechtert. Menschen, die aus libyschen Knästen kommen, aus libyschen Lagern, wo sie illegal eingesperrt waren, finden sich wieder zusammengepfercht auf einem beengten Raum über eine längere Zeit, Seekrankheit, das über mehrere Wochen zu erdulden, zehrt dann doch sehr an den Menschen. Und dementsprechend war der Notstand, den unsere Kapitänin Carola Rackete dann erklärt hat.

In diesem Notstand wurde sie und ihre Crew mit den geretteten Menschen dann noch mal 60 Stunden allein gelassen, bis sie sich dann finally entschlossen hat, in diesen Hafen einzufahren, auch gegen den Willen und die Blockade der Autoritäten. Die Sache ist die: Wenn auf so einem Schiff, die Menschen, die gerettet wurden, die Hoffnung verlieren, dass sie in einen sicheren Hafen kommen und das passiert zusammen damit, dass sie das Vertrauen in die Crew verlieren, dann haben wir auf dem Schiff ein Pulverfass.

Da kann diese Situation jeden Tag eskalieren. Unsere Kapitänin hatte tatsächlich Angst, dass sich Menschen da etwas antun, dass sich Menschen möglicherweise sogar umbringen, weil das auch angedroht wurde. [Im Januar] ist bei uns eine Person schlussendlich über Bord gesprungen in einem Akt der Verzweiflung, zum Glück tagsüber und hat sich auch relativ schnell wieder rausfischen lassen.

Wenn so was allerdings nachts passiert, dann ist es einfach vorbei mit der Person. Unsere Crew hat suicide watches geschoben, also Selbstmord-Wachen, 24 Stunden. Die Crew war sowieso 24/7 im Einsatz seit dem Beginn der Rettung. Die Crew war auch am Rande ihrer Kräfte, genau wie unsere Kapitänin. Insofern: Diese Entscheidung konnte zu keinem Zeitpunkt anders getroffen werden.

Ruben Neugebauer

Und für diese Entscheidung ist nicht nur Carola Rackete verantwortlich, die da letztendlich Verantwortung übernommen und genau das Richtige getan hat, sondern Schuld an dieser Situation ist natürlich in erster Linie Matteo Salvini, der die Häfen geschlossen hat, aber in genau gleichem Maße eben auch die deutsche Bundesregierung und alle anderen europäischen Staaten, die über zwei Wochen lang keine Verantwortung übernommen haben.

Man muss sich das vorstellen: Wir haben hier einen Kontinent mit mehr als 500 Millionen Einwohnern und mehrere Regierungen, die es über zwei Wochen lang nicht hinbekommen, 50 Flüchtende auf diesem Kontinent zu verteilen - das ist absurd. Das Problem ist aber, dass es nicht nur mangelnder Wille ist, sondern, dass es sogar eigentlich Politik der Staaten ist, so ist zumindest unser Eindruck, und dass der Effekt, den diese Stand offs eben haben, z.B. auf Handelsschiffe, durchaus gewollt ist.

Wir haben einen Außenminister, der zwar Donnerstage für Demokratie fordert, auf der anderen Seite aber die sogenannte libysche Küstenwache ausbilden lässt, die Menschen, die aus Seenot gerettet werden, wieder in libysche Folterlager zurückbringt. Die Würde des Menschen ist unantastbar und das muss eben auch auf dem Mittelmeer gelten. Das ist die Situation, die wir gerade haben.

Marie Naass

Noch eine Sache, dann können wir zu Fragen übergehen. Es gibt ja Gründe, warum wir geschlossene Häfen haben, und diese Gründe sind vielschichtiger, als dass wir einen rechtsradikalen italienischen Innenminister haben. Ich finde es wichtig, dass wir da nicht stehen bleiben, eine Einzelperson für ihre mutigen Taten zu feiern, sondern dass wir uns wirklich die Frage stellen, warum ist es denn, wie es ist?

Deutschland hat 2018 in kein anderes EU-Land so viele Menschen zurückgeschoben wie nach Italien und sich dabei auf die Dublin-Reform berufen und gleichzeitig eine Reformierung der Dublin-Reform, die wirklich Solidarität in Europa ermöglichen würde, seit Dezember 2017 in Brüssel blockiert.

Fragen

* Können Sie ein paar Worte zur Situation sagen, zum Schiff und den Menschen, die an Bord waren?

Neugebauer: Wir wissen nicht viel von dem, was aus dem Gericht kommt. Wir gehen aber davon aus, dass gegen uns eigentlich nichts vorliegt, so dass das Gericht, das im Gegensatz zu Innenminister Matteo Salvini auf dem Boden der Verfassung steht, gar keine andere Möglichkeit haben wird, als auf kurz oder lang uns dieses Schiff wiederzugeben.

(Ergänzung der Redaktion: Die Untersuchungsrichterin hob nicht nur den Hausarrest der Staatsanwaltschaft auf, sondern bestätigte auch, dass die Wahl des Hafens von Lampedusa "nicht entscheidend, sondern zwingend" war. Laut Richterin Vella hat Rackete im Rahmen ihrer Pflichten gehandelt. Die Vorwürfe, Rackete habe Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und ein Kriegsschiff geleistet, wurden fallen gelassen. Dem Vorwurf der Beihilfe zur illegalen Migration soll sie sich am 9. Juli in einer Vernehmung stellen).

Es ist durchaus so, dass das in Italien für viel Wirbel sorgt. Es ist auch so, dass gar nicht ganz klar ist, ob dieses Salvini-Gesetz überhaupt gültig ist. Das wird sich sicherlich die nächsten Tage klären. Wir hatten 22 Personen der Crew an Bord, darunter zwei JournalistInnen. Ein Teil der Crew ist bereits auf dem Weg nach Hause. Ein anderer Teil ist nach wie vor an Bord. Zu den geretteten Personen: Die sind zunächst an Land gebracht worden, sind im Moment auf Lampedusa und können sich dort frei bewegen. Es ist unklar, wie es da jetzt weitergeht.

* Haben Sie Kontakt zu Carola Rackete? Und: Von der italienischen Regierung gibt es sehr starke Angriffe auf sie. Wie reagieren Sie darauf?

Neugebauer: Wir haben keinen direkten Kontakt zu Carola außer über unsere Anwälte. Ich selber hatte mit Carola zuletzt Kontakt an dem Abend vor dem Einfahren, und ich muss sagen, ich habe sie tatsächlich noch nie so besorgt erlebt in diesen Stunden. - Der Angriff der italienischen Regierung: Es gibt da immer wieder große Worte, allerdings gehen wir davon aus, dass die italienische Justiz unabhängig ist. Es heißt, Carola hat ein Gesetz gebrochen.

Tatsächlich ist das aber ein Gesetz, das nach den Vereinten Nationen gegen Menschenrechte verstößt. Und wenn man darüber redet, wer sich hier der Strafverfolgung entzieht, dann ist es nicht Carola Rackete, sondern Matteo Salvini, der sich in vergleichbaren Fällen immer wieder staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und Anklagen entzogen hat, indem er seine Immunität im Parlament benutzt hat. Es gab mehrere Verfahren, in denen gegen Herrn Salvini ermittelt wurde wegen Freiheitsberaubung und zwar im Falle von Rettungsschiffen, die er blockiert hat.

Chodotzki: Die Unabhängigkeit der italienischen Justiz scheint bisher in großen Teilen gewährleistet zu sein. Unser Schiff war ja jetzt schon mehrfach beschlagnahmt, wurde aber relativ schnell wieder entlassen. Gleichzeitig muss man darauf hinweisen, dass natürlich auch verlängerte Verfahren schon eine Blockade darstellen und politischen Zwecken dienen können. Das sieht man z.B. am Fall der Iuventa, des Rettungsschiffes von Jugend rettet, das seit zwei Jahren jetzt in Beschlagnahmung in Sizilien liegt. Gegen zehn Mitglieder der Crew wird ermittelt, ihnen drohen bis zu 20 Jahre Haft.

* Wie viele Spenden haben Sie bekommen?

Neugebauer: So viel wie noch nie. Es ist in verschiedenen Sammlungen über eine Million über das Wochenende zusammengekommen. Eine genaue Zahl haben wir noch nicht. Wir wissen auch nicht, was am Ende bei uns landet, was bei anderen Seenotrettungs-NGOs landet, wo das Geld auch gut aufgehoben ist. Diese Solidarität zeigt zwei Dinge: Dass eben das Ertrinken lassen auf dem Mittelmeer kein Konsens ist. Und dass wir den nötigen Rückhalt haben, dass wir definitiv weitermachen werden. Wir werden weiter auf dem Mittelmeer Menschenrechte durchsetzen. Wenn unser Schiff beschlagnahmt bleibt, dann notfalls mit einem neuen Schiff.

* Niederländischer Journalist: Sie haben die Verantwortung der deutschen Regierung angesprochen, aber verantwortlich für das Schiff sind eigentlich die Niederlande. Sie haben einmal gesagt, Sie sind enttäuscht von der niederländischen Regierung. Was werfen Sie ihr vor?

Naass: Niederlande als unser Flaggenstaat hat die Verpflichtung zu koordinieren. Deswegen setzen wir uns bei jeder Rettung mit den niederländischen Authorities in Verbindung und erbeten Koordinierung für einen sicheren Hafen. Dieser Koordinierung kommen sie in keiner Weise nach. Das ist wenig hilfreich, aber vor allem verantwortungslos.

* War es vielleicht ein Fehler, dass Sie dieses Schiff in den Niederlanden haben registrieren lassen? Immerhin hat die niederländische Staatssekretärin für Justiz gesagt, der nächste Hafen für die Sea-Watch sollte Tunesien sein, weil da viele deutsche Urlauber seien.

Chodotzki: Ich weiß jetzt nicht, was das mit deutschen Urlaubern zu tun hat. Zur Flagge und der Registrierung: Wir haben da keinen Fehler gemacht. Quasi alle Schiffe, die von NGOs betrieben werden auf der ganzen Welt und fast alle Seenotrettungsschiffe waren zumindest zeitweise in den Niederlanden als Jachten, also im Endeffekt als nicht-kommerzielles Schiff im Einsatz. Aus dem einfachen Grund, weil eine Jacht, ein Sportboot in den Niederlanden keine Größenbeschränkung hat. Wir müssen als NGO unsere Schiffe als nicht-kommerzielle Schiffe registrieren, weil wir viele Freiwillige an Bord haben, die nicht bezahlt werden.

Neugebauer: Es gibt einfach keine Schiffsklasse, die Rettungsschiff heißt. Aus diesem Grunde ist in unserem Seebrief in Absprache mit der niederländischen Regierung eingetragen, dass wir ein nicht-kommerzielles Motorschiff, eine Jacht vom Typ Rettungsschiff sind. Das ist alles mit Wissen und Bestätigung der niederländischen Behörden abgelaufen. Und das Schäbige daran ist, dass das nie ein Problem war, obwohl wir ja regelmäßig Seenotfälle zu managen hatten. Erst in dem Moment, als Malta und Italien ihre Häfen dicht gemacht haben, hat Niederlande angefangen, die Registrierung zu hinterfragen.

* Es gibt in Italien Städte, die Gerettete aufnehmen wollen. Haben Sie zu denen Kontakt?

Neugebauer: Ja. Ich habe gerade einen verpassten Anruf gesehen von Leoluca Orlando, dem Bürgermeister von Palermo, der letzte Woche Sea-Watch-AktivistInnen zu Ehrenbürgern ernannt hat. Es gab auch Vernetzungstreffen zwischen verschiedenen Städten. Es gibt hier die Seebrücke in Deutschland, die sehr aktiv ist. Es gibt das Bündnis sichere Häfen. Wir stehen mit denen im Austausch.

* Wie sind derzeit die Aktivitäten der Schlepper?

Neugebauer: Die EU führt ja einen sogenannten Kampf gegen Schlepper. Ich würde dafür ein anderes Wort nehmen, nämlich Konjunkturpaket für Schlepper. Natürlich ist es so, wenn man es schwerer macht, irgendwo rüberzukommen, dann steigt der Preis.

Wir haben jetzt ein verändertes Modell: Schlauchboote, die mittlerweile eine sehr viel weitere Strecke fahren. Wir vermuten, dass regelmäßig Pushbacks aus der maltesischen Such- und Rettungszone stattfinden. Also die EU tut alles, um Völkerrecht zu brechen. Die Aktivitäten der Schlepper passen sich dementsprechend an. Was aber klar sein muss: Das war schon immer so und das wird so sein.

Man kann Migration nicht aufhalten. Es gibt historisch kein Beispiel, wo das auf Dauer besonders gut funktioniert hat. Hier in Berlin sollte uns das allen eigentlich bewusst sein. Was sich nur verändert hat, ist das Narrativ dazu.

Als hier die Berliner Mauer stand, waren die Leute, die sich alle möglichen, teils äußerst komplizierten Tricks ausgedacht haben, eben Heroes und Fluchthelfer. Heute ist es so, wenn sich Leute zunehmend kompliziertere Methoden ausdenken, um diese tödliche europäischen Grenze zu überwinden, dann sind es eben Schlepper und dann werden sie gejagt.

* Es heißt, beim Anlegemanöver hat die Sea-Watch 3 ein Polizeiboot gerammt.

Neugebauer: Eigentlich war das illegal, dass die Polizei dieses Schiff beim Anlegen gehindert hat. Eigentlich war es umgekehrt, die Polizei hat diesen Unfall verursacht, weil sie sich nämlich bei diesem Anlegemanöver dazwischengedrängt hat. Es ist nicht zu einer Situation gekommen, wo ein Schiff der Guardia di finanza gerammt worden wäre oder dass es eine schwere Kollision gegeben hätte. Das einzige, was passiert ist, dass es dieses Boot leicht touchiert hat.

* Warum war es nicht möglich, in einen niederländischen oder deutschen Hafen zu fahren? Technisch oder rechtlich?

Neugebauer: Sowohl rechtlich als auch technisch als auch moralisch. Es ist schlicht und einfach so, dass das Seerecht vorschreibt, in den nächsten sicheren Hafen zu fahren. Das ist Lampedusa. Der Bürgermeister von Rottenburg hat deutlich gemacht, wie es laufen kann. Man lässt das Boot dort anlegen, man schickt einen Bus runter und dann kann man die Leute ja in die Niederlande bringen. Das wäre ja gar kein Problem - technisch.

Wenn man mit Menschen, die aus Seenot gerettet sind, an Bord unterwegs ist, von denen viele medizinische Probleme haben, dann wäre es grob fahrlässig, mit denen eine Seereise anzutreten, die weit über 1.000 Meilen beträgt, über den Atlantik geht und diese Menschen einem völlig unnötigen Risiko aussetzt. Wir hatten ja mehrere medizinische Evakuierungen. Da war selbst Salvini bereit, diese Leute anlanden zu lassen, weil eben konkret Leben in Gefahr war. Man stelle sich vor, man wäre zu diesem Zeitpunkt jetzt irgendwo in der Biskaya gewesen.

* Was spricht gegen die libysche Küstenwache?

Neugebauer: Zunächst ist es so, dass wir nichts dagegen haben, wenn es eine libysche Küstenwache gibt. Wir erwarten nur, dass sie sich an internationales Recht hält. Das tut sie nicht. Es gibt viele Fälle von nachgewiesenen Übergriffen. Die Priorität liegt darauf, die Menschen zurück nach Libyen zu bringen und nicht darauf, Menschenleben zu retten.

Diese Kooperation mit der libyschen Küstenwache muss deshalb sofort beendet werden. Stattdessen muss die EU dafür sorgen, dass dort tatsächlich Seenotrettung im Einklang mit internationalem Recht stattfindet und dafür selber Schiffe dorthin schicken. Und außerdem dafür sorgen, dass die Leute erst gar nicht mehr auf die Boote müssen und sichere und legale Einreisewege geschaffen werden.

Chodotzki: Was für Leute hinter der libyschen Küstenwache stehen, kann man auch noch mal kurz ansprechen. Das hat sich gerade jetzt bei unserer Rettung gezeigt. Eine Weile, nachdem wir dieses Schlauchboot am 12. Juni gerettet haben, kam ein Boot der libyschen Küstenwache. Wir haben dann mal abgeglichen, was das für ein Boot war und wo es herkam. Das kam von der Miliz, die sich Küstenwache nennt.

Das ist ja keine einheitliche staatliche Autorität, das sind verschiedene Milizen. Und diese Miliz untersteht jemandem, der auf der Liste der sanktionierten Personen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ist wegen Menschenhandel. Das heißt, das ist einer von den Schmugglern, der maßgeblich an den Schmugglernetzwerken beteiligt ist. Und solche Leute werden dann von der EU geschickt, die Menschen, die wir retten und nach Europa bringen, zurück nach Libyen zu schleppen.

Wenn irgendetwas Menschenhandel ist, dann doch wohl, Milizen zu bezahlen, um Leute auf dem offenen Meer, in internationalen Gewässern, abzufangen und in völligem Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention zurück in ein Land zu bringen, in dem ihnen Verfolgung, Sklaverei, Folter und Vergewaltigung drohen.

Naass: Die EU hält sich Türsteher, damit die Außengrenzen dicht sind.

* Ihnen wird vorgeworfen, das Schlepperwesen anzukurbeln. Leisten Sie nicht einen eigenen Beitrag dazu? Und zweite Frage: In Afrika sind angeblich 20 Millionen Menschen ausreisewillig. Was ist Ihr Vorschlag, soll man die auch alle abholen?

Neugebauer: Ich fange hinten an. Sie sagen ganz richtig: angeblich. Ich würde schon gerne wissen, woher die Zahl 20 Millionen kommen soll, was dafür die Grundlage sein soll. Dieser sogenannte Pullfaktor, den wir auch Pullshit nennen, ist wissenschaftlich nicht nachzuweisen. Es sind ganz viele verschiedene Faktoren, die dazu geführt haben, dass ganz viele Menschen von dort geflohen sind.

Wir sind schließlich ja auch nicht die Ursache dafür, dass die Boote in Seenot geraten sind, sondern wir sind die Reaktion darauf. Wir sind die Reaktion auf die Krise, die darin bestanden hat, dass dort zahlreiche Menschen ertrunken sind und sind eben nicht der Auslöser dafür. Das andere ist, dass man sich auch einfach fragen muss: Was kann man denn hinnehmen?

Selbst der Chefredakteur der Bildzeitung, Julian Reichelt, hat das entsprechend getwittert, dass, Pullfaktor hin oder her, es am Ende auch eine moralische Frage ist, ob man akzeptiert, dass an der Außengrenze Menschen ertrinken. Die Zahlen, die wir haben, sind mit Vorsicht zu genießen. Wir wissen z.B., dass die libysche Küstenwache häufig Bootsunglücke nicht meldet. D.h., wenn jetzt von ungefähr 300 Toten die Rede ist, dann ist das die Zahl der bestätigten bekannten Toten. Es gibt eben kaum noch Zivilisten, die auf dem Mittelmeer sind und schauen können, was da tatsächlich passiert.

Was die Lösungen angeht: Es ist gar nicht unsere Aufgabe als Seenotrettungsorganisation zu sagen, was genau für Maßnahmen getroffen werden müssen, damit Menschen nicht auf dem Mittelmeer in seeuntauglichen Booten sitzen. Es braucht sichere und legale Einreisewege in die Europäische Union, weil es völlig absurd ist, dass man, um ein Grundrecht auf Asyl in Anspruch zu nehmen, erst einmal sein Leben riskieren muss. Wie das aber umgesetzt wird, das ist gar nicht unsere Aufgabe, das zu besprechen.

Chodotzki: Genauso wie die Seenotrettung eigentlich nicht unsere Aufgabe sein sollte.

Neugebauer: Richtig. Wir heißen deshalb auch Sea-Watch und nicht Sea-Rescue. Wir hatten eigentlich nie vor, eine NGO zu werden. Wir wurden dazu gezwungen durch die Untätigkeit der EU. Eigentlich war unser Plan, wie der Name schon sagt, der Europäischen Union auf die Finger zu gucken, dass sie die Arbeit gefälligst macht, was eigentlich ihre Aufgabe ist.

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