"Wenn du nicht vernünftig wirst, vererbe ich dir das Haus!"
Seite 2: "Ideenlose und ideologisch begründete Sparpolitik"
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Melanie Mühl schreibt in der FAZ: "Die Rettung Griechenlands ist zum Test darüber geworden, was eine Gesellschaft alles aushalten kann, bevor sie zerbricht."
Halten Sie es für möglich, dass die Griechen tatsächlich als eine Art Testkaninchen für IWF-Experimente in Richtung Sozialabbau und Privatisierung herhalten müssen?
Christian Rathner: Tatsächlich hört man in Griechenland diese Einschätzung sehr oft. Ich kann gut nachvollziehen, dass man sich als Versuchstier vorkommt, wenn "von oben" eine Sparmaßnahme nach der anderen verfügt wird - Einsparungen, die für sehr viele Menschen vor allem eine sichtbare Folge haben: dass sie immer weniger Geld zur Verfügung haben und Schritt für Schritt an den Rand der eigenen Existenz geraten. Ich denke aber nicht an bösartige Laboranten, die austesten wollen, wie lang das Kaninchen überlebt, wenn man ihm ein vergiftetes Häppchen nach dem anderen zuschiebt.
Ich glaube, dass es sich hier um eine - wie schon angedeutet - letztlich ideenlose und ideologisch begründete Sparpolitik handelt, deren positive Folgen überschätzt wurden, während man die negativen und gefährlichen Konsequenzen zu wenig einkalkuliert hat. Viele Betroffene in Griechenland sagen: Wir sind doch Menschen und keine Zahlen. Ich glaube tatsächlich, dass sich die Politik verändern müsste, wenn man nicht nur Budgetdaten und sonstige abstrakte Zahlen im Auge hätte, sondern die Situation der Menschen in die Überlegungen einbezieht.
Für mich ist es schlicht unerträglich, dass die EU gemeinsam mit der griechischen Regierung nahezu tatenlos zusehen, wie der Mittelstand abrutscht, das Gesundheitssystem kollabiert, die Arbeitslosenzahlen für Jahre auf Rekordhöhe geschraubt werden, zehntausende Familien nur mehr von der Solidarität ihrer Nachbarn auf den Beinen gehalten werden und immer mehr Menschen Haus und Wohnung verlieren. Übrigens geht es nicht nur um die Wirtschaft, es geht auch um die Politik.
Der amerikanische Finanzexperte Charles Dallara hat schon vor geraumer Zeit dazu aufgefordert, alles zu tun, um die Arbeitslosigkeitsquote unter 20 Prozent sinken zu lassen. Für das kommende Jahr werden aber 30 bis 30,5 Prozent erwartet. Ganz zu schweigen von der Jugendarbeitslosigkeit, die sich auf der brandgefährlichen Höhe von 60 Prozent eingependelt hat.
Da ist natürlich längst auch die Demokratie in Gefahr: einerseits durch verordnete Maßnahmen, die nicht demokratisch legitimiert sind, andererseits aber auch ganz konkret durch ein Anwachsen rechtsextremer Strömungen. Vieles spricht dafür, dass wir im kommenden EU-Parlament Vertreter der Neonazi-Partei "Goldene Morgenröte" haben werden.
"Erinnerungen an die Zeit der Nazi-Besatzung sind ja noch vorhanden"
Viele Grieche erzürnen sich vor allem über Angela Merkel und die deutsche Politik. Welche Rolle spielen denn die Deutschen in der Krise?
Christian Rathner: Plakate, auf denen Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble als Ober-Nazis karikiert werden, sind peinlich und unangebracht. Sie sind ein Hinweis darauf, was diese Krise auch im Hinblick auf ein Auseinanderdriften der europäischen Staaten und Einflusssphären bedeutet: Während der deutsche Boulevard über die faulen Griechen schimpft, gewinnt in manchen griechischen Köpfen das Bild vom bösen Nazi-Deutschen wieder Kontur. Erinnerungen an die grausame Zeit der Nazi-Besatzung sind ja noch vorhanden. Realer Hintergrund ist, dass Deutschland mit seinem ganzen Gewicht die Austeritätspolitik fordert und unterstützt.
Wenn man das so verkürzt darstellen darf: Deutschland hat mit schmerzhaften Maßnahmen seine Wettbewerbsfähigkeit wiederhergestellt und verlangt das nun auch von den Krisenstaaten. Dagegen wendet man in Griechenland ein, dass eben nicht jede Therapie in jedem Land gleich wirksam sein könne. Tatsächlich ist es schwer vorstellbar, wie das strukturschwache Land mit dem "Export-Weltmeister" mithalten könnte. Natürlich fällt den Menschen mittlerweile auf, dass nach Jahren der Troika-Politik der Staat kaum besser funktioniert, dafür aber nach der massiven Spar-Rosskur am Rand des Abgrunds steht.
"Stark sinkendes Einkommen bei stark steigenden Steuern"
Welche Auswirkungen hat die Krise auf den Alltag der Griechen?
Christian Rathner: Stellen Sie sich vor, Sie und Ihre Frau beziehungsweise Ihr Mann verdienen ganz gut - sagen wir gemeinsam etwa 2.500 Euro pro Monat. Sie haben einen Kredit mit einer Rückzahlung von 1000 Euro für ein Haus oder eine Wohnung laufen. Plötzlich verlieren Sie 1000 Euro Monatseinkommen, dafür zahlen Sie für Ihr Haus neue Steuern - und dauernd kommen neue Steuern und Abgaben dazu. Was vorher funktioniert hat, geht sich plötzlich mathematisch nicht mehr aus.
Haben Sie zum Beispiel zwei Kinder, so muss eine vierköpfige Familie jetzt mit 500 Euro verfügbarem Einkommen auskommen. Ich spreche von einem konkreten Beispiel, das für Hunderttausende ähnliche Situationen steht. Sind Ihre Kinder schon erwachsen, müssen Sie damit rechnen, dass sie wieder zu Ihnen ziehen, weil sie keinen Job haben und sich ihr Leben nicht leisten können.
Aber es kann noch schlimmer kommen: Sie werden arbeitslos, vielleicht zur selben Zeit wie ihr Lebenspartner. Dann haben sie maximal ein Jahr lang Anrecht auf ein geringes Arbeitslosenentgelt. Ein arbeitsloser Journalist, mit dem ich gesprochen habe, bekommt 425 Euro plus je 6 Euro für seine zwei Kinder. Davon soll eine vierköpfige Familie leben. Nach einem Jahr gibt es dann überhaupt keine staatliche Unterstützung mehr.
Natürlich sind nicht alle im selben Ausmaß von der Krise betroffen. Aber für die allermeisten Menschen lässt sich die Lage so beschreiben: stark sinkendes Einkommen bei stark steigenden Steuern, Arbeitsverlust oder massive Angst davor. Es überrascht nicht, dass mir viele Menschen erzählen, sie schliefen sehr schlecht in der Nacht. In vielen Fällen lautet die Frage, die Ängste und Depressionen hervorruft: Wie lang reicht das Ersparte?
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