Wer beerbt den Weltsouverän?
Seite 4: Crash und Nicht-Crash: Scylla und Charybdis der USA
- Wer beerbt den Weltsouverän?
- Niederlage im Nicht-Krieg
- Die ökonomisierte Zivilgesellschaft ist von der Barbarei immer nur einen Kurzschluss entfernt
- Crash und Nicht-Crash: Scylla und Charybdis der USA
- Das Ende der unilateralen Globalisierung
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Wie viele Jahre lang ist ein Menetekel ernst zu nehmen? Schon wesentlich länger als der Irankrieg wird ein Crash auf den globalisierten Finanzmärkten vorausgesagt. Entlarvt nicht bereits dieser Umstand die Ankündigung des Weltwirtschaftsuntergangs als interessengeleitete Spiegelfechterei? „Das kapitalistische Weltsystem steht unmittelbar vor seiner Auflösung“, warnte kurz vor der Jahrtausendwende der erfolgreiche Börsenspekulant George Soros, der es ja wissen musste.9
Mittlerweile sind wieder einige Jahre vergangen. Doch in diesem Fall scheint der Aufschub den Sorgendruck zu erhöhen, zumal es ja eine Erklärung für den Aufschub gibt (siehe oben). Die bevorstehende Wirtschaftskrise sei die bestprognostizierte der Welt, versichert Gabor Steingart. Nichts hindere die Finanzinvestoren daran, mit dem Dollar ähnlich zu verfahren wie mit den Aktien der New Economy – außer der Angst, zusammen mit dem Dollar unterzugehen. Aber dieselbe Angst werde sie irgendwann, morgen oder in zehn Jahren, aus dem Dollar fliehen lassen, erklärt Steingart. Dann werde die USA in die schwerste Krise ihrer Geschichte stürzen. „Die USA haben mehr Sicherheit verkauft, als sie zu bieten haben. (...) Die Abhängigkeit ausländischer Notenbanken vom Dollar wird dessen Sturz verzögern, aber nicht verhindern.“ Die renommierte britische Beraterfirma Oxford Analytika stuft schon seit längerer Zeit eine Rezession in den Vereinigten Staaten als eines der größten aktuellen Risiken ein, neben der „Rückkehr zum Protektionismus“ und einem „Ölpreisschock“ (Frühwarnsystem für politische und wirtschaftliche Risiken).
Die Zwillingsschwester der Dollarschwemme ist die enthemmte Kreditausweitung. In den Vereinigten Staaten wurde ihr bis heute kein Einhalt geboten. Irgendwann, sagen die Experten, werde eine Kettenreaktion einsetzen, die alle Spekulationsfonds in den Abgrund reiße. Heute konkurrieren mehr als 10.000 Hedgefonds um frisches Spielgeld. Etwa 80 Prozent von ihnen residieren auf den Kaimaninseln („Krokodilinseln“). Der Tagesumsatz sämtlicher globaler Finanzderivate entspricht mit annähernd 6.000 Milliarden Dollar der Hälfte des Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten. Der angesehene Fondsmanager Avinash Persaud sieht die Stunde der Wahrheit näherrücken, in der die Hedgefonds gezwungen seien, „ihre liquidesten Investitionen abzustoßen“, um die massiven Zweifel der Kreditgeber durch Verkauf der vergleichsweise bestabgedeckten Titel zu beschwichtigen.10
Gegenwärtig, im Frühjahr und Sommer 2007, mehren sich die Vorzeichen einer Rezession in den Vereinigten Staaten: Die großzügigsten Hypothekenbanken haben wachsende Schwierigkeiten, den Rückforderungen der Großbanken nachzukommen. Der Verkauf vieler Finanztitel reicht nicht mehr aus, um die aufgenommenen Kredite zu begleichen. Eine wachsende Zahl von Unternehmen kauft eigene Aktien zurück, statt in die eigenen Geschäfte zu investieren (Kommt eine Rezession in den USA?). Auch die Einzelhandelsumsätze gehen zurück. Katastrophenberichterstattung?
Falls eine Dollarschmelze einträte, würde der Zinssatz für Kredite hinaufschnellen und die dadurch ausgelöste Panik in wenigen Tagen die Industrie, den Handel und die Haushaltskassen erfassen. Die Banken würden ihre Kunden zur Rückzahlung der Kredite zwingen, und massenhafte Aktienverkäufe würden die Börsenkurse und Immobilienpreise auf historische Tiefststände sinken lassen. Das wäre der seit Jahren beschworene und eben deswegen unfassbare Crash, sich fortwälzend auf den Arbeitsmarkt (in Form von Massenentlassungen) und die vielen Lieferländer der USA (da die Erstickung des Konsums den Importsog abrupt beenden würde) und schließlich auf die Börsen der Welt, wo die Schreckensmeldungen aus Amerika eine Massenflucht der Investoren aus Aktien und Unternehmensanleihen auslösen würden ).11
Auch nach dem großen Crash würde das amerikanische Imperium nicht in die Steinzeit oder auf das Niveau eines Schwellenlands zurückfallen. Aber mit schwachem Dollar und hoher Inflation und ohne das Vertrauen der Nationalbanken und Investoren wären die USA eine Gestalt der Vergangenheit, ein ressentimentgeladener Verlierer, dessen Armee ebensowenig wie die ehemalige Sowjetarmee noch imstande wäre, ihre Waffensysteme zu warten und fortlaufend zu modernisieren.
Allerdings sind sichere Prognosen eher dafür geschaffen, sich nicht zu bewahrheiten. Nehmen wir also an, dass der Crash vermieden wird, der Dollar nicht in den Abgrund stürzt und die Weltwirtschaft sich unter maßgeblichem Einfluss der Vereinigten Staaten im großen und ganzen so weiterentwickelt wie in den letzten zehn Jahren. Aber dann stellt sich eine andere Frage: Was wäre auf längere Sicht verhängnisvoller für Nordamerika: dass der Crash tatsächlich kommt oder dass er ausbleibt?
Die Alternative zum schrecklichen Zusammenbruch wäre eine langsame und nicht endende Selbststrangulation der parasitären amerikanischen Wirtschaft. Diese Strangulation würde sich auf zwei Ebenen vollziehen. Zum einen: Regierung und Notenbank müssen zu immer rigoroseren Mitteln greifen, um den Kollaps abzuwenden. Sie müssen, kurz gesagt, die Ausbreitung von Zuständen, wie sie in Entwicklungsländern herrschen, im eigenen Land ertragen: weite Landstriche der ökonomischen Verwüstung überlassen, um wenige „Inseln“ hoher Produktivität und Rentabilität zu erhalten, wachsende Teile der Mittelklasse, der Industriearbeiter, der Selbständigen und kleinen Unternehmer an die Armutsgrenze drängen und per Kreditverweigerung gegenüber bestimmten Investorengruppen immer wieder eine begrenzte Kapitalvernichtung in Kauf nehmen, um die Masse des liquiden Kapitals zu retten.
Vernichtungskonkurrenz und wechselseitige Isolierung und Entfremdung der größten Bevölkerungsgruppen (über das bereits bestehende hohe Maß hinaus) wären dann konstante Merkmale der amerikanischen Gesellschaft. Armut und Gewalt haben in den Vereinigten Staaten eine lange Geschichte, nicht jedoch die Hoffnungslosigkeit. Wie widerstandsfähig in globalen Krisen wäre dieses Land mit einer rasch anschwellenden Klasse ökonomisch Überflüssiger ohne Zukunftsperspektive?
Zum anderen treibt eine Fortsetzung der abenteuerlichen Verschuldungs- und Importwirtschaft die Amerikaner in die Abhängigkeit von einer Macht, der sie nicht vertrauen dürfen. Eine Zahlungsbilanzkrise der Vereinigten Staaten könnte schon heute von außen erzwungen, der amerikanische Geldkreislauf schon „heute von außen zum Kollabieren gebracht werden“. „Von außen“ bedeutet: von Europa und Russland und Brasilien und den arabischen Golfstaaten und Indien. In erster Linie aber bedeutet es: von China, jener wirtschaftlichen und militärischen Zukunftsgröße, die unter rücksichtsloser Ausnutzung der Leidensfähigkeit ihrer Bevölkerung darauf hinarbeitet, den Vereinigten Staaten auf dem Weltmarkt den Rang abzulaufen.