"Wer ist hier der eigentliche Terrorist?"

Hintergrundinformationen zur Wahl in der Türkei

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"Wer ist hier der eigentliche Terrorist?" - Diese Frage stellte Georg Restle in einem Kommentar der Tagesthemen im März, als es darum ging, die Politik des türkischen Präsidenten in Bezug auf die Kurdenfrage und die PKK zu bewerten.

Erdogan lasse in den kurdischen Gebieten einen mörderischen Krieg führen, während der seit Jahrzehnten inhaftierte und inzwischen in Isolationshaft sitzende Vorsitzende der PKK, Abdullah Öcalan schon vor Jahren einen Waffenstillstand ausgerufen und ein Ende des bewaffneten Kampfes verkündet habe, so Restle:

Laut einem UN-Bericht wurden seit Juli 2015 über 350.000 Menschen in den kurdischen Gebieten aus ihren Siedlungen vertrieben, ihre Häuser systematisch zerstört, tausende wurden demnach getötet, Frauen systematisch gefoltert und vergewaltigt.

Georg Restle

Die Wahlen in der Türkei am morgigen Sonntag, am 24. Juni 2018, werden zeigen, ob die Türkei endgültig in Richtung Despotismus und Ein-Mann-Herrschaft abdriftet oder ob es noch Hoffnung auf einen demokratischen Ausweg gibt.

Diese Wahl hat auch deswegen eine besondere Bedeutung, weil in Europa viele Menschen mit türkischem Pass leben und immer mehr türkische und kurdische Oppositionelle Deutschland als Exilland wählen. Die Bundesregierung fährt nach wie vor einen Kuschelkurs mit Erdogan. Sie ignoriert die linke und demokratische Opposition aus der Türkei und kriminalisiert insbesondere kurdische Organisationen.

Dieser zweiteilige Beitrag liefert im ersten Teil Hintergrundinformationen zu der Zusammensetzung der Bevölkerung in der Türkei, der Parteienlandschaft und dem Erdogan-Clan. Der zweite Teil des Beitrages widmet sich dann dem von der AKP abgesagten Friedensprozess mit der kurdischen Bevölkerung und der Frage, was die kurdische Arbeiterpartei PKK heute ist. Es ist unumstritten, dass es ohne die PKK zu keinem Frieden zwischen der türkischen Regierung und der kurdischen Bevölkerung kommen wird.

Schlechte Noten für die türkische Regierung in der Vorwahlzeit

Besonders schlechte Noten bekam die türkische Regierung von Abgeordneten des Europaparlaments und des Ständigen Gerichtshof der Völker der Russel-Stiftung in Bezug auf Menschenrechte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit.

Das Urteil (siehe Türkei Tribunal: Türkischer Präsident auf der Anklagebank), das am 24. Mai im Europaparlament verkündet wurde, bescheinigte der türkischen Regierung und insbesondere dem türkischen Präsidenten Erdogan und seinem General Huduti "Kriegsverbrechen, Staatsverbrechen und systematische Menschenrechtsverletzungen".

Eine Delegation des Europaparlaments, die sich Ende Mai für zwei Tage in Ankara aufhielt, stellte fest, dass unter den derzeitigen Notstandsgesetzen eine demokratische Debatte nur noch bedingt möglich sei. Von einem fairen und freien Wahlkampf für die Parlaments- und Präsidentenwahl könne nicht die Rede sein.

Zahlreiche Politiker und Journalisten würden im Gefängnis sitzen, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit sei eingeschränkt. Zudem werde in den türkischen Medien wenig über die Oppositionsparteien, hingegen ausführlich über die Regierungspartei AKP berichtet.

NZZ

Auch wirtschaftlich sieht es schlecht aus für die Türkei. Die zunehmenden ökonomischen Probleme sind der Grund, warum Erdogan die Wahlen 1,5 Jahre vorgezogen hat. Denn wenn es der türkischen Wirtschaft zunehmend schlechter geht, werden auch die Erdogan-Anhänger dies spüren. Das könnte Stimmen kosten.

Im Umfeld der AKP ist im Laufe der Jahre eine neue, islamisch-konservative Schicht, bestehend aus kleinen und mittelständischen Unternehmern entstanden, die stark von Erdogans Clan abhängig ist. Dies ging einher mit der Lockerung von Arbeitsschutzgesetzen, der Beschneidung gewerkschaftlicher Mitbestimmung und der Einführung von Leiharbeit. Es entstand ein System von Abhängigkeiten und Verbundenheit mit der AKP.

Diese Unternehmer profitierten neben den großen Konzernen der Türkei von den Enteignungen der Betriebe, Medien etc., deren Eigentümer wegen Unterstützung der Gülen-Bewegung oder der linken Opposition enteignet wurden.

Damit dürfte es nun vorbei sein. Ein auf Facebook veröffentlichtes Video zeigt sehr anschaulich, mit welchen wirtschaftlichen Problemen es die AKP-Regierung zu tun hat und warum Erdogan alles auf eine Karte setzt, um nicht selbst im Gefängnis zu landen.

Die Türkei ist mit ca. 270 Milliarden Dollar bei internationalen Banken verschuldet. Alle Großprojekte in der Türkei, z.B. die Bosporus-Unterführung oder der neue Flughafen, wurden in der Erdogan-Ära mit geliehenem Geld gebaut. Die Einnahmen aus diesen Projekten bleiben unter den Erwartungen, so dass die Rückzahlung der Kredite nicht gedeckt ist.

Die europäischen Banken blicken mit Sorge auf die Türkei. Ausländische Investoren halten sich inzwischen stark zurück, denn sie fürchten den Kollaps. Spanische Banken liegen beispielsweise mit 87 Milliarden Dollar an der Spitze, gefolgt von französischen Banken mit 42 Milliarden Dollar, deutschen Banken mit 15 Milliarden Dollar und italienischen Banken mit elf Milliarden Dollar.

Die spanische Großbank BBVA hält knapp 50 Prozent an der Garanti Bank, dem drittgrößten Finanzhaus am Bosporus. Die Anleger der BBVA sind alarmiert, denn die BBVA-Aktie hat im laufenden Jahr 14 Prozent an Wert eingebüßt. Die italienische UniCredit, Italiens größtes Finanzhaus, ist mit 41 Prozent an Yapi Kredi beteiligt, der viertgrößten türkischen Bank.

Die Aktie der UniCredit hat mittlerweile ein Fünftel ihres Wertes verloren. Diese Informationen werden nicht über die staatlich gelenkten Medien verbreitet. Sie zählen unentwegt die auf Pump durchgeführten Großprojekte auf, ohne zu erwähnen, dass diese in Kürze den Bürgern teuer zu stehen kommen.

Das deutsche Problem mit der türkischen Opposition

In der Bewertung der türkischen Opposition scheiden sich die Geister der deutschen Medien und der Regierungsparteien. Wirtschaftliche Verflechtungen, gepaart mit der Angst vor der Erdogan-Lobby in Deutschland, haben dazu beigetragen, dass der Despot vom Bosporus auch die deutsche Politik indirekt mitbestimmt.

Wenn es um die Kurden im Nahen und Mittleren Osten geht, werden die verschiedensten Schubladen aufgemacht. Für die einen sind sie "Terroristen", für die anderen "heroische Kämpfer". Wieder andere bezeichnen sie als rückständige "Bergtürken" oder Separatisten.

Leider finden sich die negativen, verkürzten und vorurteilsbehafteten Sichtweisen auch in Deutschland wieder und fließen in die Tagespolitik ein. Ein Indiz dafür ist die zunehmende Kriminalisierung der kurdischen Community in Deutschland.

Unzählige, letztlich irrationale Strafverfahren wegen des Zeigens inkriminierter Fahnen, dem Posten von unliebsamen Artikeln oder der Veröffentlichung von absurden Anklagen kurdischer Aktivisten, belegen diese neue Politik der Kriminalisierung, mit der unnötigerweise die deutschen Sicherheitsbehörden und Gerichte auf Trab gehalten werden.

Ein bekanntes Beispiel ist der Münchner Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger, der von einem fleißigen Polizisten permanent wegen des Zeigens von YPG/YPJ-Fahnen angezeigt wird.

Zu nennen ist hier auch die komplette Beschlagnahmung der Bestände des einzigen deutsch-kurdischen Verlages, dem Mesopotamien-Verlag, der neben kurdischer Literatur, Wörterbüchern, Philosophie auch deutsche Klassiker in kurdischer Sprache verlegt. Die Liste der absurden Verfahren ist lang ("Keine Pressefreiheit für Kurden: Türkische Zustände in Deutschland"). All das zeigt, wie sehr Erdogan in der deutschen Gesellschaft mitmischt.

Wenn es um die Türken in der Türkei und im Ausland geht, lassen sich ähnliche Muster erkennen. Die einen verurteilen Teile der türkischen Bevölkerung pauschal als ""dumm und ungebildet" und daher reaktionär und betrachten die Kemalisten als die einzige Opposition gegen die unter Erdogan erstarkenden Islamisten.

Andere wiederum sehen eine Zukunft nur mit der links-liberalen HDP und deren Bemühungen um eine Lösung der Kurdenfrage und damit verbunden einem Frieden mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Wieder andere, und dazu zählen viele der türkischstämmigen Bürger in Deutschland, verehren Erdogan als ihren Sultan und streiten Menschenrechtsverletzungen, Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit pauschal ab.

Für Journalisten ist die Berichterstattung zweifellos nicht leicht, denn auch sie geraten schnell in die eine oder andere Schublade. Berichtet man kritisch über Erdogan und die AKP und die mangelnde Rechtsstaatlichkeit, betreibt man "Türkei-Bashing", schreibt man über Menschenrechtsverletzungen in den kurdischen Gebieten der Türkei oder ihrem völkerrechtswidrigen Krieg in Nordsyrien, ist man "PKK-Sympathisant".

Dabei gäbe es so viel Interessantes über den Vielvölkerstaat Türkei und seine kulturelle Vielvielfalt zu berichten - wäre dies von oben erwünscht. Viele Journalisten in der Türkei, aber auch in Deutschland, bemühen sich daher, eine vermeintliche "Objektivität" herzustellen, indem sie Aktivitäten der PKK-Guerilla mit dem IS-Terror auf eine Ebene stellen. So möchte es ja auch unsere Bundesregierung am liebsten dargestellt wissen.

Zudem übernehmen europäische Medien Meldungen der türkischen Staatsmedien oft unhinterfragt. So entstand in breiten Teilen der hiesigen Bevölkerung ein verzerrtes Bild von der kurdischen Bevölkerung und ihrem Widerstand gegen Assimilierung und Unterdrückung auf der einen Seite und der türkischen Bevölkerung auf der anderen Seite, der verallgemeinernd Rückständigkeit und Islamismus vorgeworfen wird.

Aber so einfach ist alles nicht. Erstens sind die Kurden und Kurdinnen keine homogene Bevölkerungsgruppe, sondern genauso links, liberal, konservativ oder islamisch wie die Türken. Zweitens sollte man sich als Leser zuerst die Frage stellen, ob demokratische Bestrebungen im Nahen und Mittleren Osten grundsätzlich als richtiger Weg betrachtet werden. Der Anschein ist, dass die Meinung überwiegt, autokratische Systeme, ob islamisch oder nicht, seien vorzuziehen.

Man kann damit beginnen, sich die Geschichte der Länder und ihre Protagonisten genauer anzusehen, um die dort vorherrschenden Verhältnisse zu verstehen. Auch wenn nicht alle Aspekte behandelt werden können soll dieser Beitrag soll bei der Meinungsbildung helfen. Fangen wir bei der Verfassung an: