"Wer ist hier der eigentliche Terrorist?"
Seite 4: Wer ist Erdogan? Kurze biographische Einblicke
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Erdogan kommt aus einer islamisch geprägten Familie aus dem Armenviertel Kasimpascha in Istanbul. Nach der Grundschule besuchte er die islamische "Imam-Hatip-Schule". In diesen Schulen gibt es hauptsächlich Koranunterricht, da sie vor allem der Ausbildung des geistlichen Nachwuchses dienen.
Angeblich soll Erdogan danach an der Marmara-Universität in Istanbul studiert, und dort 1981 das Diplom in Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften erworben haben. Allerdings wurde dieses Institut erst ein Jahr später gegründet, was ihm den Vorwurf einbrachte, sein Diplom gefälscht zu haben.
Stimmt der Vorwurf, müsste er eigentlich sein Amt niederlegen, denn nach türkischem Recht ist ein Studienabschluss die Voraussetzung für das Präsidentenamt. Den Beweis, dass der Vorwurf falsch ist, bleibt Erdogan bis heute schuldig.2 Politisch stand Erdogan dem Gründer der militant-islamistischen Bewegung "Milli Görüs", Necmettin Erbakan, nahe.
Erbakan gründete 1983 die Nationale Heilspartei MSP, Erdogan wurde dort Mitglied und Chef der Jugendorganisation im Istanbuler Ortsteil Beyoglu und ein Jahr später Vizeparteichef. Erbakan und Erdogan versuchten in den Folgejahren ihre nationalistisch-islamistische Ideologie in der Türkei durchzusetzen.
Aus dieser Zeit stammt auch das viel zitierte Zitat von Erdogan, die Demokratie sei "nicht das Ziel, sondern ein Mittel…Wenn Allah es will, beginnt der große Aufstand".3 In den 1990er Jahren rückte Erdogan mehr und mehr von Erbakan ab und propagierte im Gegensatz zu Erbakan eine Re-Islamisierung der türkischen Politik unter Beibehaltung der Trennung von Staat und Kirche. 1994 wurde er erster islamistischer Oberbürgermeister von Istanbul.
Die kemalistischen Eliten waren entsetzt, dass nun ein Mann die wichtigste Stadt des Landes regierte, der nicht zur kemalistischen Elite gehörte, sondern ein aus einfachen Verhältnissen stammender islamischer Fundamentalist. Fortan plante er, aus Istanbul eine "anständige" Stadt zu machen: Getrennte Schulbusse für Jungen und Mädchen, eigene Badestrände für Frauen, der Ausschank von Alkohol sollte verboten werden. Massenproteste konnten Letzteres verhindern.
1998 wurde Erdogan mit einem Politikverbot belegt, weil er auf einer Veranstaltung in Siirt mit einem Gedicht des Schriftstellers Ziya Gökalp versuchte, die Menschen zu agitieren:4
Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.
Erdogan
Bei den "Schwarzen Türken" kam das gut an, bei den Militärs dagegen weniger. Wegen Anstachelung zum religiösen Aufstand wurde Erdogan zu zehn Monaten Haft und lebenslangem Politikverbot verurteilt. Fortan war Erdogan in seiner Rhetorik vorsichtiger und gab sich westlich.
Er vertrat auf öffentlichen Versammlungen, eine politische Partei könne keine Religion haben, Religion sei eine Privatangelegenheit, andernfalls würde man die Religion ausnutzen.
Man dürfe sich nicht über die Religion Vorteile verschaffen. Von heute aus betrachtet muss man annehmen, dass all das Taktik war, bis er sein Ziel, die absolute Macht, erreicht hat. Schaut man sich seine jetzige Rhetorik an, ist er wieder zu seinem alten Stil zurückgekehrt.
Damals jedoch sahen viele Politiker aus Europa in Erdogan den Protagonisten eines liberalen politischen Islam. Selbst grüne Politiker und Politikerinnen wie Claudia Roth und Cem Özdemir setzten ihre Hoffnung in Erdogan und seine 2001 gegründete Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP). 2002 wurde die AKP Regierungspartei, die kemalistische CHP zweistärkste Partei.
Erdogan setzte in der Wirtschaftspolitik das von Kemal Dervis, dem damaligen Vizepräsident der Weltbank, vorgeschlagene Wirtschafts- und Umschuldungsprogramm um: Er nahm neue Kredite vom Internationalen Währungsfonds (IWF) auf und setzte auf die Liberalisierung des türkischen Marktes.
Mit dem geliehenen Geld kam es tatsächlich zum wirtschaftlichen Aufschwung. Unterstützung erhielt er vor allem von dem islamisch geprägten Verband MÜSIAD (Verein unabhängiger Industrieller und Unternehmer) und dem größten Unternehmerverband TÜSIAD (Verein türkischer Industrieller und Unternehmer), die ihre Chance witterten, den kemalistischen Konzernen, die z.T. in den Händen der Militärs waren, ein Stück des Kuchens abspenstig zu machen5 und das Land zu islamisieren.
Heute sehen wir, dass Erdogans Rechnung aufging. Aus dem vermeintlichen Reformer ist das geworden, was er von Anfang war und wohin er wollte: ein Vertreter des politischen sunnitischen Islams und "Neuer Sultan".
Man tut Erdogan unrecht, wenn man ihn verspottet, wenn er zu seinen Anhängern ruft: "Unsere Mission hat gerade erst begonnen" und sich mit dem Rabbia-Gruß, dem Gruß der Muslimbrüder, verabschiedet. Nein, man muss ihn ernst nehmen - und die Gefahr verstehen, die sich hinter seinem Machtstreben verbirgt.
Unter Erdogan blühte in den letzten Jahren die Korruption wieder auf, der Erdogan-Clan bereichert sich nach wie vor. Zwar appellierte Erdogan erst kürzlich an die türkische Bevölkerung, die Dollars und Euros unterm Kopfkissen in türkische Lira umzutauschen und Vermögen nicht außer Landes zu schaffen. Für seinen eigenen Clan scheint dieser Appell anscheinend nicht zu gelten.
Er und seine Familienmitglieder zahlen lieber die niedrigen Unternehmenssteuern in Malta, die fünf Prozent betragen statt in der Türkei über 20 Prozent. Nach Informationen der Cumhuriyet soll der Clan ebenfalls mehrere Offshore-Firmen in Maltas Hauptstadt Valetta besitzen.
Die Fäden laufen bei der Calik-Holding zusammen. Diese wurde bis 2013 von Erdogans Schwiegersohn und jetzigem Energieminister Berat Albayrak geführt. Erinnerungen an den Korruptionsskandal Ende 2013 werden wach: 2013 wurden Schuhkartons mit 4,5 Millionen Dollar beim Generaldirektor der staatlichen Halkbank beschlagnahmt.
Es gab illegale Immobiliendeals zwischen der staatlichen Wohnungsbauagentur TOKI (die heute die zerstörten Stadteile von Diyarbakir-Sur, Nuseybin etc. wiederaufbaut und an wohlhabende AKP-Anhänger verhökert) und einem bekannten türkischen Baulöwen, bei dem Erdogans Sohn Bilal seine Finger im Spiel gehabt haben soll:
Drei AKP-Minister mussten damals zurücktreten: der Innenminister Muammer Güler, der Wirtschaftsminister Zafer Caglayan und der Umweltminister Erdogan Bayraktar. Beim Sohn des Innenministers fand die Polizei Safes, eine Geldzählmaschine und fast 1,5 Millionen Dollar, Euro und Türkische Lira in bar.
Erdogans Sohn Bilal geriet 2013 ebenfalls ins Visier der Ermittlungsbehörden. Aber Vater Erdogan, damals noch Ministerpräsident, untersagte polizeiliche Ermittlungen gegen seinen Sohn. Die Staatsanwaltschaft und der Polizeichef von Istanbul wurden deswegen abgesetzt und angeklagt. Erdogan behauptete bereits damals, diese Ermittlungen stellten einen Justizputsch der Gülen-Leute gegen seine Regierung dar.
Die Anklage wurde damals fallengelassen und das beschlagnahmte Geld wurde mit Zinsen zurückgegeben. Gegen die zurückgetretenen Minister wurde nicht einmal Anklage erhoben.
Erdogan, die Paradise Papers und sein Korruptionssumpf
Auch Erdogans Schwiegersohn Serhat Albayrak, Bruder des Energieministers Berat Albayrak scheint in windige Geschäfte verwickelt zu sein. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 ließ die Calik-Holding ihre Steuersparmanöver parlamentarisch legalisieren. Serhat Albayrak tauchte danach als Direktor der Firma Frocks International Trading auf, deren Gründer allesamt aus dem Umfeld der Calik-Holding stammen.
Die Ermittlungen gegen das Netzwerk rund um den Erdogan-Clan dauern an. Ein Mann, der Licht ins Dunkel rund um den Clan bringen könnte, ist Reza Zarrab. Der 33-jährige Goldhändler besitzt türkische, aserbaidschanische und iranische Pässe. Im März 2016 wurde er in den USA wegen des Verstoßes gegen die von den Vereinigten Staaten im Atomstreit gegen den Iran verhängten Wirtschaftssanktionen, Bankbetrug und Geldwäsche festgenommen.
2017 wurde er freigelassen und tritt nun als Kronzeuge in den USA auf. Die Ermittlungsspuren der US-Behörden führen zurück ins Jahr 2013 und bis in die türkische Regierung hinein - und zu Erdogan selbst.
Konkret geht es um den Geldtransfer von Erdogan und seiner Familie an eine Offshore-Firma im Ausland die dem Erdogan-Freund, Sıdkı Ayhan gehört. Die Bild-Zeitung listet die Zahlungen des Erdogan-Clans an die Firma auf, die angeblich anhand von Kontoauszügen belegbar sind:
Erdogans Sohn Burak Erdogan: 3,75 Millionen US-Dollar (3,15 Millionen Euro).
Bild-Zeitung
Erdogans Bruder Mustafa Erdogan: fünf Millionen US-Dollar (4,2 Millionen Euro).
Erdogans Schwager Ziya Ilgen: 2,5 Millionen US-Dollar (2,1 Millionen Euro).br> Vater von Schwiegertochter Erdogans: 2,2 Millionen US-Dollar (1,85 Millionen Euro).
Erdogans alter Büroleiter Mustafa Gündogan: 1,5 Millionen Dollar (1,26 Millionen Euro).