Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns
In der polarisierten und aggressiven Stimmung im Lande gehen jene Stimmen unter, die sich auf keine Form der Unterdrückung einlassen wollen
Im aufgeheizten politischen Klima Ägyptens ist es dieser Tage nicht einfach, eine Meinung abzugeben, ohne im Voraus unmissverständlich klarzustellen, wo man nicht steht. Wer die exzessive Gewalt des Militärs gegenüber dem Sit-In der Muslimbrüder verurteilt, wird schnell als Sympathisant der Islamisten dargestellt. Im Anti-Morsi-Lager wird Morsi gerne mit Hitler verglichen, es gibt Plakate auf denen die beiden nebeneinander abgebildet sind, darüber der Satz: "Hitler was democratically elected. So was Morsi."
Auch im Lager der Muslimbrüder ist man um zweifelhafte Vergleiche und Anschuldigungen nicht verlegen. Nach dem Angriff der Armee auf den Sit-In der Islamisten sagt ein Demonstrant die ägyptische Armee hätte skrupellos um sich geschossen, wie "die Armee der Juden". Ein weit verbreiteter Vorwurf ist, die Christen im Lande hätten die Armee zum harten Vorgehen gegen Mitglieder der Bruderschaft ermutigt. Im Netz kursieren Interviews, in denen Islamisten eine Rachekampagne gegen ihre politischen Gegner und die Christen im Lande ankündigen.
Versionen: Die Feinde von außen und innen
Das landläufig populäre Feindbild USA wird auf beiden Seiten bedient. Teile von Morsis Gefolgschaft beschuldigen die USA die demokratische Legitimität Morsis nicht ausreichend verteidigt zu haben und sich zusammen mit den "Anti-Demokraten" des Gegenlagers und "den Zionisten" gegen den Ex-Präsidenten verschworen zu haben. Diese vertraute Konspirationslogik der Islamisten hielt ihre Sprecher jedoch nicht davon ab, an internationale Organisationen und den Westen zu appellieren, den "Putsch gegen die Legitimität" nicht zuzulassen.
Noch stärker sind die Ressentiments gegenüber den USA jedoch unter jenen Millionen, die vergangenen Freitag General Al-Sisis Aufruf folgten und die Armee feierten (vgl. Militärcoup, zweite Phase?). Präsident Obama bekommt auf Plakaten einen langen Bart und wird als "Obama bin Laden" zu einem Unterstützer des internationalen Terrorismus.
Den USA wird vorgeworfen, zu enge Kontakte zu den Islamisten geplegt zu haben und in ihrem strategischen Interesse die Muslimbrüder als wichtigsten politischen Partner im Lande gefördert zu haben - und dies auch, nachdem im vergangenen November klar wurde, dass den Muslimbrüdern mehr an Machtkonzentration als an demokratischem Regieren gelegen war.
Diese Annäherung der USA an die Islamisten am Nil, deren Aufstieg nach dem Sturz Mubaraks von vielen als unaufhaltsam angesehen wurde, ist kaum von der Hand zu weisen und von vielen Journalisten hinreichend belegt worden (gegen Ende des Artikels).
US-Botschafterin Patterson - Schläferzelle der Muslimbrüder
Manche Vorwürfe gegenüber den USA gehen jedoch weit über diese strategischen Arrangements der Weltmacht hinaus. Vor allem die amerikanische Botschafterin Anne Patterson ist für weite Teile des Anti-Morsi-Lagers zu einer Hassperson geworden. "Persona non grata" steht auf vielen Plakaten.
Der Abgeordnete des (seit 2012 vom obersten Gerichtshof aufgelösten) Parlaments, Mustafa Bakari, wirft ihr vor, den mittlerweile inhaftierten Khairat al Shater, der als die faktische Nummer eins der Muslimbrüder angesehen wird, sogar in seinem Privathaus besucht zu haben. Für Mustafa Bakri ist die Botschafterin eine "Schläfer-Zelle" der islamistischen Organisation.
Viele Ägypter sprechen sich dafür aus, Patterson wegen Einmischung in die inneren Belange Ägyptens des Landes zu verweisen. In einer Meinungsumfrage unter Lesern der säkularen Tageszeitung Youm 7 sind es 90%.
Dafür sind am vergangenen Freitag auf den Pro-Armee-Demonstrationen Poster eines anderen Staatsmannes aufgetaucht - eines Politikers zu dessen Standardrhetorik das Prinzip der Nicht-Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder zählt: Vladimir Putin. "Bye bye Amerika" steht über seinem Konterfei.
Die Legitimität des Gegners dekonstruieren
In angespannten und aggressiven Klima dieser Tage haben Kommentatoren staatsnaher und privater Medien auch einen Unruhestifter im Inneren ausgemacht: Die vor dem Bürgerkrieg im eigenen Lande nach Ägypten geflohenen Syrer. Sie werden beschuldigt, für die Muslimbrüder zu arbeiten und die Sicherheit des Landes zu bedrohen. In den vergangenen Wochen häuften sich fremdenfeindliche Vorfälle gegenüber Syrern. Manche von ihnen wurden bei Personenkontrollen von der Polizei verhaftet und Tage lang gefangen gehalten.
Es geht bei solchen Vorwürfen nicht um Logik oder Kohärenz, schreibt die ägyptisch-britische Bloggerin Sarah Carr, die seit über 10 Jahren in Ägypten lebt. Das Ziel beider Lager sei, den politischen Gegner zu diskreditieren und jeglichen Anspruch auf Legitimität zu dekonstruieren. Der Vorwurf der Zusammenarbeit mit äußeren Mächten funktioniere dabei in Ägypten immer.
Unversöhnliche Versionen
In diesem hysterischen Klima der zugespitzten Konfrontation geht es beiden Lagern vor allem darum, Versionen zu verbreiten, die den eigenen Machtanspruch rechtfertigen. Dieser Kampf um Deutungen schließt die beiden blutigsten Gewaltausbrüche der letzten Wochen mit ein: Die rund 80 Toten, welche in den frühen Morgenstunden des 27.Juli nahe des Sit-Ins der Muslimbrüder in Nasr City durch scharfe Schüsse der Sicherheitskräfte starben und jene 51 Toten, welche am 08.Juli vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde auf dieselbe Weise ums Leben kamen.
Der Graben zwischen den Versionen beider Seiten könnte nicht größer sein. Die Muslimbrüder sprechen von einem gezielten Angriff der Armee auf ihre Mitglieder. "Die Armee schoss, um zu töten", sagt Mohamed Al-Beltagy, eine der führenden Persönlichkeiten in der Organisation, der noch nicht verhaftet wurde.
"Die Muslimbrüder haben den Zwischenfall bewusst provoziert, um Sympathien für sich zu erzeugen", sagt dagegen der Innenminister der neuen Regierung, General Mohamed Ibrahim. Eine unabhängige Untersuchungskommission der beiden Vorfälle gab es nicht und wurde auch nur von wenigen Politikern gefordert. Sie wäre auch schwierig aus dem gegenwärtigen Justizapparat zusammenzustellen, in dem viele Juristen nach wie vor dem alten Regime und damit in diesen Tagen der Armee nahestehen.
Human Rights Watch: "80% wurden Opfer von Scharfschützen"
Reporter der britischen Zeitung The Guardian haben versucht, die Ereignisse vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde am frühen Morgen des 08.07. zu rekonstruieren und dafür Videomaterial ausgewertet und mit 31 Augenzeugen und Ärzten vor Ort gesprochen.
In dem Material, welches den Reportern zur Verfügung stand, finden sich keine Hinweise für die Version der Armee, eine Gruppe von 15 bewaffneten Motorradfahrern hätte das Hauptquartier der Garde angreifen wollen. Der Guardian folgert, in jener Nacht spielte sich ein "koordinierten Angriff der Sicherheitskräfte" auf mehrheitlich unbewaffnete Demonstranten ab.
Auch Human Rights Watch wertete Videomaterial aus und sprach mit Augenzeugen und Ärzten vor Ort, um den Ablauf der Ereignisse in der Nacht des 27 Juli in Nasr City zu untersuchen, in deren Folge rund 80 Anhänger Morsi durch Schüsse der Sicherheitskräfte ums Leben kamen.
Die Rekonstruktionen von HRW ergeben, dass Pro-Morsi-Demonstranten am späten Abend das Sit-In in Nasr City verließen und sich den Sicherheitskräften und Gegendemonstranten nahe der 6.Oktober-Brücke annäherten. Eine Straßenschlacht entbrannte. Ungefähr zwei Stunden nach Ausbruch der Straßenschlacht sollen die ersten scharfen Schüsse gefallen sein, die laut Augenzeugen aus einer erhöhten Position abgegeben wurden. Ärzte vor Ort gaben an, dass ein großer Teil der Opfer von Schüssen in den Kopf, den Nacken oder die Brust getroffen wurde. Ein am Sit-In tätiger Arzt sagte gegenüber HRW:
Die Art der Verletzungen ist völlig gegensätzlich zu den Verletzungen, die wir am 08.07. am Hauptquartier der Republikanischen Garde hatten. Dort hatten wir es mit Einschusswunden zu tun, die auf wahlloses Schießen hindeuten. Dieses Mal sieht es so aus, als wären 80% der Opfer von Scharfschützen getroffen worden.
Die Armee schwimmt auf einer Popularitätswelle
Die meisten ägyptischen Medien sprachen in Folge der Ereignisse von "Zusammenstößen" zwischen den Muslimbrüdern und den Sicherheitskräften, nicht etwa von einem "Massaker", wie es in vielen westlichen Medien zu lesen war. "Zusammenstöße" sind die Ägypter aus den letzten beiden Jahren gewöhnt. Doch selbst wenn ägyptische Medien das Ereignisse jener beiden Nächte weniger vage benannt hätten: An der Popularität der Armee in diesen Tagen hätte dies womöglich wenig geändert.
Schon nach dem Vorfall vor dem Hauptquartier der Republikaníschen Garde haben manche Gegner der Muslimbrüder eher bedauert, dass die Armee nicht noch brutaler vorgegangen ist. Eine Dozentin für Soziologie an der Cairo University sagt:
Das Problem war, dass die Armee nicht gleich alle umgebracht hat. Sie hätten diese Brutstätte des Terrors gleich auslöschen sollen.
Die extrem polarisierte Situation im Lande weckt den Anschein von zwei ähnlich großen Lagern, welche sich gegenüber stehen. Doch vieles deutet darauf hin, dass die Generäle auch deshalb so brutal vorgehen, weil die Armee zur Zeit eine beispiellose Unterstützung genießt. Auch die Grassroots- Aktivisten der Tamarod-Kampage haben dazu aufgefordert am 26.Juli auf die Straße zu gehen und Al-Sisi sein gefordertes "Mandat gegen den Terrorismus" zu geben.
Fern scheinen die Tage vor etwas mehr als einem Jahr, in denen eine Mehrheit der Gesellschaft einen "Rückzug der Armee in die Kasernen" forderte.
Eine Umfrage des ägyptischen Meinungsforschungsintituts Baseera unter 2.300 Befragten gibt die Sympathien für die Pro-Morsi Demonstranten mit nur 20 % der Befragten an. 71% sollen laut dieser Umfrage nicht mit den Muslimbrüdern sympathisieren.
"Armee und Muslimbrüder setzen Gewalt aus taktischem Kalkül ein"
Der Menschenrechtsaktivist Mohamed Abdel Salam geht davon aus, dass Armee wie Muslimbrüder ein Maß an Gewalt ganz bewusst aus taktischem Kalkül einsetzen. "Eigentlich hat die Armee kein Recht das politische Leben zu beherrschen, so wie sie es zur Zeit tut. Also spricht sie von der terroristischen Bedrohung, vor derer sie die Bevölkerung schützen will. Um diese Bedrohung glaubhaft werden zu lassen, muss es zu Zusammenstößen im Lande kommen." (Der Fehler der Tamarod)
Etliche ägyptische Journalisten waren sich in der Vermutung einig, die Sicherheitskräfte ließen Zusammenstöße zwischen den beiden Lagern eskalieren, anstatt von Beginn an einzugreifen (ungefähr in der Mitte des Textes). Laut Abdel Salam kommt auch den Muslimbrüdern die Gewalt nicht ungelegen.
Die Bewegung interessiert sich für Geschichtsschreibung. Sie will die Opferrolle an die nächste Generation weitergeben. Wir wurden aus dem Amt geputscht, wir wurden ins Gefängnis geworfen, wir wurden getötet. Die Muslimbrüder brauchen Opfer in den eigenen Reihen, um dieses Narrativ zu pflegen.
Die Agitation der Führungsköpfe unter den Muslimbrüdern
Es gibt hinreichend stichhaltige Hinweise dafür, dass die Führer der Organisation nicht nur auf friedliche Massenproteste setzen, sondern durch ihre Agitation die Gewaltbereitschaft unter den Anhängern steigerten. Einer der Führungsköpfe der Organisation, Mohamed al Beltagy, erklärte wenige Stunden vor dem Sturz Morsis, als sich das Eingreifen des Militärs bereits abzeichnete, "die Zeit für den Martyrertod sei nun gekommen."
Das geistliche Oberhaupt der Organisation, Mohamed Badie, sagte in einer aufgepeitschten Rede am Freitag nach Morsis Sturz vor Anhängern in Nasr City: "Wir werden Morsi zurückbringen, unsere Seelen für ihn opfern!" In der folgenden Nacht kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern, bei denen landesweit 30 Menschen starben.
Einen Tag später sprach Safwat Hegazy, ein weiteres hochrangiges Mitglied der Organisation, gegenüber ägyptischen Medien von "großen eskalativen Maßnahmen", welche in Vorbereitung seien.
Zudem sind in einer Reihe von Zusammenstößen und Angriffen in verschiedenen Landesteilen Kopten zum Opfer von Islamisten geworden. Im oberägyptischen Minya sollen Islamisten die Häuser von Kopten markiert haben und ihnen mit Angriffen gedroht haben, sollten sie sich an Demonstrationen zugunsten der neuen Regierung beteiligen.
Darüberhinaus kursieren Gerüchte, Mitglieder der Muslimbrüder würden Anhänger, die das Sit-In verlassen wollen, einschüchtern und mit dem Tode bedrohen. Fotos von Pro-Morsi-Demonstranten, die angeblich von eigenen Leuten zu Tode gefoltert wurden, zirkulieren in den sozialen Netzwerken.
Mohamed Abdel Salam sagt, die Bewegung müsse sich von innen heraus reformieren und sich von der gegenwärtigen Führungsriege befreien. Dazu sei ein Dialog mit der Jugend der Muslimbrüder nötig. Viele aus der Jugend der Organisation haben sich in den frühen Tagen des Aufstandes gegen Mubarak dem Demonstranten auf dem Tahrir-Platz angeschlossen - weit bevor die Führungsriege der Organisation dazu aufrief.
Wider jede Form von Gewalt und Diktatur
Im polarisierten Klima dieses ägyptischen Sommers drohen die Stimmen jener unterzugehen, welche weder die Rückkehr der Armee auf die politische Bühne begrüßen, noch die polarisierende Politik der Muslimbrüder verteidigen.
Doch es gibt sie, auch wenn sie auf den ersten Blick wie ein skurilles Sammelsurium wirken, welches die entgegengesetzten Enden der politischen Landschaft Ägyptens umfasst.
Linke Gruppen wie die "Revolutionary Socialists", die Aktivisten der Jugendbewegung 6.April und Gewerkschaften sind ebenso darunter wie Salafisten, welche die Muslimbrüder durch ihren Versuch der Machtkonzentration verprellt haben.
Mittlerweile mahnen auch prominentere Stimmen der ägyptischen Meinungslandschaft den Graben im Lande nicht noch tiefer werden zu lassen. Der beliebte Komiker Bassam Youssef, der bis zum Sturz Morsis ein unermüdlicher Kritiker der Muslimbrüder und der Politik Morsis war, gehört dazu.
Nicht wenige westliche Beobachter sind nach dem Eingreifen des Militärs und den Massakern an den Morsi-Anhängern dem umkehrschlußartigen Reflex erlegen, die Muslimbrüder als Garanten für eine demokratische Entwicklung am Nil zu sehen.
Dies ist ein Trugschluss. Die autoritäre Kaderorganisation der Muslimbrüder ist weder demokratisch im Inneren, noch hat ihre Führungsriege in den vergangenen 13 Monaten zur weiteren Demokratisierung des Landes beigetragen. Die Muslimbrüder bleiben eine Organisation, die zwischen Ideologie und machtpolitischem Pragmatismus schwankt und ein ambivalentes Verhältnis zu politisch motivierter Gewalt an den Tag legt.
Wer in diesen Tagen auf die Brüder setzt, lässt jene im Stich, die glaubwürdiger für Demokratie in Ägypten eintreten, auch wenn deren Stimmen in der Hysterie dieser Tage nicht so laut hörbar sind. Die Journalistin Rana Allam schreibt: "In diesen Tagen wird man von der einen Seite als 'Ungläubiger' und von der anderen als 'Verräter' bezeichnet."
Warum sind die Ägypter wieder einmal in eine Ecke gedrängt, in denen sie nur die Wahl zwischen zwei schlechten Alternativen haben?"
Es gibt in Ägypten immer jene Minderheit, die sich nicht an die Seite von jedweder Form von Gewalt und Diktatur stellen will. Auf diejenigen wird das Land in seinem weitergehenden Kampf für Demokratie zählen müssen.
Mohamed Abdal Salam