Wer wird die Arche bauen?

Seite 2: Plädoyer der Anklage: Pessimismus des Intellekts

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1. Abschied vom Holozän

Unsere Erde, unsere gute, alte Erde, die in den letzten 12.000 Jahren unsere Heimat war, existiert nicht mehr, auch wenn bisher noch keine Zeitung in Nordamerika oder Europa ihren wissenschaftlichen Nachruf gedruckt hat.

Letzten Februar, während Baukräne die Außenverkleidungen des 141. Stockwerks des Burj Dubai Tower (der jetzt doppelt so hoch ist wie das Empire State Building) in die Höhe hievten, enthüllte die Stratigraphie-Kommission der Geological Society of London das neueste und oberste Stockwerk der geologischen Säule.

Die London Society ist die älteste geowissenschaftliche Vereinigung der Welt und wurde im Jahr 1808 gegründet. Ihre Kommission agiert quasi als Kardinalsversammlung für Entscheidungen im Hinblick auf die geologische Zeitskala. Stratigraphen bringen die Geschichte unserer Erde, wie wir sie durch Analyse der unterschiedlichen Gesteinsschichten nachvollziehen können, in eine Abfolge von Äonen, Ären, Perioden und Epochen, deren Abfolgen durch Massensterben, Artbildungsprozessen und/oder plötzlichen Veränderungen der Erdatmosphäre gekennzeichnet sind (die sog."Golden Spikes").

In der Geologie, genau wie in der Biologie und Geschichte, ist die Periodisierung eine komplexe, kontroverse Kunst, und der erbittertste Streit unter britischen Wissenschaftlern im neunzehnten Jahrhundert, noch heute bekannt als die "Great Devonian Controversy", wurde über konkurrierende Interpretationen der Vorkommen walisischer Grauwacken und englischer Old-Red-Sandsteine ausgetragen.

Die Geowissenschaft setzt folglich außerordentlich strenge Maßstäbe für die Anerkennung neuer geologischer Unterteilungen. Obwohl die Idee des "Anthropozäns" - definiert durch das Auftreten der urban-industriellen Gesellschaft als geologischer Faktor - bereits seit langem in der Literatur ihre Kreise zieht, haben die Stratigraphen ihre Berechtigung bisher niemals anerkannt.

Zumindest was die London Society angeht, hat sich diese Position nun geändert. Die Frage "Leben wir derzeit im Anthropozän?" wurde von den 21 Mitgliedern der Kommission einstimmig bejaht. Sie liefern überzeugende Beweise dafür, dass das Holozän, dieser zwischeneiszeitliche Zeitraum mit ungewöhnlich stabilen Klimaverhältnissen, die die rasche Entwicklung landwirtschaftlicher und urbaner Zivilisation ermöglichten, zum Ende gekommen und die Erde in "einen stratigraphischen Abschnitt eingetreten ist, für den in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung zu finden ist". Neben dem Anstieg der Produktion von Treibhausgasen spielen für die Stratigraphen landschaftliche Veränderungen durch den Menschen, die "mittlerweile die Auswirkungen der natürlichen Sedimentproduktion [pro Jahr] um eine erhebliche Größenordnung übertreffen", die verhängnisvolle Übersäuerung der Ozeane und die stetige Zerstörung von Biota eine Rolle.

Laut ihren Erläuterungen ist dieses neue Zeitalter sowohl durch die zunehmende Erwärmung (deren eheste Entsprechung wohl die als Paläozän/Eozän-Grenze bekannte Katastrophe vor 56 Millionen Jahren sein dürfte) als auch durch die für die Zukunft erwartete völlige Instabilität der Umgebungsbedingungen gekennzeichnet. Ganz nüchtern ausgedrückt, warnen sie davor, dass "die Kombination von Artensterben, globaler Artenwanderungen und der weit verbreiteten Verdrängung natürlicher Vegetation durch landwirtschaftliche Monokulturen ein unmissverständliches biostratigraphisches Signal unserer Zeit darstellt. Diese Auswirkungen sind bleibend, da die zukünftige Entwicklung auf den überlebenden (und häufig anthropogen verschobenen) Beständen aufbaut." Mit anderen Worten: Die Evolution selbst wurde in eine neue Bahn gezwungen.

2. Spontane CO2-Reduktion?

Die Anerkennung des Anthropozäns durch die Kommission fällt mit zunehmenden wissenschaftlichen Debatten über den im letzten Jahr vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC; Zwischenstaatlicher Ausschuss für Klimaänderungen) veröffentlichten 4. Klimabericht zusammen.

Das IPCC ist damit betraut, die mögliche Reichweite von Klimaveränderungen zu analysieren und angemessene Zielwerte für die Reduzierung von Emissionen festzulegen. Die wichtigsten Basisdaten umfassen Einschätzungen der "Klimasensitivität" angesichts steigender Treibhausgasemissionen sowie sozioökonomische Tableaus, die den Einsatz unterschiedlicher Energieformen und folglich unterschiedliche Emissionsentwicklungen für die Zukunft gegenüberstellen. Eine überwältigende Anzahl erfahrener Forscher, einschließlich wichtiger Mitglieder der IPCC-eigenen Arbeitsgruppen, hat jedoch kürzlich ihr Unbehagen bzw. ihre Ablehnung der Bewertungsmethoden zum Ausdruck gebracht, die dem 4. Klimabericht zugrunde liegen und laut Vorwurf zahlreicher Forscher zu optimistische geophysikalische und soziale Prognosen ergeben.

Der berühmteste Gegner ist James Hansen vom Godard Laboratory der NASA. Der Paul Revere der Erderwärmung, der den US-Kongress zum ersten Mal in einer legendären Anhörung im Jahr 1988 vor den Gefahren der Treibhausgase warnte, kehrte in diesem Jahr mit der beunruhigenden Nachricht nach Washington zurück, das IPCC habe, durch sein Versäumnis, entscheidende Rückkopplungen im Erdsystem zu parametrisieren, einen viel zu großen Spielraum für mögliche Kohlenstoffemissionen in der Zukunft gelassen. Im Gegensatz zu der vom IPCC empfohlenen Grenze von 450 ppm Kohlendioxid fand sein Forschungsteam überzeugende paläoklimatische Beweise dafür, dass der sichere Grenzwert bei höchstens 350 ppm liegt.

Die "erstaunliche Konsequenz" dieser neuen Erkenntnisse über die Klimasensitivität besteht darin, dass "das so oft genannte Ziel, die Erderwärmung unter zwei Grad Celsius zu halten, statt zur Rettung unserer Erde zu einer globalen Katastrophe führen wird." Besonders beunruhigend ist der Gedanke, dass wir, da der derzeitige Wert bei rund 385 ppm liegt, den berühmten "Tipping Point" bereits überschritten haben könnten. Hansen hat daher eine wahre Armada idealistischer Wissenschaftler und Umweltaktivisten, zu denen unter anderem Al Gore und Bill McKibbin gehören, zusammengetrommelt, um unsere Erde mit Hilfe einer Umweltsteuer zu retten. Diese könnte die Treibhausgaskonzentrationen bis 2015 auf den Stand der Vor-Busch-Ära zurückführen.

Ich beschäftige mich in meiner Freizeit zwar viel mit geowissenschaftlichen Themen, lese gern in der entsprechenden Fachliteratur und tausche mich gelegentlich auch mit befreundeten Geophysikern vom Lamont-Doherty aus, bin jedoch nicht qualifiziert, mich zur Hansen-Debatte zu äußern oder zu mutmaßen, welche Einstellung des planetaren Thermostats die Erde retten könnte. Hingegen bin ich der festen Überzeugung, dass jeder, der sich mit Sozialwissenschaften beschäftigt oder einfach aufmerksam die aktuellen Makrotrends verfolgt, sich selbstbewusst in die Diskussion über den zweiten, sehr kontroversen Eckstein des 4. Klimaberichts einschalten sollte: die darin enthaltenen sozioökonomischen Prognosen und das, was wir das "politische Unterbewusstsein" nennen wollen.

Die aktuellen Szenarien wurden vom IPCC im Jahr 2000 erarbeitet und sollen zukünftige weltweite Emissionswerte auf der Grundlage verschiedener "Storylines" im Hinblick auf Bevölkerungswachstum sowie technologische und wirtschaftliche Entwicklungen simulieren. Die Hauptszenarien, die A1-Familie, die B2 und so weiter, sind politischen Entscheidungsträgern und Umweltaktivisten bekannt, von den Wissenschaftlern einmal abgesehen, haben jedoch die Wenigsten auch wirklich das Kleingedruckte des Berichts gelesen, insbesondere die kühne Annahme des IPCC, höhere Energieeffizienz werde ein "automatisches" Nebenprodukt der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung sein. So gehen alle Szenarien, selbst die Varianten, in denen "alles bleibt, wie gehabt", davon aus, dass fast 60 Prozent einer zukünftigen Reduktion von Kohlenstoffemissionen unabhängig von expliziten Umweltmaßnahmen erreicht werden können.

Das Panel setzt also alles, einschließlich unseres Planeten, auf eine Karte und hofft auf eine marktgesteuerte Entwicklung in Richtung einer Weltwirtschaft jenseits der Emissionsproblematik: ein Prozess, der nicht nur internationale Emissionslimits und CO2-Handel erfordert, sondern auch die Selbstverpflichtung der Unternehmen zum Einsatz von Technologien voraussetzt, für die es derzeit kaum Prototypen gibt, wie z. B. CO2-Abscheidung, Wasserstoffsysteme und andere alternative Antriebssysteme oder Biotreibstoffe auf Zellulosebasis. "In vielen SRES-Szenarien [des IPPC], die die zukünftige Entwicklung illustrieren sollen, übersteigt der Einsatz emissionsfreier Energieversorgungssysteme die Größe des globalen Energiesystems von 1990", betonen die Autoren des jüngsten Meilensteinberichts von SCOPE zum Thema Der globale Kohlenstoffkreislauf (2004).

Übereinkommen vom Typ Kyoto und die Kohlenstoffmärkte sollen, in Analogie zur keynesianischen "Ankurbelung der Wirtschaft", die Lücke zwischen der spontanen CO2-Reduktion und den von jedem Szenarium vorausgesetzten Emissionszielen füllen. Auch wenn das IPCC dies nicht ausdrücklich formuliert, geht es in seinen Reduktionszielen doch notwendigerweise davon aus, dass die Einnahmen, die durch höhere Preise für fossile Brennstoffe erzielt werden, innerhalb der nächsten Generation effizient in Technologien zur Förderung erneuerbarer Energie investiert und nicht an riesige Wolkenkratzer, Asset-Bubbles und Mega-Ausschüttungen für Aktionäre verschwendet werden.

Laut Schätzungen der Internationalen Energieagentur wird es insgesamt rund 45 Billionen US-Dollar kosten, den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2050 zu halbieren. Ohne den wichtigen Quotienten des "automatischen" Fortschritts im Bereich Energieeffizienz wird dies jedoch niemals möglich sein, was die Ziele des IPPC in unerreichbare Ferne rückt. Im schlimmsten Fall (der einfachen Hochrechnung auf der Grundlage der aktuellen Energienutzung), könnten sich die CO2-Emissionen bis Mitte des Jahrhunderts leicht verdreifachen.

In einer der letzten Ausgaben von Nature wiesen Kritiker auf die kümmerlichen Fortschritte des letzten (man kann schon sagen "verlorenen") Jahrzehnts hin, um deutlich zu machen, dass die Grundannahmen des IPPC in Bezug auf Märkte und Technologien wenig mehr als kühnes Wunschdenken sind. Kaum überraschen kann die Tatsache, dass sich die "freiwillige" Verpflichtung der Bush-Regierung zu einer Reduktion des CO2-Ausstoßes um 18 Prozent bis 2012 als schlechter Scherz erwiesen hat. In Europa kam es unterdessen Anfang 2008 trotz der Einführung des von der Europäischen Union so hoch gelobten Cap-and-Trade-Systems vor drei Jahren zu einem (in einigen Sektoren dramatischen) Anstieg der CO2-Emissionen.

Auch gab es in den letzten Jahren nur wenig Hinweise auf einen automatischen Fortschritt im Bereich Energieeffizienz, der aber für die IPCC-Szenarien eine unabdingbare Voraussetzung darstellt. Ein Großteil dessen, was die Szenarien als Effizienzgewinn durch neue Technologien darstellen, ist in Wahrheit nur das Ergebnis der Auslagerung von Schwerindustrien in den Vereinigten Staaten, in Europa und den ehemaligen Sowjetstaaten. Natürlich wird durch die Verlagerung energieintensiver Produktionsprozesse nach Ostasien die CO2-Bilanz einiger OECD-Länder aufpoliert, doch sollten wir Deindustrialisierung nicht mit einer spontanen CO2-Reduktion verwechseln. Die meisten Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Energieintensität seit dem Jahr 2000 eher gestiegen ist, d. h. die CO2-Emissionen sind weltweit ebenso stark angestiegen wie die Energienutzung, wenn nicht sogar leicht stärker.

Zudem ist das Kohlenstoff-Budget des IPCC bereits überschritten. Ende September berichtete das Global Carbon Project, das über die Entwicklungen in diesem Bereich Buch führt, dass die Emissionen schneller ansteigen als selbst in den pessimistischsten Szenarien des IPPC angenommen. Zwischen 2000 und 2007 stieg der Ausstoß von Kohlendioxid jährlich um 3,5 Prozent, die Prognosen des IPCC gingen dagegen nur von 2,7 Prozent aus. Während der 1990er Jahre hatte dieser Prozentsatz noch bei 0,09 gelegen. Mit anderen Worten: Wir bewegen uns bereits jetzt nicht mehr im Rahmen der IPCC-Grenzen und für diesen unvorhergesehenen Anstieg der Treibhausgasemissionen könnte zu großen Teilen die Kohlenutzung verantwortlich sein.

Die Kohleproduktion hat im letzten Jahrzehnt eine tragische Renaissance erlebt, so dass der Albtraum des 19. Jahrhunderts jetzt auch das 21. Jahrhundert heimsucht. In China schuften fünf Millionen Bergbauarbeiter unter lebensgefährlichen Bedingungen, um den umweltfeindlichen Rohstoff zu gewinnen, der es Beijing ermöglicht, im Schnitt jede Woche ein neues Kohlekraftwerk in Betrieb zu nehmen. Aber Kohle boomt ebenso in Europa (für die nächsten fünf Jahre sind 50 neue Kohlekraftwerke geplant) und Nordamerika (wo nicht weniger als 200 neue Kraftwerke in Planung sind). In Großbritannien wird es mit Kingsnorth einen Kohlekraftwerk-Riesen geben, dessen jährlicher CO2-Ausstoß die Emissionen von 30 Entwicklungsländern übersteigt. Ein ähnlich tragisches Beispiel ist ein geplantes Mega-Kraftwerk in West Virginia mit einem CO2-Ausstoß, der den Abgasen von einer Million Autos entspricht.

Wissenschaftler wie Hansen und Reformer wie Al Gore, die davon überzeugt sind, dass das Überleben der Menschheit von einer drastischen und unmittelbaren Reduktion der CO2-Emissionen abhängt, werden in den Trendprognosen wenig Tröstung finden. Im Rahmen einer beeindruckenden Studie über Die Zukunft der Kohle, die im letzten Jahr veröffentlicht wurde, kamen Ingenieure des MIT zu dem Schluss, dass die Nutzung von Kohle im Rahmen jedes denkbaren Szenariums zunehmen wird, selbst angesichts hoher Umweltsteuern. Investitionen in die Technologie der CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS, Carbon Capture and Sequestration) sind überdies "völlig unzureichend", so dass CCS, immer vorausgesetzt, diese Technologie ist in der Praxis umsetzbar, wohl frühestens ab 2030 eine sinnvolle Alternative für die allgemeine Energieversorgung darstellt.

In den Vereinigten Staaten hat die jüngste "Umweltgesetzgebung" der Bush-Regierung nur einen "perversen Anreiz" für die Energieversorger geschaffen, weitere Kohlekraftwerke zu bauen, in der "Annahme, dass die Emissionen dieser Kraftwerke von zukünftigen CO2-Bestimmungen "ausgenommen" und ihnen freie CO2-Kontingente zugesprochen würden." Inzwischen hat ein Konsortium von Kohleproduzenten, Kohlekraftwerken und Eisenbahnbetreibern, die sich selbst die American Coalition for Clean Coal Electricity nennen, im letzten Wahlzyklus 40 Millionen US-Dollar ausgegeben, um sicherzustellen, dass beide Präsidentschaftskandidaten sich einmütig über die Vorzüge des zwar umweltfeindlichsten, aber günstigsten Brennstoffs auslassen.

Vor allem aufgrund der scheinbar unverwüstlichen Popularität der Kohle, eines fossilen Brennstoffs, der nachweislich noch Vorräte für die nächsten 200 Jahre liefert, ist das Pew Center on Global Climate Change der Ansicht, dass der "Kohlenstoffgehalt pro Energieeinheit in Zukunft wahrscheinlich noch ansteigen wird." So hatte das U.S. Energy Department vor dem Zusammenbruch der Wirtschaft in der Tat im Verlauf der nächsten Generation einen Anstieg der nationalen Energieproduktion um mindestens 20 Prozent prognostiziert. Global gesehen soll laut Schätzungen der Gesamtverbrauch fossiler Brennstoffe um 55 Prozent ansteigen. Dabei sollen sich die internationalen Ölexporte volumenmäßig verdoppeln.

Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, das seine eigene Studie über die Zielsetzungen für nachhaltige Energien durchgeführt hat, weist darauf hin, dass es "bis 2050 einer weltweiten Reduktion der Treibhausgasemissionen um 50 Prozent im Vergleich zum Stand von 1990" bedarf, um die Menschheit aus der Gefahrenzone einer galoppierenden Erwärmung (die in der Regel als Temperaturanstieg um mehr als zwei Grad innerhalb dieses Jahrhunderts definiert ist) zu retten. Stattdessen werden die Emissionen jedoch laut Prognose der Internationalen Energieagentur aller Wahrscheinlichkeit nach über das nächste halbe Jahrhundert um fast 100 Prozent ansteigen. Damit hätten wir genügend Treibhausgase produziert, um auf einen Schlag gleich mehrere der kritischen Tipping Points zu passieren.

3. Eine grüne Rezession

Die derzeitige Weltwirtschaftskrise, ein nicht vorhersehbares Ereignis, das die IPCC-Szenaristen in ihren Modellen nicht berücksichtigen, könnte einen kurzzeitigen Aufschub bringen, besonders da die gesunkenen Ölpreise eine Öffnung der Büchse der Pandora in Form einer Nutzung neuer Mega-Kohlenstoffreserven wie Ölsand und -schiefer bisher verzögern. Dieser Rückgang kann jedoch kaum die Zerstörung des Amazonas-Regenwalds aufhalten, da die brasilianischen Bauern bemüht sein werden, ihre Bruttoeinkünfte durch eine erweiterte Produktion zu verteidigen. Da zudem beim Strombedarf weniger Spielraum vorhanden ist als bei der Nutzung von Autos, wird der Anteil von Kohle am CO2-Ausstoß auch weiterhin steigen. Außerdem ist die Kohleproduktion in den Vereinigten Staaten derzeit die einzige zivile Industrie bzw. der einzige Wirtschaftssektor, der eher einstellt als Arbeiter zu entlassen.

Was noch gravierender ist: Die fallenden Preise für fossile Brennstoffe und die gelähmten Kreditmärkte nehmen den Unternehmen jeden Anreiz, in kapitalintensive Wind- und Solaralternativen zu investieren.

An der Wall Street sind die Aktien im Bereich Öko-Energie schneller gefallen als der Markt insgesamt und das Investitionskapital hat sich buchstäblich in Luft aufgelöst, so dass einigen der gefeiertsten Start-ups im Bereich Saubere Energien wie Tesla Motors und Clear Skies Solar jetzt der plötzliche Kindstod droht. Auch die vom designierten Präsidenten Obama befürworteten Steuerentlastungen werden an dieser grünen Rezession wohl kaum etwas ändern können. So sagte ein Venture Capital Manager kürzlich gegenüber der New York Times: "Wenn Erdgas nur noch $ 6 kostet, wirkt Windenergie plötzlich eher zweifelhaft und Solarenergie geradezu unfassbar teuer."

Da liefert also die Wirtschaftskrise dem Bräutigam wieder einmal einen perfekten Vorwand, um die Braut am Altar stehen zu lassen, oder wie sonst ließe sich erklären, dass einige der größten Unternehmen plötzlich nicht mehr zu ihren öffentlichen Bekenntnissen zu erneuerbaren Energien stehen. In den Vereinigten Staaten haben mehrere Mega-Versorger wie Duke Energy und die Public Service Enterprise Group Solar- und Windenergieprojekte auf Eis gelegt, die sie zuvor doch so großartig beworben hatten.

Regierungen und Regierungsparteien waren gleichermaßen bemüht, sich ihrer Kohlenstoff-Schulden zu entledigen. Bei der kanadischen Parlamentswahl im Oktober setzten sich z. B. die Konservativen, unterstützt von den westlichen Öl- und Kohle-Lobbys, erfolgreich gegen die "Grüne Wende" der Liberalen durch, die für eine nationale Umweltsteuer eingetreten waren. Gleichzeitig verabschiedete sich die Bush-Regierung in Washington von einer umfangreichen Initiative zur Förderung der Entwicklung im Bereich CO2-Abscheidung.

Auf der angeblich umweltfreundlicheren Seite des Atlantiks prangerte kürzlich die Regierung Berlusconi, die derzeit im Begriff ist, das italienische Versorgungsnetz von Öl auf Kohle umzustellen, das EU-Ziel einer Emissionsreduktion um 20 Prozent bis zum Jahr 2020 als "unbezahlbares Opfer" an, während die deutsche Regierung laut Financial Times "dem Vorschlag, Unternehmen für ihren Kohlendioxid-Ausstoß zahlen zu lassen, durch die Unterstützung einer fast ausnahmslosen Befreiung für die Industrie einen harten Schlag versetzte. ("Die Prioritäten haben sich durch diese Krise verändert", erklärte der Außenminister sichtlich verlegen.)

Allenthalben herrscht also Pessimismus. Selbst Yvo de Boer, der Leiter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, räumt ein, dass die "meisten vernünftigen Regierungen darauf verzichten werden, [der Industrie] neue Kosten in Form von CO2-Emissionslimits aufzuerlegen", solange die Wirtschaftskrise nicht überwunden ist.

Zwar gibt die Wahl von Barack Obama (und der gleichzeitige Aufstieg einer neuen Machtstruktur in Washington, die vornehmlich mit der IT-Branche in Verbindung gebracht wird) Hoffnung auf eine grüne Variante der "keynesianischen" Antwort auf die Wirtschaftskrise basierend auf staatlichen Investitionen in erneuerbare Energien, Hybridfahrzeuge und ökologisch sinnvolle Arbeitsplätzen, der neue Präsident wird jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit größere Konfrontationen mit den mächtigen Kohle- und Energie-Lobbys vermeiden. Und selbst wenn Obama Washington letztendlich auf den Kurs des Kyoto-Protokolls bringen sollte, würde er damit doch nur auf einen Zug aufspringen, der laut allgemeinem Urteil nicht im Bahnhof ankommen wird und denen, die am dringendsten auf eine Anpassung an klimatische Veränderungen angewiesen sind, nur wenig Hoffnung oder Unterstützung bietet.

Die ökologische Schuld des Nordens

Selbst wenn also unsichtbare Kräfte und visionäre Regierungen das Wirtschaftswachstum wieder in Gang bringen, werden sie doch kaum in der Lage sein, den globalen Thermostat rechtzeitig herunterzudrehen, um eine galoppierende Klimaveränderung zu verhindern. Ebenso wenig kann man davon ausgehen, dass die G-7 oder G-30 dieser Welt erpicht darauf sein werden, das Chaos, das sie angerichtet haben, auch wieder aufzuräumen.

Klimadiplomatie auf der Grundlage des Kyoto-Modells geht davon aus, dass alle großen Akteure, sobald sie den in den IPCC-Berichten enthaltenen Konsens akzeptiert haben, anerkennen werden, dass der Kontrolle über den Treibhauseffekt eine allgemeine und vordringliche Priorität zukommt. Das Phänomen der Erderwärmung hat nur leider nichts mit H.G. Wells" Klassiker War of the Worlds zu tun, in dem die einfallenden Marsmenschen die Menschheit ganz demokratisch ohne Rücksicht auf Klassen- oder Rassenunterschiede zunichte machen. Die Auswirkungen der Klimaveränderung verteilen sich stattdessen auf tragisch ungerechte Weise auf die verschiedenen Regionen und Gesellschaftsschichten und richten den größten Schaden in den ärmsten Ländern an, die über die geringsten Ressourcen für eine nennenswerte Anpassung verfügen. Diese geographische Trennung von Emissionsquelle und Umweltfolgen ist es, die einer vorausschauenden Solidarität im Wege steht.

Wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in seinem Bericht vom letzten Jahr betonte, ist die Erderwärmung vor allem eine Bedrohung für die Armen und Ungeborenen, die "beiden Bevölkerungsgruppen, die nur über sehr geringe bzw. gar keine politische Macht verfügen". Eine koordinierte globale Aktion in ihrem Namen setzt also entweder ein entsprechendes Empowerment dieser Gruppen durch revolutionäre Maßnahmen voraus (ein Szenarium, das vom IPCC nicht berücksichtigt wurde) oder die Wandlung der eigenen Interessen der reichen Länder und Klassen in eine aufgeklärte "Solidarität", die in der Geschichte ihresgleichen sucht.

Aus der Rational Actor-Perspektive scheint die zweite Variante nur dann realistisch, wenn eindeutig bewiesen werden kann, dass es auch für privilegierte Bevölkerungsgruppen keinen "Notausgang" gibt, dass das öffentliche Ansehen im Hinblick auf völkerrechtliche Fragen Einfluss auf die Politik der Schlüsselländer hat und dass die Reduktion von Treibhausgasen ohne größere Einschränkungen im Hinblick auf den Lebensstandard in der nördlichen Hemisphäre erreicht werden kann. Leider ist jedoch keine dieser Voraussetzungen wirklich wahrscheinlich. Zudem mangelt es nicht an renommierten Apologeten wie den Wirtschaftswissenschaftlern William Nordhaus und Robert Mendelsohn von der Yale University, die ohne Skrupel erklären, dass es sinnvoller ist, Bemühungen um eine Emissionsreduktion aufzuschieben, bis die ärmeren Länder reicher und daher besser in der Lage sind, die Kosten selbst zu tragen.

Mit anderen Worten: Wachsende Umweltbedrohungen und sozioökonomische Turbulenzen könnten, anstatt heldenhafte Innovationen und eine internationale Zusammenarbeit zu fördern, die Eliten schlicht und ergreifend dazu veranlassen, sich noch rigoroser vom Rest der Menschheit abzuschotten. In diesem noch unerforschten, aber durchaus nicht unwahrscheinlichen Szenarium würden globale Bemühungen um eine Emissionsreduktion stillschweigend unterbunden (wie es in bestimmtem Umfang bereits getan wurde), um Investitionen in eine selektive Anpassung zu begünstigen, die den Erdenbewohnern der ersten Klasse auch weiterhin einen komfortablen Lebensstil ermöglicht. Das Ziel wäre dann die Schaffung grüner, streng eingezäunter Oasen des permanenten Überflusses auf einem ansonsten öden und unwirtlichen Planeten.

Natürlich gäbe es immer noch Abkommen, CO2-Kredite, Hungerhilfe, humanitäre Klimmzüge und vielleicht sogar die vollständige Umstellung einiger europäischer Städte und kleinerer Länder auf alternative Energien. Die weltweite Anpassung an klimatische Veränderungen jedoch, die Billionen-Dollar-Investitionen in urbane und landwirtschaftliche Infrastrukturen der Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen sowie eine staatlich finanzierte Umsiedlung von Zigmillionen Afrikanern und Asiaten voraussetzen würde, müsste sich notwendigerweise im Hinblick auf die Umverteilung von Einkommen und Macht auf eine Revolution nahezu legendären Ausmaßes gründen. In der Zwischenzeit rasen wir, sehr viel schneller als wir uns vorzustellen wagen, auf den verhängnisvollen Zeitpunkt zu, der um das Jahr 2030 oder auch früher eintreten dürfte und an dem das Zusammenspiel von Klimaveränderungen, Öl- und Wasserverknappung und weiteren 1,5 Milliarden Menschen auf dem Planeten negative Synergien erzeugen wird, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen dürften.

Lassen Sie mich daher diese grundlegende Frage wiederholen: Werden die reichen Länder jemals die politische Bereitschaft und die wirtschaftlichen Mittel aufbringen, um die IPCC-Ziele zu erreichen bzw. um die ärmeren Länder bei der Anpassung an die mittlerweile bereits unausweichliche Erwärmung zu unterstützen, die sich derzeit in den gemächlichen Strömen der Weltmeere ihren Weg bahnt?

Oder etwas anschaulicher ausgedrückt: Werden die Wähler der reichen Nationen endlich ihre derzeitige Bigotterie und ihre wohl gehüteten Grenzen über Bord werfen, um Flüchtlinge aus bereits vorhersehbaren Epizentren von Trockenheit und Desertifikation wie dem Maghreb, Mexiko, Äthiopien und Pakistan bei sich aufzunehmen? Werden die Amerikaner, die geizigste Nation im Hinblick auf die pro Kopf gezahlte Entwicklungshilfe, bereit sein, sich selbst Steuern aufzuerlegen, die eine Umsiedlung von Millionen von Menschen ermöglichen könnten, denen die Vertreibung aus dicht besiedelten Deltaregionen wie Bangladesh aufgrund von Überschwemmungen droht? Und wird die nordamerikanische Agrarindustrie, die höchstwahrscheinlich von einer globalen Erwärmung profitieren wird, freiwillig die Sicherung der Ernährung der Weltbevölkerung zur obersten Priorität machen, anstatt sich weiterhin an ihrer Verkäuferposition zu bereichern?

Marktorientierte Optimisten werden natürlich auf Carbon-Offset-Programme wie den Mechanismus für umweltverträgliche Entwicklung (CDM, Clean Development Mechanism) hinweisen, die gemäß ihren Behauptungen grüne Investitionen in die Dritte Welt gewährleisten. Die Auswirkungen des CDM sind bisher jedoch nicht der Rede wert. Das Programm subventioniert kleinere Wiederaufforstungsinitiativen und den Ablass für Industrieemissionen, anstatt grundlegende Investitionen mit Blick auf die Nutzung fossiler Brennstoffe im häuslichen und städtischen Umfeld zu tätigen.

Zudem zöge der größte Teil der Entwicklungsländer es zweifellos vor, wenn der Norden endlich damit anfinge, das Umweltchaos, das er angerichtet hat, so gut es geht wieder zu bereinigen. Die armen Länder wettern zu Recht gegen die Vorstellung, dass die größte Last im Hinblick auf die Anpassung an anthropozäne Verhältnisse gerade denen zukommen soll, die am wenigsten zu Kohlenstoffemissionen beigetragen und den geringsten Nutzen aus zwei Jahrhunderten industrieller Revolution gezogen haben.

In einer kürzlich veröffentlichten, sehr ernüchternden Studie der Zeitschrift Proceedings of the [U.S.] National Academy of Science hat ein Forschungsteam versucht zu berechnen, welche Umweltkosten seit 1961 für die wirtschaftliche Globalisierung in Form von Abholzung, Klimaveränderung, Überfischung, Ozonabbau, Verlust von Mangroven-Wäldern und landwirtschaftlicher Ausbreitung entstanden sind. Nach Berücksichtigung der relativen Kostenbelastungen kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Wohlstandsländer aufgrund ihrer Aktivitäten für 42 Prozent aller weltweit entstandenen Umweltschäden verantwortlich sind, aber nur 3 Prozent der daraus resultierenden Kosten tragen.

Und noch auf eine weitere Schuld werden die Radikalen aus den Entwicklungsländern zu Recht verweisen. 30 Jahre lang sind die Städte in der Dritten Welt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit gewachsen, ohne dass entsprechende staatliche Investitionen in Infrastrukturen, Wohnungsbau oder Gesundheitswesen erfolgt wären. Dies resultiert teilweise aus den von Diktatoren vereinbarten Auslandskrediten, deren Rückzahlungen vom Internationalen Währungsfonds durchgesetzt wurden, aber auch durch die Reduktion oder Umverteilung staatlicher Ausgaben, die auf die Strukturanpassungsvereinbarungen der Weltbank zurückzuführen sind.

Diese weltweite Hilflosigkeit und soziale Ungerechtigkeit lässt sich in der Tatsache zusammenfassen, dass laut UN-Habitat mehr als eine Milliarde Menschen derzeit in Slums leben und dass sich diese Zahl laut Schätzungen bis 2030 verdoppeln wird. Mindestens ebenso viele fristen ihr Dasein im so genannten informellen Sektor (ein Euphemismus der Wohlstandsländer für Massenarbeitslosigkeit). Aufgrund der demographischen Entwicklung wird sich die Weltbevölkerung in den nächsten 40 Jahren um weitere 3 Milliarden Menschen erhöhen (90 Prozent davon in den ärmsten Städten) und niemand - absolut niemand - hat eine Ahnung, wie sich ein Planet voller Slums mit wachsenden Ernährungs- und Energiekrisen so an die zukünftigen Gegebenheiten anpassen soll, dass er sein reines Überleben sichern kann, von Glück und Menschenwürde gar nicht erst zu reden.

Wenn Ihnen dieser Ausblick über Gebühr apokalyptisch erscheint, denken Sie bitte einmal über die sehr wahrscheinlichen Auswirkungen der Erderwärmung auf die landwirtschaftliche Situation in den tropischen und subtropischen Ländern nach. Einer der Pioniere der Wirtschaftsanalyse, die sich mit der Erderwärmung befassen, William R. Cline vom Petersen Institute, veröffentlichte kürzlich eine Länderstudie über die wahrscheinlichen Auswirkungen der Klimaveränderung auf die landwirtschaftliche Produktion in späteren Jahrzehnten. Durch die Verknüpfung von Klimamodellen mit Ernteprozessen und neo-ricardianischen Ertragsmodellen und unter Berücksichtigung einer CO2-Düngung unterschiedlichen Ausmaßes bietet er den bisher differenziertesten Ausblick auf die mögliche Zukunft unserer Ernährungssituation.

Und der ist düster. Selbst in den optimistischsten Simulationen geht Cline von einem Zusammenbruch der Landwirtschaftssysteme von Pakistan (minus 20 Prozent des derzeitigen Ertrags) und Nordwestindien (minus 30 Prozent) aus. Dasselbe gilt für große Teile des Nahen Ostens, des Maghreb, der Sahel-Zone, Teile von Südafrika sowie die Karibik und Mexiko. Laut Cline droht 29 Entwicklungsländern aufgrund der Erderwärmung der Verlust von mindestens 20 Prozent ihres derzeitigen Ernteertrags, während sich die Landwirtschaft im ohnehin schon reichen Norden im Durchschnitt auf eine Steigerung von 8 Prozent freuen dürfte.

Noch verhängnisvoller macht diesen potenziellen Verlust von landwirtschaftlichen Kapazitäten in der Dritten Welt die Warnung der Vereinten Nationen, dass für die sichere Ernährung einer Weltbevölkerung, wie sie für die Mitte des Jahrhunderts erwartet wird, eine Verdoppelung der Nahrungsmittelproduktion erforderlich ist. Die derzeitige Lebensmittelkrise, die durch den Biotreibstoff-Boom noch verschärft wird, ist nur ein dezenter Vorgeschmack auf das Chaos, das sich schon sehr bald aus dem Zusammenspiel von Ressourcenübernutzung, hartnäckiger Ungerechtigkeit und Klimaveränderungen ergeben dürfte. Es besteht eine reelle Gefahr, dass die humanitäre Solidarität, ebenso wie das Eis der westlichen Antarktis, eines Tages bricht und nichts als einen Scherbenhaufen zurücklässt.