Wer wird die Arche bauen?

Seite 3: Plädoyer der Verteidigung: Optimismus der Fantasie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

5. Das Problem wird zur Lösung

Angesichts der synergistischen Wahrscheinlichkeiten eines überhand nehmenden Bevölkerungswachstums, abrupter Klimaveränderungen, Ölverknappung (und in einigen Regionen Wassermangel), des möglichen Zusammenbruchs ganzer Landwirtschaftssysteme und der geballten Folgen städtischer Verwahrlosung hat sich die akademische Forschung erst mit einiger Verspätung ans Werk gemacht. Zwar haben die deutsche Regierung, CIA und Pentagon ihre jeweiligen Berichte über die Auswirkungen einer durch verschiedene Faktoren begründeten Weltkrise auf die nationale Sicherheit der kommenden Jahrzehnte veröffentlicht, ihre Erkenntnisse wirken jedoch eher einem Hollywood-Streifen entnommen als in irgend einer Form vorhersehend.

Das kann allerdings kaum überraschen, denn wie im letzten Human Development Report der Vereinten Nationen formuliert, "gibt es in der Geschichte keine offensichtlichen Analogien zur Veranschaulichung der Dringlichkeit unserer Klimaproblematik". Auch wenn die Paläoklimatologie den Wissenschaftlern helfen kann, die nichtlinearen Auswirkungen einer Erderwärmung zu berechnen, gibt es keinen historischen Präzedenzfall, auf dessen Grundlage wir besser begreifen könnten, was in den 2050er Jahren geschehen mag, wenn eine Weltbevölkerung von 9 bis 11 Milliarden Menschen mit Klimachaos und der Erschöpfung von fossilen Brennstoffen kämpfen wird. Für die Zukunft unserer Enkel ist nahezu jedes Szenarium denkbar, vom kompletten Zusammenbruch der Zivilisation bis hin zu einem neuen goldenen Zeitalter der Fusionsenergie.

Wir können jedoch sicher sein, dass die Städte zum Ground Zero dieser Entwicklung werden. Zwar haben Waldrodung und Export-Monokulturen eine entscheidende Rolle für den Übergang in eine neue geologische Epoche gespielt, der Hauptfaktor war jedoch der nahezu exponentielle Anstieg der CO2-Emissionen in den urbanen Regionen der nördlichen Hemisphäre. Allein die Heizung und Kühlung der Gebäude in unseren Städten ist für geschätzte 35 bis 45 Prozent des derzeitigen CO2-Ausstoßes verantwortlich, Industrie und Transportwesen in diesen Städten tragen weitere 35 bis 40 Prozent bei. In gewissem Sinne sind es also die Städte, die unsere ökologische Nische, die klimatische Stabilität des Holozäns, zerstören, die ihre Entwicklung in der uns bekannten komplexen Form doch erst möglich machte.

Allerdings ergibt sich hier ein bemerkenswertes Paradoxon:

Die Merkmale, die urbane Umgebungen so umweltfeindlich machen, sind seltsamerweise selbst in den größten Mega-Citys gerade die besonders antiurbanen oder sub-urbanen Merkmale:

  • explosive horizontale Erweiterung in Verbindung mit der Beeinträchtigung oder blanken Zerstörung lebenswichtiger natürlicher Grundlagen (Grundwasserleiter, Wasserscheiden, Gemüsegärten, Wälder, Küstenökosysteme)
  • nachgelagerte Verursachung von Müll und Umweltverschmutzung
  • auf groteske Weise überdimensionierte Umweltwirkungen
  • enorme Wachstumszahlen im Hinblick auf Verkehr und Luftverschmutzung
  • ein von Immobilienspekulanten und Städteplanern diktiertes Stadtmodell
  • fehlende demokratische Kontrolle über Planung, Entwicklung und Steuermittel
  • extreme räumliche Trennung nach Einkommen und/oder Rassenzugehörigkeit
  • unsichere Lebensumgebungen für Kinder, ältere Menschen und Menschen mit besonderen Bedürfnissen
  • Sanierung durch Zwangsräumung
  • Zerfall der traditionellen Kultur einer urbanen Arbeiterklasse
  • Krieg zwischen Polizei und Überlebenskriminalität
  • Wachstum der Slums und informellen Arbeitslosigkeit in den Außenbezirken
  • hohe Kosten für die Bereitstellung von Infrastrukturen für die wachsende Stadtbevölkerung
  • Privatisierung und Militarisierung von öffentlichen Räumen
  • Abschottung der Reichen in sterilisierten Altstadtzentren oder eingezäunten Vorstädten

Die Merkmale hingegen, die wir als "klassisch" urban betrachten, auch im Hinblick auf kleinere Städte und Orte, ergeben in Kombination ein wesentlich positiveres Bild.

  • urbanes Wachstum, das öffentliche Räume und lebenswichtige Natursysteme schützt
  • klar definierte Grenzen zwischen Stadt und geschützter Landschaft
  • Abfall wird recycelt und nicht exportiert
  • strikte Vorschriften für die Nutzung von Kraftfahrzeugen
  • Nutzung von Skaleneffekten bei Transport und Wohnungsbau im Sinne der Umwelt
  • Förderung des Privatverbrauchs anstelle öffentlicher Prunkbauten
  • Sozialisierung von Bedürfnissen und Identität im öffentlichen Raum
  • Zugang von den Vorstädten ins Stadtzentrum unter erschwinglichen Bedingungen
  • Gleichbehandlung bei öffentlichen Diensten
  • umfassender öffentlicher und gemeinnütziger Wohnungsbau
  • Heterogenität im Hinblick auf Rasse und Einkommen bei städtischem Wachstum
  • effiziente progressive Besteuerung und Planung im öffentlichen Interesse
  • hohe politische Mobilisierung und Bürgerbeteiligung
  • Berücksichtigung der Anforderungen von Kindern, Senioren und Menschen mit besonderen Bedürfnissen bei der Planung öffentlicher Räume
  • eine fruchtbare Dialektik zwischen Nachbarschaft und Weltkultur
  • Förderung eines kollektiven Gedächtnisses anstelle von Markensymbolen
  • räumliche Integration von Arbeit, Freizeit und Familienleben

6. Die utopisch-ökologische Kritik der modernen Stadt

Diese klaren Abgrenzungen zwischen "positiven" und "negativen" Merkmalen des Stadtlebens erinnern stark an die berühmten Versuche des letzten Jahrhunderts, einen kanonischen Urbanismus bzw. Antiurbanismus zu definieren: Hier wären zu nennen Lewis Mumford und Jane Jacobs, Frank Lloyd Wright und Walt Disney, Corbusier und das CIAM-Manifest, der "Neue Urbanismus" von Andres Duany und Peter Calthorpe und andere. Niemand braucht jedoch "Städtetheoretiker", die ihre eloquenten Meinungen über die Tugenden und Untugenden der städtischen Umgebungen und der Art und Weise, wie dort soziale Interaktionen gepflegt oder unterbunden werden, zum Besten geben. Vor allem nicht hier in München, wo so viele unterschiedliche Epochen und Bedingungen ins Spiel kommen.

Was bei solchen moralischen Bestandsaufnahmen oft vernachlässigt wird, ist die Verwandtschaft zwischen Sozial- und Umweltverantwortung, zwischen kommunaler Gesinnung und einem umweltfreundlicheren Urbanismus. Ihre gegenseitige Anziehungskraft ist nahezu unausweichlich. Die Bewahrung städtischer Grünflächen und Wasserlandschaften z. B. dient dem Erhalt lebenswichtiger natürlicher Elemente eines urbanen Metabolismus und bietet gleichzeitig ein Freizeit- und Kulturangebot für die breite Masse. Die Reduzierung von Staus in den Vorstädten durch bessere Planung und öffentliche Verkehrsmittel macht aus Hauptverkehrsadern wieder ruhigere Wohngegenden bei gleichzeitiger Reduktion der Treibhausgasemissionen.

Man könnte unzählige Beispiele anführen und sie alle verweisen auf ein einziges Prinzip: dass die Grundlage für eine umweltfreundliche Stadt nicht unbedingt in einem besonders umweltfreundlichen Städtebau oder neuartigen Technologien liegt, sondern viel eher darin, dem allgemeinen Wohlstand eine Priorität gegenüber persönlichem Reichtum einzuräumen. Wie wir alle wissen, bräuchten wir eine ganze Reihe von Planeten, um die gesamte Menschheit in Vorstadthäusern mit zwei Autos und Vorgarten unterzubringen, und diese offenkundige Beschränkung wird gelegentlich herangezogen, um die Unvereinbarkeit endlicher Ressourcen mit steigendem Lebensstandard zu verdeutlichen. In den meisten Städten, gleichgültig ob in reichen oder armen Ländern, wird die potenzielle Umwelteffizienz, die sich aus einer dichten Besiedelung ergibt, völlig außer Acht gelassen. Städte bieten enorme ökologische Möglichkeiten, die bislang noch völlig verkannt und ungenutzt sind.

Unser Planet ist sehr wohl in der Lage, allen seinen Bewohnern ein Heim zu bieten, wenn wir bereit sind, unsere Gesellschaft auf demokratischem Gemeinschaftsdenken statt auf individuellem, privatem Verbrauch aufzubauen. Allgemeiner Wohlstand, der sich in großen Stadtparks, Museen mit freiem Eintritt, Bibliotheken und unbegrenzten Möglichkeiten für zwischenmenschliche Interaktion manifestiert, stellt eine Alternative zu einem hohen Lebensstandard auf der Grundlage einer materiellen, karnevalistischen Geselligkeit dar. Was von den Städtetheoretikern selten beachtet wird, ist die Tatsache, dass Universitätsgelände oft kleine quasi-sozialistische Oasen mit großzügigen Grünflächen sind, die alle Grundvoraussetzungen zum Lernen, für Forschung, Leistung und Schaffenskraft bieten.

Die utopisch-ökologische Kritik der modernen Stadt wurde von Sozialisten und Anarchisten ins Leben gerufen, beginnend mit dem Traum des Gildensozialismus (inspiriert von den bioregionalistischen Ideen von Kropotkin und später Geddes) von Stadtgärten für englische Arbeiter mit neuem Standesbewusstsein und endend mit dem Beschuss des Karl-Marx-Hofs, des berühmtesten Gemeindewohnungsbaus des Roten Wiens, während des österreichischen Februaraufstands 1934. Dazwischen liegen die Erfindung des Kibbuz durch russische und polnische Sozialisten, die modernistischen Sozialwohnungsbauprojekte des Bauhauses und die außerordentliche Debatte über den Urbanismus in der Sowjetunion in den 1920er Jahren.

Diese radikale städtebauliche Fantasie wurde Opfer der tragischen Umstände in den 1930er und 1940er Jahren. Auf der einen Seite steuerte der Stalinismus auf einen in Bezug auf Umfang und Struktur unmenschlichen Monumentalismus in Architektur und Kunst zu, der sich nur wenig von den wagnerianischen Auswüchsen Albert Speers im Dritten Reich unterschied. Auf der anderen Seite vernachlässigte die Sozialdemokratie der Nachkriegszeit die Ideen des alternativen Urbanismus zugunsten einer keynesianischen Massenwohnungsbaupolitik, die sich vor allem auf Skaleneffekte durch Hochhausprojekte auf günstigen Baugrundstücken in den Vororten konzentrierte und damit die traditionelle Arbeiterklasse ihrer städtischen Wurzeln beraubte.

Dennoch bieten die Diskussionen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts über die "sozialistische Stadt" wertvolle Ansätze für eine Betrachtung unserer derzeitigen planetaren Krise. Nehmen wir z. B. die Konstruktivisten. El Lissitzy, Melnikov, Leonidov, Golosov und die Vesnin-Brüder sind heute vielleicht nicht mehr allgemein bekannt, nichtsdestotrotz waren es brillante sozialistische Designer, die zwar durch die städtische Misere der jungen Sowjetrepublik und einen dramatischen Mangel an staatlichen Investitionen eingeschränkt waren, aber dennoch Vorschläge unterbreiteten, um das eingeengte Leben in Stadtwohnungen durch großartig konzipierte Arbeiterclubs, Volkstheater und Sportkomplexe aufzulockern.

Eine ihrer Hauptprioritäten war die Emanzipation der Arbeiterfrauen durch die Organisation von Gemeinschaftsküchen, Kindertagesstätten, öffentlichen Bädern und Kooperativen aller Art. Sie stellten sich vor, dass die riesigen fordistischen Fabriken, und eventuell auch Hochhäuser, mit entsprechenden Arbeiterclubs und Freizeitzentren ausgestattet werden sollten, um einen "sozialen Ausgleich" für die neue proletarische Zivilisation zu schaffen, erarbeiteten gleichzeitig aber auch eine praktische Strategie, um den Lebensstandard der armen Arbeiter in den Städten innerhalb der ansonsten recht kargen Umstände etwas zu verbessern.

Angesichts der Dringlichkeit unserer Umweltproblematik könnte dieses Projekt der Konstruktivisten so umgedeutet werden, dass die egalitären Aspekte des Stadtlebens die besten soziologischen und physikalischen Voraussetzungen für Ressourcenschonung und Reduktion des CO2-Ausstoßes bieten. Einzig Bemühungen, die Faktoren der globalen Erderwärmung zu kontrollieren, den allgemeinen Lebensstandard zu erhöhen und Weltarmut zu beseitigen, können die Voraussetzung für eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen oder die Anpassung von Wohnräumen an die Lebensumstände des Anthropozäns bieten. Im wahren Leben, jenseits der simplifizierten Szenarien des IPCC, bedeutet das die Teilnahme am Kampf für eine demokratische Kontrolle über städtische Räume, Kapitalflüsse, Ressourcen und Massenproduktionsmittel.

Meiner Ansicht nach ist die innere Krise der heutigen Umweltpolitik genau darin begründet, dass es zu wenige mutige Konzepte gibt, die den Herausforderungen Armut, Energie, Biodiversität und Klimaveränderung durch eine ganzheitliche Vision des menschlichen Fortschritts begegnen. Auf Mikroebene hat es natürlich enorme Fortschritte in der Entwicklung alternativer Technologien und im Passivwohnungsbau gegeben, aber Prestigeprojekte in reichen Gemeinden und Ländern können nicht die Welt retten. Die Wohlhabenden können zwar aus einer Vielzahl unterschiedlicher biologisch sinnvoller Lebensentwürfe auswählen, aber was sollte unser letztendliches Ziel sein? Einer Reihe von umweltbewussten Promis die Gelegenheit zu geben, ihren umweltfreundlichen Lebensstil zur Schau zu stellen, oder die Armen in den Städten mit Solarenergie, sanitären Anlagen, Kinderkliniken und öffentlichen Transportmitteln zu versorgen?