"Westliche Demokratie" ist hohl: Reichtum regiert

Seite 3: Zensur im Kanzleramt

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Die massive Zensur blieb jedoch nicht lange geheim. Die Presse berichtete und der Verein Lobbycontrol machte schließlich im Frühjahr 2017 zur Vorstellung des Berichtes öffentlich, welche Sätze gelöscht worden waren - peinlich für die Regierung. Einer der Absätze, der dem Rotstift von Merkels Büro zum Opfer fiel, lautete:

Die Studie liefert somit einen empirischen Beleg für eine 'Krise der Repräsentation'. In Deutschland beteiligen sich Bürgerinnen mit unterschiedlichem Einkommen nicht nur in sehr unterschiedlichem Maß an der Politik, sondern es besteht auch eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen. Damit droht ein sich verstärkender Teufelskreis aus ungleicher Beteiligung und ungleicher Responsivität, bei dem sozial benachteiligte Gruppen merken, dass ihre Anliegen kein Gehör finden und sich deshalb von der Politik abwenden - die sich in der Folge noch stärker an den Interessen der Bessergestellten orientiert.

Der Begriff "Krise der Repräsentation" tauchte ursprünglich an mehreren Stellen des Berichtes auf und wurde überall vom Kanzleramt gelöscht. Es scheint, dass man diese Wahrheit an der Spitze nicht hören wollte, Forschung und Belege hin oder her. Selbst in der 700 Seiten dicken Langfassung des Armuts- und Reichtumsberichts war kein Platz mehr dafür.

Das vierseitige Kapitel "Responsivität der Politik", in dem detailliert dargelegt wird, wie die Regierung die Forderungen von Armen und Reichen höchst ungleich behandelt, wurde auf wenige Sätze zusammengestrichen. Stattdessen ergänzte das Kanzleramt einen eigenen Absatz in gefälligem Marketingdeutsch:

Der Bundesregierung liegt daran, politische Betätigung quer durch die Gesellschaft anzuregen und mit vielen Menschen über die Gestaltung der Lebensverhältnisse in Deutschland ins Gespräch zu kommen. Dazu hat sie in dieser Legislaturperiode u. a. den Bürgerdialog "Gut Leben in Deutschland" geführt. Der Dialogprozess "Arbeiten 4.0" ist ein weiteres Beispiel dafür, mit Bürgern frühzeitig über gesellschaftliche Trends, ihre Konsequenzen und die Erwartungen an die Politik ins Gespräch zu kommen. Auch über den vorliegenden 5. Armuts- und Reichtumsbericht wird ein Dialog mit Wissenschaft und Verbänden geführt.

Kanzleramt

"Ins Gespräch kommen" ist offenbar das Stichwort - was an den berühmten "Dialog" erinnert, den die SED-Führung im Herbst 1989 mitten im politischen Umbruch unbedingt mit ihren Bürgern führen wollte. Nur hatten die schon keine Lust mehr, fühlten sich verschaukelt und nicht ernst genommen. Der "Dialog" erschien ihnen als durchsichtige Simulation einer echten Beteiligung an der Macht.

In der Gegenwart ist manches anders, doch die Beschwichtigungen klingen ähnlich. So heißt es beschönigend in der Kanzleramts-Zensurvariante des Berichts: "Die Einstellungen der Befragten unterschieden sich je nach Einkommen erkennbar, aber nicht fundamental." Deutlich wird bei solcher Sprachartistik die Sorge, dass Meinungsunterschiede zwischen Armen und Reichen ein größeres Thema werden könnten. Um jeden Preis soll offenbar der Eindruck vermieden werden, es gäbe im Land unterschiedliche soziale Klassen mit widersprüchlichen Interessen.

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