Wie Emil und Veit einmal einen unpolitischen Film drehen wollten
Seite 2: Ein Witwer und zwei Kränze
Den Anfang des Films kann man als Gesellschaftssatire verstehen. Wir sehen einen Engel und dann die Regenschirme der trauernden (oder wenigstens zur Beerdigung erschienenen) Gemeinde am Grab der verstorbenen Frau Clausen, während der Pastor mit eintöniger Stimme seine Ansprache über die von der Sense des Todes unerbittlich dahingeraffte Menschenblume herunterleiert und es in Strömen regnet. Die Kamera zeigt uns einen Kranz, den letzten Gruß des Direktoriums der Clausen-Werke, und dann die Füße eines Mannes, der ungeduldig in einer Pfütze auf und ab tritt. Der Pastor sagt etwas vom Schmerz der "getreuen Freunde des Hauses", und wir sehen dazu drei Direktoren, die sich bald als das genaue Gegenteil präsentieren werden. Der Pastor kommt jetzt zu denen, "die dem Herzen der teuren Toten am nächsten standen, die Kinder dieser wahrhaft mütterlichen Frau: die geliebten Söhne, die geliebten Töchter, die nicht weniger geliebten Schwiegerkinder." Dazu schwenkt die Kamera die Verwandtschaft ab und zeigt uns - nach dem von ihnen gekauften Kranz - die geliebten Söhne (Wolfgang und Egert, beide mannhaft), die geliebten Töchter (Bettina und Ottilie, theatralisch weinend) und die geliebten Schwiegerkinder (die eiskalte Paula Clothilde, Wolfgangs Gattin, und Erich Klamroth, verheiratet mit Ottilie, der ungeduldig auf die Uhr schaut).
"Aber selig sind, die da Leid tragen", fährt der Pastor fort, "denn sie sollen getröstet werden." Die Kamera schwenkt dabei zum Werksbesitzer Clausen hinüber, der als einziger von der Familie aufrichtig zu trauern scheint. "Trost und Zuversicht" sind die Stichworte in der Rede des Pastors, auf die hin die Blaskapelle die aufgespannten Regenschirme schließt und den Trauermarsch anstimmt, damit die Sache zu Ende gehen kann. Clausen trauert still, die Töchter schluchzen, die Sargträger lassen die Kiste in die Grube, ein auf den Sarg gelegtes Trauergebinde rutscht vom nassen Deckel und fällt zuerst ins Loch. Bettina, bei Hauptmann eine sexuell frustrierte alte Jungfer mit verwachsenem Körper und im Film auch nicht viel anders, hat einen ihrer hysterischen Anfälle, schreit "Nimm mich mit!" und wird weggeführt, wobei offen bleibt, ob sie sich sonst wirklich mit ins Grab geworfen hätte oder das nur gespielt war.
Der Anfang ist sehr ökonomisch und gut gemacht. Harlan braucht nur wenig Leinwandzeit, um (bis auf ein, zwei Ausnahmen) die wichtigsten Figuren einzuführen, sie treffend zu charakterisieren und anzukündigen, wo die Konfliktlinien verlaufen werden: Clausen gegen sein Direktorium und gegen seine Kinder (biologisch wie angeheiratet), jeweils symbolisiert durch einen Kranz als äußerem Zeichen von bürgerlicher Wohlanständigkeit, Verbundenheit und Mitgefühl. Die Kränze werden sich bald als Platzhalter für hohl gewordene Konventionen erweisen, die edlen Spender als üble Bagage entlarvt werden. Den ersten Minuten konnte sogar Graham Greene etwas abgewinnen, damals als meist gnadenloser Kritiker der Zeitschrift Night and Day tätig. Die Beerdigungsszene, schrieb er (1.7.1937), sei "eine angenehm schonungslose Eröffnung, ein Beisetzungsfries aus tropfenden Regenschirmen und herzlosen Gesichtern". Der Rest des Films erschien ihm wortlastig, und ein Fan von Emil Jannings war er auch nicht. Er vergleicht ihn mit einem Seelöwen, dessen Miene nicht so sehr menschliche Gefühle wie Mitleid, Wut und Entsetzen ausdrückt sondern dessen Äuglein vielmehr mit einer gewissen Begriffsstutzigkeit registrieren, dass sich ein Fisch als Beute nähern könnte.
Die Eröffnungsszene ist tatsächlich vielversprechend, weil sie kein Theaterstück mit Bildern ankündigt, sondern eine mit visuellen Mitteln erzählte Geschichte, in der das Bild nicht Beiwerk zum Dialog ist, sondern in einem Spannungsverhältnis zu diesem steht. Vom Friedhof wird auf ein Ölgemälde der Verstorbenen als junger Frau überblendet, das im Hause Clausen über dem Kaminsims hängt. Davor haben sich die Herren Direktoren versammelt, die nun anzügliche Bemerkungen über den sich verspätenden Clausen machen. Schwiegertochter Clothilde will von Rechtsanwalt Hanefeld wissen, wer den Besitz der Toten erbt, und der Anwalt schluckt seine pikierte Reaktion schnell hinunter, als die Dame die rhetorische Frage stellt, ob er noch Syndikus der Clausen-Werke werden möchte. Klamroth hat nasse Füße und sorgt dafür, dass das kalte Büffet auch ohne seinen Schwiegervater eröffnet wird.
Als Clausen schließlich eintrifft wird rasch klar, dass der gramgebeugte Mann von seiner Familie keine Hilfe zu erwarten hat. Der Schwiegersohn ist ein Schwätzer und ein Egoist. Die Schwiegertochter hat ihr Lorgnon mitgebracht, um die in einer Vitrine verwahrten Schätze besser taxieren zu können. Sohn Wolfgang, von Beruf Professor, ist ein Schwächling und ein schöngeistiger Intellektueller, was im NS-Film ein Charakterfehler ist. Egert ist ein unreifer Jüngling. Die Töchter, Bettina und Ottilie, liefern sich einen Wettstreit, welche am meisten leidet. Das ist alles recht dick aufgetragen und nimmt der fein austarierten Anfangsszene ein wenig von ihrer Wirkung. Das Ganze spielt sich in einem pompösen Dekor ab, als habe jemand das Ziel ausgegeben, die Dialoglastigkeit durch Schauwerte aufzufangen, wie sie nur das Kino bieten kann und kein Theater. Bei Clausens stehen antike Statuen und riesige Büsten herum, an den Wänden hängen Ölgemälde oder es sind Friese in sie eingelassen, Treppen führen empor zu enormen Bücherwänden mit wertvollen Folianten. Das passt vielleicht zu dem großbürgerlichen Verleger in Hauptmanns Stück. Aber zu einem Selfmademan, der vor 20 Jahren noch ein einfacher Schlosser war? Nicht einmal bei einem seine Unsicherheit hinter Angeberei versteckenden Parvenü (der Clausen nicht ist) wäre das glaubhaft. Die Inneneinrichtung wirkt, als wäre sie von einem früheren Drehbuchentwurf übrig geblieben.
Himmlisches Stahlwerk
Harlan wäre nicht Harlan, wenn er nach solchen Verirrungen nicht rasch wieder Kurs nehmen würde. Als die Heuchler gegangen sind steht Clausen vor dem Bild seiner Frau, das er nachdenklich betrachtet. Nach dem vielen Gerede und der etwas grobschlächtigen Satire ist es eine schöne Abwechslung, Jannings dabei zuzusehen, wie er mit sparsamen Mitteln versucht, die Trauer und das Gefühlschaos im Inneren dieses Mannes anschaulich zu machen, der an einem Kreuzweg seines Lebens angekommen ist. Danach tritt Clausen an das Fenster seiner Villa, zieht den Vorhang auf und gibt den Blick auf die rauchenden Schlote des Stahlwerks frei, dessen Sirene er gehört hat. Die Beerdigung endet mit einer Überblendung von den Händen des Erde in das Grab werfenden Pastors auf das Bild der jungen Frau Clausen, die jetzt als Leiche (und alte Frau) im Sarg liegt. Die Trauerfeier endet mit Clausen vor dem Gemälde seiner Gattin, das nun nicht mehr zu sehen ist, weil es durch das Bild des Stahlwerks ersetzt wird. Dort hinter dem Fenster, soll uns das sagen, wartet die Zukunft und die Rettung aus der Seelenpein (und die Jugend in Gestalt einer neuen Frau, wie wir noch erfahren werden). Heute mag das befremdlich wirken, aber Der Herrscher ist ein Film von 1936 und keiner, der uns vor den Folgen des Klimawandels warnen will.
Das ist alles gut überlegt und sorgfältig inszeniert. Bei der Lektüre von Ingrid Buchlohs Verteidigungsschrift muss man den Eindruck haben, dass Der Herrscher eine prinzipiell unpolitische Literaturverfilmung ist, mit einigen von Goebbels verordneten Propagandaeinschüben. Nach einem Film aus einem Guss klingt das gerade nicht. Buchlohs Sicht der Dinge passt zu Frank Noack, der in seinem Jannings-Buch schreibt, Der Herrscher sei "ein Propagandafilm, von dem man nicht so recht sagen kann, für was genau er eigentlich Propaganda betreibt". Wie immer tut man gut daran, sich an den alten Leitspruch von D. H. Lawrence zu halten: "Never trust the teller, trust the tale." Soll heißen: Wie es wirklich war verrät uns der Film und nicht (wie bei Buchloh) Veit Harlan, der nach dem Krieg dieses und jenes über das Zustandekommen seiner Werke zu erzählen wusste. Und der Film selbst spricht eine andere Sprache. Er ist von Anfang bis Ende auf die ideologische Botschaft hin konstruiert. Da ist nichts aufgepfropft.
"Aber es steht geschrieben: Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe", sagt der Pastor am Schluss der Beisetzungszeremonie. "Diese drei. Aber die Liebe ist die größte [Kraft] unter ihnen. Das ist der Trost und die Zuversicht, die wir an diesem Grabe finden, im Glauben an ein ewiges Leben, die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Himmel und die Liebe, von der wir wissen, dass sie im Tode nicht endet, denn die Liebe höret nimmer auf. Amen." Im Hintergrund hören wir Kirchenglocken, die Blaskapelle fängt an zu spielen, darunter mischen sich das Rattern eines Güterzugs und das Warnsignal einer Dampflokomotive. Die Kamera schwenkt von der Kapelle über die Regenschirme hin zur Rauchfahne der Lokomotive, und als sich der Rauch verzieht wird das Stahlwerk sichtbar. Es geht hier weniger um christliche Vorstellungen vom Paradies als vielmehr um den Aufbruch in die "neue Zeit", die im Lied der Hitlerjugend besungen wird ("Uns’re Fahne flattert uns voran,/Uns’re Fahne ist die neue Zeit./Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit!").
Den Pastor (Theodor Loos, einst König Gunther in Die Nibelungen und Josaphat in Metropolis) sehen wir dann beim Leichenschmaus wieder. Auch da ist er es, der die Veranstaltung beendet. Er verabschiedet sich von Clausen, was für die anderen Trauergäste das Zeichen zum Aufbruch ist. Damit verschwinden er, seine Kirchenglocken und das organisierte Christentum aus dem Film, der nur mit christlichen Sentenzen aufmacht, um schrittweise zum Nationalsozialismus überzuleiten, der neuen Religion des Dritten Reichs. Das wird nie direkt ausgesprochen und darum - könnte ich mir denken - war es so wirkungsvoll: weil es einem untergejubelt wird statt einen aufzufordern, der Hakenkreuzfahne nachzulaufen. Ein Vergleich mit Hauptmanns Stück ist aufschlussreich. Pastor Immoos hat seinen letzten Auftritt im fünften Akt. Der Film kann ihn nach der ersten Viertelstunde nicht mehr brauchen.
Clausen, nun mit seiner Trauer um die geliebte Frau allein, hält stumme Zwiesprache mit dem Jugendbildnis seiner Gattin. Inzwischen haben wir bereits erfahren, dass die Beziehung wohl doch nicht die "langjährige wahrhaft ideale Ehegemeinschaft" war wie vom Pastor in seiner Grabrede versichert. Später wird Clausen der Toten die Schuld daran geben, dass die gemeinsamen Kinder so missraten sind und ihr Bild zerstören. Einstweilen tritt er an das Fenster, um mit uns das Stahlwerk zu betrachten. Dort wird er tags darauf Inken Peters kennenlernen und sich alsbald in sie verlieben. Inken ist nicht nur jung und schön, einfühlsam und dem alten Herrn (im Gegensatz zu seinen Kindern) eine echte Stütze, sondern auch eine Angestellte der Clausen-Werke, also Teil der Werksgemeinschaft, die in Der Herrscher stellvertretend für die "Volksgemeinschaft" steht (laut Definition im Brockhaus von 1943 "Ausgang und Ziel der Weltanschauung und Staatsordnung des Nationalsozialismus"). Mit dem Fensterblick auf das von Clausen aufgebaute Werk beginnt die Übertragung der Liebe (vom Pastor als die größte Kraft von allen gepriesen): weg von den Kindern und der toten Frau, hin zu Inken Peters und von da weiter auf die Volksgemeinschaft. Im Prinzip ist das dieselbe Botschaft wie die von Hitlerjunge Quex. Da wird Heini Völker von seinem Vater an die geliebte Hitlerjugend übergeben, wird die Familie durch eine NS-Organisation ersetzt. Der Herrscher ist sehr präzise gearbeitet. Entsprechend genau kann man auch sagen, wofür dieser Film Propaganda betreibt.
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