Wie Emil und Veit einmal einen unpolitischen Film drehen wollten
Seite 3: Den Rohstoff selbst erschaffen
Erich Ebermayer verfasste ein Treatment für den Herrscher, wurde aber bald von Curt J. Braun und Thea von Harbou abgelöst (von ihr stammt auch das Skript zu Murnaus Phantom). Braun veröffentlichte Kriminalromane und war als Drehbuchautor einer jener Vielschreiber, die man gerne mit dabei hatte, wenn routinierte Lösungen für handwerkliche Probleme gefragt waren. Ebermayer hielt es für keine gute Idee, zwei so unterschiedliche Stücke wie die von Bratt und Hauptmann zu kombinieren. Seine Ausbootung erklärte er sich damit, dass Jannings das gespürt habe. Eine andere Interpretation wäre die, dass er ideologisch zu wenig gefestigt war. Mit Thea von Harbou stieß eine Hitler-Verehrerin zu dem Projekt, der es stets gelang (siehe Der alte und der junge König), Worte des Führers und von diesem vertretene Gedankengänge in einem Drehbuch unterzubringen. "Emil Jannings", schreibt Veit Harlan, "nannte Thea von Harbou die ‚Märchentante des deutschen Films’. Er hatte sie sehr gern und beteiligte sie eigentlich an allen seinen Filmen." Auch als Verharmloser war Harlan eine Koryphäe, weshalb man ihm nicht alles glauben sollte. Wenn Clausen über seine Rolle als Wirtschaftsführer spricht klingt es, als habe er vorher die einschlägigen Nazischriften gelesen, angefangen mit dem 25-Punkte-Programm der NSDAP von 1920. Jannings hatte das vermutlich nicht getan, Thea von Harbou aber sehr wohl.
"Der Herrscher", meint Noack, "gilt als Schändung eines literarischen Meisterwerks. Wer das behauptet, sollte zur Strafe das Original lesen." Ich kann mir Schlimmeres vorstellen. Der Kritiker Herbert Ihering (Berliner Börsen-Courier, 17.2.1932) meinte anlässlich der Uraufführung, das Schauspiel sei "eine letzte Zusammenfassung des bürgerlichen Theaters", was ein durchaus zweischneidiges Kompliment ist, aber eben auch ein Kompliment. Noack als Verteidiger von Harlan und Jannings stört sich besonders am "dick aufgetragenen Bildungsbürgertum" (es gibt Verweise auf das Alte Testament und auf Ahriman, den man in einem persischen Nationalepos genauso finden kann wie in Karl Mays Im Reiche des silbernen Löwen) und an einer (zumindest in der gedruckten Version des Stücks nicht existierenden) Autoverfolgungsjagd am Schluss. Thea von Harbou habe das "nicht durchgehen lassen" können. Und weiter: "Eine persönliche Note konnte Harbou in die Fabrik- und Laborszenen einbringen. Da spürte man, dass sie es war, die Metropolis geschrieben hatte. Nach etwa fünfzehn Minuten besucht Matthias Clausen seine Ingenieure. Es zischt und pfeift wie auf einem Schlachtfeld, das Licht flackert bizarr wie in einem Science-Fiction-Film, und Jannings - langer schwarzer Mantel, schwarzer Zylinder - gibt ganz absonderliche Sätze von sich. Irgendetwas will er erfinden, ‚den Rohstoff selbst erschaffen, erzwingen, aus dem Nichts, aus der Retorte, aus dem Genie’. So reden verrückte Wissenschaftler im Horrorfilm."
Ich würde sagen: So reden Nazihelden im NS-Propagandafilm. Clausen will nicht "irgendetwas" erfinden, sondern "den Rohstoff selbst erschaffen". Das ist doch ziemlich deutlich (laut Drehbuch wird gerade ein Kupferersatz gesucht). Aus der Geschichte lässt sich lernen, dass der Handel mit anderen Ländern dem Frieden dient, Rüstungsgüter einmal ausgenommen. Die Nazis waren mehr am Krieg interessiert. Handelsbeziehungen können sich schnell in gefährliche Abhängigkeiten verwandeln, wenn einen die Schlechtigkeit der einen umgebenden Welt zum Angriff zwingt. Das Einmarschieren wird kompliziert, wenn die Panzer kein Benzin mehr haben oder es am Gummi für die Reifen der Militärfahrzeuge fehlt. Die Entwicklung synthetisch herstellbarer Rohstoffe war darum ein wesentlicher Bestandteil der NS-Wirtschaftspolitik.
"Harlan und Jannings", schreibt Ingrid Buchloh, "hatten sich Familienaufzeichnungen der Familie Krupp angesehen, um den Film möglichst authentisch zu gestalten […]." Damit möchte sie uns sagen, dass Der Herrscher nicht als Indoktrinationsfilm konzipiert war, dass Harlan und Jannings Kunst machen wollten und keine Propaganda. "Möglichst authentisch" ist ein Alarmsignal. Die vermeintliche Authentizität war eine Masche. Von Der alte und der junge König über Jud Süß bis Kolberg schoben Goebbels und seine Helfer regelmäßig ihre Version der historischen Wahrheit vor, um den ideologischen Gehalt zu tarnen. Die "historische Wahrheit" ist aber stets ein sehr zeitabhängiges Konstrukt, und weil sich die Botschaft erst aus dem Zusammenspiel zwischen Film und Zuschauer ergibt könnte es auch die pure Propaganda sein, wenn Jannings und die anderen Akteure mit verteilten Rollen aus der Korrespondenz der Krupps oder aus deren jährlichem Geschäftsbericht vorlesen würden. Frau Buchloh ist promovierte Historikerin und müsste das doch wissen.
Weg voller Opfer und Verzicht
Bereits die Entscheidung, Hauptmanns Verleger durch den Chef eines Stahlwerks zu ersetzen, war ein politischer Akt (mit den Gründer- und Patriarchenfiguren des Hauses Krupp als Vorbildern). Wissenschaftler, Erfinder, Ingenieure und Industriemagnaten traten im Dritten Reich in breiter Front auf: im Sachbuch, in der Science Fiction, im Film. Deutsche Helden aus Forschung und Entwicklung waren Bestsellermaterial. Das war die Wiederkehr des Fortschrittsglaubens und der Technikbegeisterung der Weimarer Republik, allerdings mit starkem Rechtsdrall. Das Politische daran war, dass die Biographien dieser Helden mit für die Nazis besonders wichtigen Bereichen der Gesellschaft verknüpft wurden und von der Überlegenheit der arischen Rasse kündeten. Karl Aloys Schenzinger, der Autor der Vorlage für Hitlerjunge Quex, veröffentlichte 1937 im Zeitgeschichte-Verlag des Nationalsozialisten Wilhelm Andermann das erste seiner populärwissenschaftlichen Sachbücher, eine Vorform des Faction-Genres, die er "Roman" nannte, um sich dichterische Freiheiten herausnehmen zu können (mit fiktiven Dialogpassagen wie in den nachgestellten Spielszenen in heutigen Fernsehdokumentationen). Anilin erzählt von der Entwicklung chemisch hergestellter Farbstoffe, von der Entdeckung durch deutsche Forscher bis zur Massenproduktion.
Der in die Abschnitte "Indigo", "Leuchtgas", "Steinkohlenteer", "Anilin", "Benzol", "Künstlicher Indigo" und "Atebrin" unterteilte "Roman" war ein Verkaufsschlager, was Schenzinger auch der Förderung durch das NS-Regime zu verdanken hatte. In der Hörspielfassung sprach Heinrich George den Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge, den Entdecker des Anilin, was ebenfalls nicht schaden konnte. Die ideologische Ausrichtung ist schon an den genannten Überschriften ablesen. Es geht los mit der Indigogewinnung in Indien. Logischer Schlusspunkt wäre "Künstlicher Indigo". Man braucht den natürlichen Rohstoff nicht mehr, weil die tollen deutschen Forscher einen synthetischen Ersatz gefunden haben. Dann kommt aber noch die Entwicklung von Atebrin, einem Mittel gegen die Malaria, und es beginnt die nächste Runde. Wir sind zurück in Ländern, die als Kolonien interessant wären. Bei Schenzinger ist das ein ewiger Kreislauf.
Am Ende betritt der Chemiker Horn das Verwaltungsgebäude der Bayer AG in Leverkusen, "der neuen Aufgabe entgegen, die auch ihn hier erwartete". Vorher "schlagen" noch "Zahlen […] in Horns Ohr, die ihm den Atem benehmen. […] Heute 2 Millionen Tonnen Benzin für die deutschen Motoren! 60 000 Tonnen Kautschuk im Jahr für die deutschen Reifen. Keine Naphtaquellen, kein Öl, kein Gummi im eigenen Lande. Keine Kolonien. Gefährliche Summen drohen ins Ausland abzufließen. Wir sind eingeengt, geographisch, wirtschaftlich, politisch. Wir wollen leben! Immer lauter wird die Forderung nach dem künstlichen Werkstoff." Und wir ahnen: Synthetische Rohstoffe sind gut, aber das wird nicht reichen. Kolonien braucht man auch. Wie sich das als Altruismus verkaufen lässt, demonstrieren der ein Jahr nach Anilin erschienene Roman Germanin von Dr. Hellmuth Unger (Autor der Vorlage für Liebeneiners Ich klage an!) und die Verfilmung dieser "Geschichte einer kolonialen Tat" (Untertitel) mit Luis Trenker. Die Indoktrinierung fand nicht durch einzelne Bücher oder Filme statt, sondern im Verbund mit anderen, deren Botschaft die gleiche war oder die da weitermachten, wo die Vorgänger aufgehört hatten.
"Germanin" ist der Handelsname eines von Bayer entwickelten Wirkstoffs gegen die Schlafkrankheit. Damit könnte man viele Menschenleben in den ehemaligen deutschen Kolonien retten, aber seit dem verlorenen Ersten Weltkrieg haben die Engländer dort das Sagen, und die sind fies und hinterlistig und nur daran interessiert, den Negerhäuptling und die anderen Schwarzen auszubeuten. Die Deutschen hingegen sind gut und edel, ihre Forscher dienen dem Wohl der Menschheit. Einer von ihnen muss sich opfern, damit das Mittel doch noch zum Einsatz kommen kann. Daraus lernen wir: Die Deutschen sind die besseren Kolonialherren. Es ist geradezu ihre moralische Pflicht, den alten Zustand wiederherzustellen, oder gern auch etwas mehr. Am Ende von Anilin kapiert das sogar Admi Garib, ein verstockter Brahmane. Horn hat einem von den Hindus mit seinen Atrebin-Tabletten das Leben gerettet. Der dankbare, von seiner Skepsis geheilte Brahmane wirft sich vor dem Deutschen in den Staub, küsst ihm die Schuhe und sagt: "Großer Sahib! Schiwa hat dich gesegnet!" Der Große Sahib muss den Kolonien erhalten bleiben. Die Eingeborenen verlangen es.
Bis 1945 wurden rund eine Million Exemplare von Anilin gedruckt; damit gilt das Buch als der erfolgreichste erzählende Text des Dritten Reichs. "Es ist ein Weg voller Opfer und Verzicht", trompetete die Nordische Rundschau, "der von den Indigofeldern der Tropen durch die Laboratorien eines Liebig, Koch, Duisberg zu den I.G.-Farben hinführt. Schenzinger hat in seinem Buch ‚Anilin’ fast ein Jahrhundert Forscherarbeit zusammengefasst, hat mit packender Wucht der deutschen Chemie eine Ehrung zuteil werden lassen, wie man sie sich in dieser Form kaum besser vorstellen kann." Schlüsselwörter sind "deutsch" und "Tropen". Anilin gehört zur Gruppe der sogenannten "Rohstoffromane", die in der NS-Zeit weit verbreitet waren. Das Problem ist immer dasselbe. Die Ausländer (in den "Tropen") besitzen etwas, das die deutsche Industrie unbedingt haben muss. Dieser Zustand gefährdet Deutschlands Zukunft. Also muss etwas passieren, braucht man große deutsche Männer, die Forscher, Unternehmer, Abenteurer sein können, oder eine Kombination davon.
Weil sich die Komplizenschaft zwischen den Autoren solcher Bücher und den braunen Machthabern nicht darin zeigt, dass der Held eine Hakenkreuzfahne schwingt oder "Heil Hitler!" schreit, konnte Andermann 1949 eine "durchgesehene und ergänzte Neuauflage" von Schenzingers Anilin auf den Markt bringen, die Gesamtauflage bis 1951 auf 1,6 Millionen steigern und dann auf über zwei Millionen, mit freundlicher Mitwirkung des Bertelsmann Leserings. "Ergänzt" ist ein anderes Wort für "gekürzt". Entfernt wurden Erwähnungen der I.G.-Farben, Schmähungen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs und Begriffe aus dem Vokabular von Nazis und Militaristen. Die diversen Einengungen des deutschen Volkes, die fehlenden Kolonien und das "Wir wollen leben!" im obigen Zitat fielen weg, weil die potenziellen Leser der Neuauflage erfahren hatten, wie schnell dieser Wunsch zum Sterben führen kann. Ersatzlos gestrichen wurden Sentenzen wie "Das Ergebnis ist entscheidend. Das Ergebnis entwaffnet jeden Widerspruch. Das Ergebnis steht.", weil das doch arg nach "Der Zweck heiligt die Mittel" klang und das am Ende der NS-Herrschaft stehende Ergebnis irgendwie unbefriedigend war. Passend zum Wiederaufbauwillen im Land des Wirtschaftswunders wurde "Nation" durch "Wirtschaft" ersetzt wie in "Der künstliche Werkstoff bedingt heute die Zukunft der deutschen Wirtschaft." (bis 1945: "… der deutschen Nation."). Der "durchgesehenen" Neuauflage war dieses Motto vorangestellt: "Erfindungen sind nicht groß, groß sind die Erfinder." Früher hatte da ein Zitat von "Reichsminister Dr. Frick" gestanden, Hitlers Innenminister: "Es ist ein Zeichen der Lebenskraft eines rassisch gesunden und unverbrauchten Volkes, wenn immer wieder aus seinen unbekannten Söhnen die tüchtigsten aufsteigen und Leistungen vollbringen, die über die Grenzen des eigenen Landes hinaus die Anerkennung der ganzen Welt auf sich lenken." Wer die Anerkennung (und die Rohstoffe) verweigerte war ein Feind.
Exkurs: Reise nach Brasilien
Auch das deutsche Kino leistete einen Beitrag. Germanin habe ich schon genannt. In Carl Peters fordert Hans Albers, in Afrika Kolonien zu "erwerben", weil man nur so die dort vorhandenen Rohstoffe sichern könne, und in der Folge deutsche Arbeitsplätze. Er erklärt das zur nationalen Aufgabe, und im Lauf des Films erfährt man, warum die Aufgabe vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nicht gelöst wurde: Schuld sind ausländische Verschwörer, eigennützige Juden im Beamtenapparat, die linke "Lügenpresse" (beste Grüße an die Pegida) und der Parlamentarismus. Vor dem Zweiten Weltkrieg durften sogar die ansonsten schuftigen Engländer die Helden sein wie René Deltgen als Henry Wickham in Kautschuk (1938), wenn der Grundkonflikt gewahrt blieb zwischen denen, die Rohstoffe für ihre Zukunft brauchen und denen, die diesem legitimen Bedürfnis im Wege stehen. Die Brasilianer haben ein Gummimonopol. Wickham kämpft für das Volkswohl, indem er Kautschuksamen nach England schmuggelt.
Kautschuk firmiert als "Abenteuerfilm", weil Wickham gegen Piranhas, Krokodile, Riesenschlangen, Indios, eine Sturmflut und Don Alonzo (Gustav Diessl) kämpfen muss, einen mit der schönen Tochter (Vera von Langen) des britischen Konsuls verlobten Großgrundbesitzer und Gummiproduzenten. Interessant ist der Eiertanz, den ein Film wie dieser 1938 aufführen musste. Brasilien stand auf der Liste der rohstoffreichen Länder, mit denen die Nazis die Handelsbeziehungen intensivieren wollten. Die Brasilianer greifen zu fiesen Tricks, um Wickhams Plan zu vereiteln, sind aber auch edel und gut (Don Alonzo ist bereit, sich für den Staat zu opfern, im NS-Film ist das nie verkehrt). Die Engländer sind die Helden, aber einige Spitzen werden doch gegen sie gesetzt: Der Konsul behauptet, dass seine Regierung keine anderen Länder annektiert, was Don Alonzo mit dem Hinweis auf Transvaal kontert (mehr dazu, wenn wir zu Ohm Krüger kommen).
Engländer und Brasilianer feilschen um einen neuen Handelsvertrag. Langfristig ist das keine Lösung, weil die Brasilianer durch ihr Monopol den Kautschukpreis immer weiter in die Höhe treiben, was die Industrienationen ruinieren wird. Außerdem wissen die Brasilianer nicht, wie man nachhaltig bewirtschaftet. In wenigen Jahrzehnten, sagt der Direktor des Botanischen Gartens in Kew, werden alle Kautschukbäume kaputt sein, mit verheerenden Folgen für die ganze Welt. Darum muss Wickham den Samen holen, mit dem dann die Engländer Kautschukplantagen in ihren Kolonien aufbauen. Die Handlung liefert eine dramatische Verdichtung der historischen Ereignisse, ist also irgendwie "authentisch". Pure Propaganda ist sie auch. Was nützt einem der Kautschuksamen, wenn man selber keine Kolonien hat? Und warum hatte Deutschland keine Kolonien? Weil es diese durch den Vertrag von Versailles verloren hatte. Auf dieser bodenlosen Gemeinheit ritt die NS-Propaganda bei jeder sich bietenden Gelegenheit herum. Das Publikum im Dritten Reich brauchte 1938 keine erklärenden Dialoge mehr, um das zu wissen.
Je mehr von diesen Filmen man gesehen hat, desto schneller erkennt man die immer wiederkehrenden Konstanten. Ganz wichtig ist das Opfer, das erst Hitlerjunge Quex brachte und dann die vielen Deutschen, die im Krieg ihr Leben ließen. Filme wie Kautschuk bereiteten sie darauf vor. Im Kino fand eine permanente Gehirnwäsche statt, der man sich auf Dauer sicher schwer entziehen konnte. Wickham darf weiterleben wie das historische Vorbild, wäre aber jederzeit bereit zu sterben, wenn es der Sache dient. Dafür wird ein Strafprozess mit fadenscheinigen Beweisen hinzuerfunden, in dem das Gericht Wickham wegen Spionage verurteilt. Darauf steht der Tod. Wickham könnte sich retten, wenn er die Gummisamen herausgibt. Das führt zu einer dieser Szenen im Gefängnis, wo der Held zwischen Tod und Leben wählen soll.
Durch das vergitterte Fenster kann Wickham das Forschungsschiff "Wellington" sehen, auf das er die Samen gebracht hat. Herausgeben wird er sie natürlich nicht. Mal mit offenen und mal mit geschlossenen Augen blickt er visionär in die Zukunft seiner Samen: "Es ist eine weite Reise übers Meer. Und keimen sollen sie ja erst drüben, in den Gewächshäusern an der Themse, bis sie stark genug sind, wieder eine weite Reise zu wagen. Über den halben Erdball hinweg, bis ans andere Ende unserer komischen Erdkugel. Dort werden sie wachsen, sich vermehren, bis sie stehen in endlosen Reihen, Baum bei Baum. Und in zehn Jahren […] werden sie Kautschuk geben. Kautschuk so viel die Welt braucht. In Indien, in Ceylon, Malakka, auf britischem Boden …". Auf der einen Ebene ist es der Kautschuksamen, der da aufgehen soll. Auf der anderen sind wir beim "Kulturfilm" Ewiger Wald (1936), in dem die in Reih und Glied stehenden Soldaten per Überblendung zu Baumreihen werden und beim ach so sympathischen Oberlehrer Brett in Die Feuerzangenbowle (1944), der vom Band der Disziplin schwärmt, weil es, wie bei den jungen Bäumen, das "schöne gerade Wachstum" der jungen Menschen garantiert. 1944 wurden schon die Kinder in die Schlacht geschickt, weil der Plan, aus dem halben Erdball deutschen Boden zu machen, grandios gescheitert war.
Wickham wird im letzten Moment gerettet und kriegt seine Mary (Ironie am Rande: Vera von Langen heiratete 1952 Alfried Krupp, den Sohn von Gustav, Vorbild für Matthias Clausen in Der Herrscher). Eine Hollywood-Produktion würde damit enden, dass der Held die Heldin küsst. NS-Propagandafilme sind anders. Die Brasilianer gestehen ihre Niederlage ein, das Gummimonopol ist weg. Die "Wellington" gibt Kanonenschüsse ab, als sie mit den Samen in See sticht. Die Leinwand ist schon dunkel, als immer noch geschossen wird. Das Orchester spielt dazu das in englischsprachigen Ländern zum Jahreswechsel gesungene "Auld Lang Syne" wie schon in der Urwaldszene, in der Wickham den Gummisamen findet. Das wirkt abstrus und hat doch seinen Sinn. Die Nazis verkündeten andauernd den Aufbruch in eine "neue Zeit" für den Neuen Menschen des Nationalsozialismus. Die Jugend wird angesprochen, weil die Pfadfinder zur selben Melodie ihr Abschiedslied singen. Im echten Leben segelte das Forschungsschiff in den Zweiten Weltkrieg und zum Lager Monowitz (ein Außenlager von Auschwitz), wo die I.G. Farben riesige Summen in ihr Bunawerk investierte und etwa 25.000 Sklavenarbeiter starben. "Buna" ist das eingetragene Markenzeichen für einen synthetisch hergestellten Kautschuk.
Deltgens Gefängnismonolog in der derzeit greifbaren Fassung kommt mir vor, als sei da etwas weggeschnitten worden. Die dem Samendrama zugrunde liegende Ideologie ist weiter drin. Vor diesem Nazimist würde ich die Kinder gerne schützen, aber von solchen Dingen habe ich keine Ahnung. Bei amazon.de sind zwei in der Reihe "Deutsche Filmklassiker" erschienene DVD-Ausgaben gelistet. Die eine ist ab 6 Jahren, die andere ohne Alterbeschränkung freigegeben. In den DVD-"Specials" wird die Anekdote von René Deltgen erzählt, der beim Kampf mit der Riesenschlange fast gestorben wäre. Verschämt angehängt ist der Hinweis, dass dieser Abenteuerfilm die Prädikate "staatspolitisch und künstlerisch wertvoll" erhielt. Warum Kautschuk so wertvoll war erfährt man nicht. Was hindert die Murnau-Stiftung eigentlich daran, darauf hinzuwirken, dass sich daran etwas ändert? Unwissenheit? Desinteresse an den eigenen Filmbeständen? Wird auf entsprechende Informationen verzichtet, weil man dann eine neue (nicht eben billige) Prüfung durch die FSK beantragen müsste, wenn die hierzulande praktizierte Form des Jugendschutzes noch irgendeinen Sinn ergeben soll? Ich weiß es nicht.
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