Wie deutsche Medien die Bundesregierung am Hindukusch verteidigten

Seite 3: Die offiziellen Kriegsgründe lösen sich in Luft auf – der Krieg geht weiter

Nach dem 1. Mai 2011 wird der Krieg in Afghanistan noch 10 Jahre ohne den vermeintlichen Kriegsgrund Osama bin Laden weitergeführt. Dafür war ein Ereignis aus dem Jahr zuvor entscheidend, das quasi den Gipfel der Kriegspropaganda darstellt.

Denn es ist im Sommer 2010 etwas Störendes für die protestfreie Fortführung des Afghanistan-Krieges passiert – das aus heutiger Sicht ein weiteres wichtiges Licht auf die widerrechtliche Internierung von Julian Assange wirft.

Denn nicht erst 2019, wie der Spiegel in seinem Beitrag "Der Krieg und die Lügen" richtig berichtet, wird bekannt, dass die US-Regierung den Krieg beschönigte. Die Washington Post hatte erfolgreich auf die Herausgabe der sog. "Afghanistan Papers" geklagt, auf die der Spiegel Bezug nimmt. Aber über die Kriegsverbrechen und die Kriegswirtschaft durch die ISAF-Truppen in Afghanistan erfuhren wir bereits Ende Juli 2010 durch Wikileaks.

Die Plattform veröffentlichte das sog. "Afghan War Diary". Die Dokumente belegten die Förderung von Korruption, Opiumanbau und Prostitution als Folge der Kriegswirtschaft im Rahmen der Militärintervention, wodurch die Glaubwürdigkeit der ISAF-Truppen unterminiert und ein Abzug erörtert wurde.

Die Debatte über einen möglichen Truppenabzug wurde Anfang August 2010, knapp zwei Wochen nach dem Leak, jäh beendet - durch den Covertitel des US-amerikanischen Time-Magazin vom 6. August, der um die Welt ging und tagelang die Berichterstattung bestimmte.

Wie Claus Kleber im ZDF heute-journal am Tag darauf richtig bemerkte, stimmte der Suggestivtext neben dem Foto der Frau mit der abgeschlagenen Nase (und Ohren) nicht, denn die Verunstaltung war passiert, während "unsere Truppen in Afghanistan" waren.

Screenshot, ARD

Als das Foto der verstümmelten Afghanin Bibi Aisha auf dem Cover Time-Magazin erschien, war dieses bereits ein Jahr alt, fotografiert von Aryn Baker.

Nach seinem Erscheinen und der Verbreitung in den Nachrichten weltweit verstummte die Debatte über einen Truppenabzug und wurde durch die einsetzende Diskussion über die Situation von Frauen in Afghanistan überblendet.

Der Ehemann der Fotografin, der in Afghanistan Hilfsprojekte koordinierte, profitierte direkt von der Veröffentlichung, denn die Debatte um den Truppenabzug hatte das Spendenaufkommen drastisch einbrechen lassen. Nun erholte sich die Spendenbereitschaft wieder.

Aus medienwissenschaftlicher Sicht handelte es sich hier um eine "instrumentelle Aktualisierung" (Kepplinger), wobei ein Fakt zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext aktualisiert und damit instrumentalisiert wird, weil es dadurch einen intendierten Zweck erfüllt.

Selbst bei Kenntnis solcher Strategien, die auf "humanitäre Intervention" angeblich für Frauenrechte setzen und damit für Kriegseinsätze werben, ist es in einem solch emotionalen Moment schwierig, einen nüchternen Blick zu wahren. Und die Strategie war bekannt, als Szenario-Papier der CIA – das sog. "Red Cell Paper", das ebenfalls Wikileaks veröffentlicht hatte.

Screenshot

In dem Szenario erdachte man die Strategie, auf Frauenschicksale hinzuweisen, falls die Ablehnung des Afghanistan-Krieges vor allem in Deutschland und Frankreich, den führenden europäischen Ländern, in offene Ablehnung umschlagen würde. Stichwort "humanitäre Intervention". Darüber berichtet hatte u.a. der WDR und die Strategie wurde auch auf der Website der ARD-Tagesschau beschrieben – im April 2010.

Screenshot ARD

Auch, wenn es sich hier nicht um die CIA als Akteur hinter der Veröffentlichung handelte, die Strategie hätte erkennbar sein müssen – sie wurde zudem schon in anderen Krisenregionen eingesetzt und man kann davon ausgehen, dass es nie um die Frauen oder die Soldaten geht, wenn eingefordert wird, diese nicht im Stich zu lassen.

Anscheinend ist nicht nur das Wählergedächtnis, sondern auch das vieler Journalisten sehr kurz – denn auch beim überstürzten Abzug der Truppen aus Afghanistan ganze 10 Jahre später wurde wieder der Frame des "Im-Stich-Lassens" bemüht, als es um die Zustimmung für einen Bundeswehreinsatz für Evakuierungen ging; Evakuierungen, die Monate zuvor bereits von der Fraktion Die LINKE im Bundestag gefordert worden waren.

Wer die Entwicklungen hin zu einer zugespitzten Situation nicht in den Blick nimmt, betreibt im Grunde ständig Werbung für Krieg als letztes Mittel – um am Ende doch mit denen zu verhandeln, mit denen man zuvor nicht sprechen wollte; wer auch immer diese eventuell noch gezielt gefördert oder aufgebaut haben könnte.