Wie man Falschmeldungen über das Corona-Virus erkennt

Seite 4: Auffällige Muster

Legt man beide Fälle nebeneinander, den Brandbrief der BKK ProVita vom Februar und jetzt Matthes' vorläufige Studienergebnisse, findet man auffällige Muster: In beiden Fällen wichen die berichteten Zahlen massiv von den offiziellen Daten ab, nämlich um den Faktor sieben bis 40.

Allein das sollte einen schon vorsichtig stimmen. Würde das PEI tatsächlich 39 von 40 schweren Impfreaktionen übersehen, sollte man dessen Abteilung zur Impfsicherheit umgehend schließen. Ein allgemeines Vernunftprinzip besagt aber, dass außergewöhnliche Schlussfolgerungen auch außergewöhnlich guter Daten bedürfen.

Das bringt uns zur zweiten Auffälligkeit: Weder bei der BKK ProVita noch bei Matthes' Studie waren die Daten öffentlich einsehbar, während das PEI regelmäßig detaillierte Sicherheitsberichte verfasst. Zudem können sich Bürgerinnen und Bürger mit Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz um die Freigabe weiterer Daten bemühen, wenn das Institut sie nicht freiwillig verfügbar macht.

Drittens wählten die Akteure in beiden Fällen nicht den wissenschaftlichen Weg mit externer Begutachtung nach dem Vieraugenprinzip, sondern wandten sie sich direkt an die Medien.

Von Journalistinnen und Journalisten kann man vielleicht keine Grundkenntnisse über statistische Signifikanztests und den Unterschied zur praktischen Relevanz erwarten, was bereits viele medizinische Sensationsmeldungen relativieren würde. Gedanken zur Repräsentativität und darüber, ob Äpfel mit Birnen verglichen werden, gehören aber zur Allgemeinbildung.

Dementsprechend formuliert der Kodex des Presserats, bei Umfrageergebnissen müsse mitgeteilt werden, ob die Ergebnisse repräsentativ sind. Zur Medizinberichterstattung heißt es ergänzend, dass vorläufige Ergebnisse als solche zu kennzeichnen sind und eine unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden ist.

Man hätte bei Matthes auch einfach zum Taschenrechner greifen können: Wenn bisher Antworten von 10.000 von insgesamt 40.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgewertet wurden, was bedeutet dann eine Häufigkeit von 8:1000? Richtig, die Anthroposophen haben bisher in Deutschland ganze 80(!) Personen ausfindig gemacht, die nach eigenen Angaben schwere Impfnebenwirkungen haben.

Das bringt mich zu einem vierten Punkt: Dass nämlich in beiden Fällen relative, statt absoluter Zahlen verbreitet wurden. Das ist vor allem dann riskant, wenn der ursprüngliche Wert sehr klein ist. Wenn also das PEI 0,2:1000 schwere Verdachtsfälle registriert, dann klingen Abweichungen schnell dramatisch: sieben-, achtmal, vierzigmal so hoch!

Natürlich eignen sich dramatisch klingende relative Zahlen hervorragend für Schlagzeilen. Um die Leserinnen und Leser nicht in die Irre zu führen, sollte man die absoluten Werte aber zumindest miterwähnen.

Fünftens sollte man an Interessenkonflikte denken. Natürlich kann auch eine "veggiefreundliche" Krankenkasse oder können auch Anthroposophen wichtige Ergebnisse herausfinden. Ebenso wie man bei von der Pharmaindustrie finanzierten Studien besonders kritisch sein soll, sollte man impfkritische Meldungen aus der impfkritischen Szene aber auch kritisch sehen.

Symmetrie

Was mich, zum Schluss, zu einer letzten Auffälligkeit führt: Der Hauptgrund für Zurückhaltung gegenüber den Impfstoffen in der Bevölkerung sind die beschleunigten Zulassungsverfahren. Darum fürchten manche Menschen Spätfolgen, die mit den vorhandenen Studien nicht festgestellt werden konnten.

Das Argument ist zwar in einem gewissen Sinne richtig – es handelt sich aber um eine tautologische Wahrheit: Wenn ein sonst Jahre dauerndes Verfahren aufgrund des hohen Zeitdrucks auf Monate verkürzt wird, können in solchen Studien prinzipiell keine Spätfolgen erfasst werden. Wie realistisch diese Sorgen sind, ist eine Debatte für sich.

Es ist aber sehr auffällig, dass Impfgegner einerseits gegen die Impfstoffe sind, weil diese (angeblich) vorschnell zugelassen wurden – andererseits kann es ihnen bei der Verbreitung impfkritischer Nachrichten ohne jegliche wissenschaftliche Kontrolle aber gar nicht schnell genug gehen. Ihr Standpunkt ist also asymmetrisch: Sie erwarten von ihrem Diskussionsgegner etwas, woran sie sich selbst gar nicht halten.

Das macht einen ernsthaften Gedankenaustausch schwierig. Wir wissen inzwischen, dass Impfungen in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen ein hochsensibles Thema sind. Mit der Verbreitung sensationeller Falschmeldungen erweisen Medien der Gesellschaft aber einen Bärendienst. Hier hat der Autor nun einige Anhaltspunkte formuliert, mit denen man solche Fehler in Zukunft vermeiden kann.

Update/Ergänzung:

Inzwischen sind im Text verlinkte Artikel auf der MDR-Seite nicht mehr zu erreichen. Eine Anfrage an die Redaktion ist gestellt. In der MDR-Mediathek befindet sich zurzeit noch ein Gespräch mit Harald Matthes vom 28. April. Weitere Beispiele für die ursprüngliche Darstellung in den Medien kann man noch bei der B.Z. oder der Welt lesen.