Wie sich die Forschung zur Beschneidungsdebatte widerspricht

Seite 3: Medizinischer Nutzen

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So wie Voß im Übrigen argumentiert, medizinisch, kann man freilich argumentieren; und da gibt es tatsächlich manch Gutes über Beschneidungen zu sagen. Ich habe mir selbst einen Überblick verschafft und die Situation stellt sich wie folgt dar:

Rund 2000 wissenschaftliche Publikationen behandeln das Thema der männlichen Beschneidung ("male circumcision" im ISI Web of Science), davon rund 200 Übersichtsarbeiten (Reviews). Dabei geht es meistens um die Prävention von HIV-Infektionen. Sucht man etwas strenger nach Studien, die sich hauptsächlich mit dem Thema beschäftigen, kommt man auf knapp 1000 Publikationen, davon 48 Übersichtsarbeiten. Letzteres ist eine Fülle, die man sich an einem Vormittag anschauen kann.

Und tatsächlich gibt es gute wissenschaftliche Belege dafür, dass eine Beschneidung das Risiko von Männern reduziert, sich mit HIV zu infizieren (etwa H. A. Weiss, 2007, Current Opinion in Infectious Diseases). Der Haken an der Sache ist allerdings: Meistens geht es dabei um Männer aus Subsahara-Afrika, wo einerseits die hygienischen und medizinischen Standards viel schlechter sind, andererseits HIV viel verbreiterter ist. Solche Studien lassen sich also nur sehr eingeschränkt dazu heranziehen, in Deutschland oder Nordamerika politische Entscheidungen zu begründen.

Beschneidungen und HIV-Infektionen

Übrigens weiß man noch gar nicht genau, was der Mechanismus für das höhere Erkrankungsrisiko bei vorhandener Vorhaut ist. Immunologen von der Northwestern University in Chicago diskutierten vier verschiedene Möglichkeiten, dass es nämlich mit Oberflächeneigenschaften der Haut zu tun haben könnte, mit der mikrobiologischen Umgebung, mit für die Viren besonders anfälligen Zellen in der Vorhaut sowie mit der Gewebestruktur (M. H. Dinh, K. M. Fahrbach & T. J. Hope, 2011, American Journal of Reproductive Immunology).

Für die Cochrane Datenbank, die den höchsten wissenschaftlichen Standards nachstrebt, hat ein internationales Team mit Forscherinnen und Forschern aus England, Malawi, Südafrika, der Schweiz und den USA eine andere Risikogruppe ins Auge gefasst: nämlich homosexuelle Männer. Bei der Auswertung von 21 Studien mit knapp 72.000 Teilnehmern zeigte sich dabei aber kein statistischer Effekt zwischen der Beschneidung und HIV-Infektionen (C. S. Wiysonge et al., 2011, Cochrane Database of Systematic Reviews).

Risiko für Homosexuelle

Das änderte sich erst, als man die Teilgruppe der Studien auswertete, die sich auf Männer in der einführenden Rolle beim Analverkehr beschränkte: Jetzt war die Anzahl der HIV-Infektionen bei beschnittenen Männern statistisch signifikant geringer. Im Übrigen fand die Studie keinen signifikanten Effekt für die Infektion mit Syphilis oder dem Herpes Simplex Virus 2. Die Schlussfolgerung des Forscherteams:

Current evidence suggests that male circumcision may be protective among MSM [Männer, die Sex mit Männern haben, d. A.] who practice primarily insertive anal sex, but the role of male circumcision overall in the prevention of HIV and other sexually transmitted infections among MSM remains to be determined. Therefore, there is not enough evidence to recommend male circumcision for HIV prevention among MSM at present. Further research should be of high quality and further explore interaction with the predominant sexual role.

WWiysonge et al.

Beispiel Harnwegsinfektionen

Heinz-Jürgen Voß diskutiert auch andere Beispiele, etwa Harnwegsinfektionen. So habe eine Studie mit Jungen, die in Krankenhäusern der US-Armee zwischen 1980 und 1985 geboren wurden, gezeigt, dass das Risiko bei Unbeschnittenen zehnmal so groß sei. Dankenswerterweise zitiert Voß aber auch die absoluten Zahlen, was leider meistens nicht gemacht wird.

Demzufolge standen 88 Harninfektionen von 35.929 unbeschnittenen Männern 20 von 100.157 beschnittenen gegenüber. Verzehnfachtes Risiko bedeutet hier also: 2 von 1.000 anstatt 2 von 10.000. Deshalb sollte man doch wohl kaum alle Männer beschneiden, wobei es, laut Voß, unter optimalen Bedingungen (also steril und betäubt) in 0,2 bis 2% der Fälle zu Komplikationen komme.