Wie sich die Forschung zur Beschneidungsdebatte widerspricht

Seite 2: Wissenschaftliche "Fakten"

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Der eine lobt also, ausdrücklich auch im Namen von Recht und Wissenschaft, den Status quo; die anderen verurteilen ihn aufs schärfste und sprechen sogar von "Vorhautamputationen". Wie kann das sein? Jüngst wurde auf dem March for Science gefordert, Politik sollte faktenbasiert sein (Science March: Spät, aber wichtig). Sind wissenschaftliche Fakten vielleicht manchmal gar nicht so eindeutig?

Ich habe das Buchkapitel von Heinz-Jürgen Voß studiert und mir daraufhin selbst ein Bild vom Stand der Forschung in wissenschaftlichen Datenbanken gemacht. An der Fachtagung habe ich nicht teilgenommen, doch meine eigenen Ergebnisse lassen sich auf deren Abschlussforderungen beziehen. Fangen wir erst bei Voß an.

Auf den Zahn gefühlt

Sein Buchkapitel "Beschneidung bei Jungen" für den neuen Bericht über die Sexualität von Männern halte ich für tendenziös: Der Autor arbeitet sich vor allem an der Position des interdisziplinären Teams um Maximilian Stehr (Professor für Kinderchirurgie und -Urologie in Nürnberg), Holm Putzke (Professor für Strafrecht an der Universität Passau) und Hans-Georg Dietz (Professor für Kinderchirurgie in München) ab. Diese kamen 2008 in einem Artikel im Deutschen Ärzteblatt zu einem klaren Ergebnis:

Nimmt ein Arzt an einem nicht einwilligungsfähigen Jungen eine medizinisch nicht indizierte Zirkumzision vor, wirkt die Einwilligung der Personensorgeberechtigten nicht rechtfertigend, selbst wenn religiöse Gründe angeführt werden. Ohne wirksame Einwilligung ist die Körperverletzung rechtswidrig. Solange die Rechtslage gerichtlich nicht geklärt ist, sollte der Arzt die Vornahme einer medizinisch nicht indizierten Zirkumzision ablehnen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass er sich wegen Körperverletzung nach § 223 StGB strafbar macht.

M. Stehr, H. Putzke & H.-G. Dietz

Kritik und Gegenkritik

Das war freilich vor der Gesetzesänderung von 2012, wirft jedoch auch unabhängig davon ein fragliches Licht auf die über viele Jahre gängige Beschneidungspraxis. Diese Eingriffe waren demnach vielleicht strafbare Körperverletzungen. Was ist nun der Haupteinwand von Voß gegen dieses Autorenteam? "In medizinischen Fachdatenbanken indizierte Beiträge zur Vorhautbeschneidung werden in dem Aufsatz fast gar nicht rezipiert" (Voß, 2017, S. 115).

Mit anderen Worten, die Autoren hätten den Stand der medizinischen Forschung nicht ausreichend berücksichtigt. Und das belegt Voß womit? Einem Blogbeitrag für die Rosa-Luxemburg-Stiftung gegen Rassismus. Das ist natürlich handwerklich schlecht, jedenfalls in einem Artikel, der sich wissenschaftlich gibt.

Von Voß erfährt man auch, dass sich etwa die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie und die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin hinter das Kölner Gerichtsurteil (und somit gegen die allgemeine Beschneidung) gestellt hätten - aber nicht, warum das ein Irrtum war. Der Autor kritisiert lediglich, dass deren Stellungnahmen nicht mit der gewünschten "wissenschaftlichen Gründlichkeit und Differenziertheit verfasst sind" (S. 115).

Medizin vs. Recht

In die Gelegenheit, sich selbst ein Bild zu machen, versetzt Voß seine Leserinnen und Leser jedenfalls nicht. Ihm scheint nicht aufzufallen, dass hier auf ganz unterschiedlichen Ebenen argumentiert wird: Den Kritikern geht es um Individualrechte, wie den Schutz der körperlichen Unversehrtheit, des Kindeswohls und der sexuellen Selbstbestimmung; ihm geht es um medizinischen Nutzen und Rechtssicherheit.

Wenn man vor allem auf ersterer Ebene argumentiert, dann sind medizinische Untersuchungen weniger bedeutsam; der Einwand, diese nicht hinreichend einzubeziehen, läuft dann ins Leere. Vielleicht ist bezeichnend, dass nach Voß, wie oben zitiert, das Bedürfnis des Kindes vor allem darin besteht, "mit Betäubung und in steriler Umgebung beschnitten zu werden, sodass möglichst große Sicherheit gewährleistet ist" (S. 123).

Das Kind erscheint so nicht als Wesen mit Wert an sich, sondern nur als Objekt ärztlichen Handelns. Wären im Umkehrschluss Körperverletzungen rechtmäßig, wenn man sein Opfer erst narkotisiert? Natürlich nicht. Die Betäubung selbst stellt schon einen problematischen Eingriff in den Körper dar.