Wie sich die Forschung zur Beschneidungsdebatte widerspricht

Seite 4: Psychologische Folgen

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Neben den eher medizinischen Komplikationen muss man aber auch an psychologische Folgen und die sexuelle Funktion denken, für die das männliche Glied ja nicht ganz unerheblich ist. Eine systematische Überblicksarbeit jüngerer Zeit ergab hierbei auf Grundlage der Daten von immerhin rund 40.500 Männern, von denen in etwa die Hälfte beschnitten war, keine statistisch signifikanten negativen Auswirkungen auf die sexuelle Funktion, Empfindlichkeit, Erregbarkeit oder Befriedigung (B. J. Morris & J. N. Krieger, 2013, Journal of Sexual Medicine).

Solche Studien haben allerdings zwei grundlegende Probleme: Erstens, wie misst man überhaupt sexuelle Funktion und Befriedigung? Natürlich geht es ums Zählen, Quantifizieren, Ausfüllen von Fragebögen. Ob jemand HIV-positiv ist oder nicht, dafür haben wir ziemlich zuverlässige und aussagekräftige Tests. Die sogenannte Konstruktvalidität, also ob das Messinstrument das Gemessene gut wiedergibt, ist beim sexuellen Erleben aber schwierig zu gewährleisten.

Zweitens vergleicht man nach all dem Zählen, Quantifizieren und Ausfüllen von Fragebögen Mittelwerte zwischen den Gruppen, hier also beschnittenen und unbeschnittenen Männern. Wenn jetzt beispielsweise 10% der beschnittenen angeben, nach dem Eingriff besseren Sex gehabt zu haben, 10% aber über schlechteren Sex klagen, dann hat diese Gruppe im Ergebnis vor und nach dem Eingriff genauso guten Sex, obwohl es darin große Unterschiede zwischen den Personen gibt.

Einzelfälle und der "Durchschnittsmann"

Dass dieses Argument nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, dafür sprechen jedenfalls einzelne Befunde: So haben australische und nordamerikanische Gesundheitspsychologen festgestellt, dass manche Männer die Beschneidung mit einer Reihe negativer Emotionen und posttraumatischem Stress verbinden. Vereinzelt würden Betroffene die Eingriffe gar als Verletzung, Folter, Verstümmelung oder sexuellen Übergriff beschreiben (G. J. Boyle et al., 2002, Journal of Health Psychology).

Gerade in einer Diskussion, in der es um Individualrechte geht, muss man solche Zeugnisse ernst nehmen, und kann nicht darauf verweisen, dass es für den Durchschnittsmann keine negativen Folgen zu haben scheint; der Durchschnittsmann ist ein statistisches Konstrukt wissenschaftlicher Berechnungen, kein Bürger und Träger von Rechten.

Fassen wir zusammen: Viele der Befunde (man denke an HIV), die als Vorteile für die männliche Beschneidung angeführt werden, gelten ohne Weiteres gar nicht für die westlichen Länder, in denen manche medizinische Verbände den Eingriff nun bewerben; andere Befunde sind zwar positiv (wie bei den Harnwegsinfektionen), in ihrer Gesamtheit aber doch eher unbedeutend.

Erstes Prinzip der Medizin

Das erste Prinzip medizinischen Handelns ist nach wie vor: Füge keinen Schaden zu! Daher ist die Beschneidung ohne medizinische Notwendigkeit medizinethisch nicht gerechtfertigt, allein schon aufgrund des zwar geringen, doch vorhandenen Komplikationsrisikos.

Dies gilt umso mehr, als es sich um einen unwiderruflichen und invasiven Eingriff in den intimsten Bereich des Körpers handelt: das Entfernen eines Stücks des Geschlechtsteils. Solche Eingriffe gelten in aller Regel nur dann als gerechtfertigt, wenn sie Ultima ratio sind, also die letzte verbleibende vernünftige Alternative. Dabei ist in den genannten Studien oft nicht einmal berücksichtigt, ob hygienische Maßnahmen nicht dieselben Gesundheitseffekte erzielen könnten.

Prävention

Präventionsgedanken können zwar eine Rolle spielen, wie auch beim Impfen, schlagen beim Beispiel der Beschneidung aber nicht durch: Die HIV-Risikogruppen sind hierzulande vor allem Drogenkonsumenten und Schwule. Bei Ersteren hilft die Beschneidung nicht, bei Letzteren kann sie im Alter durchgeführt werden, in dem die Betroffenen selbst in den Eingriff einwilligen. Die Erstattung durch Krankenkassen wäre gerechtfertigt, da eine lebenslange HIV-Behandlung ein Vielfaches einer Beschneidung kostet. Der beste Schutz gegen sexuell übertragbare Krankheiten sind über alle Gruppen hinweg aber natürlich nach wie vor Kondome.

Absurderweise würden gerade diejenigen am meisten von einer Beschneidung profitieren, homosexuelle Männer, jedenfalls solche mit häufig wechselnden Sexpartnern, für deren Toleranz sich muslimische Verbände nicht gerade besonders stark machen, welche wiederum aber aus religiösen Gründen - zusammen mit jüdischen Verbänden - besonders stark auf die Legalität der Beschneidung pochen.

Behandlung religiöser Gruppen

Man sollte auch einmal den medial-politischen Aufschrei wegen Kopftüchern, also einem religiös aufgeladenen Modeaccessoire einiger muslimischer Frauen, mit der allgemeinen Gleichgültigkeit gegenüber der körperlichen Unversehrtheit männlicher Kinder vergleichen:

Die einen gelten - trotz Erwachsenenstatus - nicht als selbstbestimmte Wesen, sondern als Opfer männlich-patriarchaler Macht; die anderen sind tatsächlich keine selbstbestimmten Wesen (Klein- und Kleinstkinder), zählen aber nicht als Opfer.

Die Initiative des Gesetzgebers für jüdische und muslimische Verbände kann man vielleicht im Sinne von Toleranz und Integration begrüßen; in der heutigen Zeit bekommen ja vor allem Musliminnen und Muslime viel Ausgrenzung zu spüren und gegenüber jüdischen Belangen hat er deutsche Staat eine historische Verantwortung.

Dass man dafür aber die körperliche Unversehrtheit von Kindern preisgibt, das halte ich für intolerabel. Warum kann ein allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott beim Entfernen der Vorhaut nicht einfach warten, bis ein Mann sich aus eigenem Willen dafür entscheidet? Oder eben dagegen.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors. Zur Beschneidungsdebatte hat er sich darin schon einmal 2012 mit einem Beitrag geäußert.