Wie sich die USA nun in ihr vermutlich größtes Abenteuer begeben

US-General Curtis Scaparrotti besucht Militärausbilder in der Ukraine, 2016. Bild: U.S. Army Europe,

Anmerkungen zur Osterweiterung der Nato, ihrer Motivation und ihren Folgen

Die Osterweiterung der Nato bildet den Kern des "Sicherheitssyndroms" der Russischen Föderation. Das Misstrauen gegenüber den geostrategischen und militärischen Absichten von Staatsführungen, welche die Osterweiterung vorantreiben, ist zentrale Konstante russischer Sicherheitspolitik. Es ist vor allem fehlende Berechenbarkeit des "Feindes."

Die Frage danach, ob fehlende Berechenbarkeit zu Krieg führt, ist erneut nicht mehr unbegründet. Denn "ein Mehr als der, 'bloße' Vorgang des Kampfes" (…) ist die "erkennbare Disposition zum Kämpfen, solange, wie keine Gewissheit des Gegenteils vorliegt".1 Zielstrebiges Vordringen der Nato bis an Russlands westliche und südliche Türschwellen bekräftigt dies.

Diese Befürchtung leitete bereits die sowjetische bzw. die russische Seite mit Beginn der Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen am 5. Mai 1990. Außenminister Schewardnadse:

Für uns ist die Nato, was sie immer war, ein uns gegenüberstehender militärischer Block mit einer Doktrin von bestimmter Ausrichtung und unter Voraussetzung der Möglichkeit, den ersten nuklearen Schlag zu führen. (…) Wenn man versuchen sollte, uns in Dingen, die unsere Sicherheit betreffen, in die Enge zu treiben, so wird dies – ich sage das ganz offen – eine Situation herbeiführen, in der unsere politische Flexibilität jäh beschränkt wird. Die Emotionen bei uns werden hochkochen, in den Vordergrund werden die Gespenster der Vergangenheit rücken, und die nationalen Komplexe, die in den tragischen Kapiteln unserer Geschichte wurzeln, werden wiederaufleben. (…) Nichts ist vereinbart, bevor nicht alle Aspekte der Regelung abgestimmt sind, bevor nicht eine vollständige Interessenbalance gefunden ist.

Aus: Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Siedler Verlag, 1995, S. 775.

Jener Verdacht bestätigt sich.

Die "Protektoratsmacht" USA (Egon Bahr)2 will nicht nur Russland als Großmacht einer multipolaren Welt dauerhaft entmachten. Ihr geht es um mehr: Die USA bereiten Ihre Stellungen für und in einer von ihnen deklarierten "Ära neuer Großmachtrivalität", einer "Era of Renewed Great Power Competition".3 Deren Austragungsort sind zwei Kontinente, Europa und Asien, oder: Eurasien.

Ihre Absicht: "Erhalten der globalen Führungsrolle der USA in der Welt." Der US-Kongress präzisierte diese Führungsrolle als eine "um die USA zentrierte Welt, deren Alliierte sowie Partner, um deren gemeinsame Werte und Interessen durchzusetzen, freie, offene, demokratische, inklusive, regelbasierte, stabile sowie vielfältige Regionen zu erhalten und zu fördern."4

Die USA folgen dieser Absicht durch "Verhindern neuer Hegemone in Eurasien."5

Was bedeutet der Kampf um Eurasien?

Vor diesem Hintergrund ist zu fragen: Was erwartet Europa, EU- und NATO-Europa, Russland, China, OSZE-Eurasien mit Kaukasus, Zentralasien, Mongolei u.a. in einem Kampf der USA und deren Alliierter gegen neue "Hegemone" in Eurasien? Worauf müssen sie sich einstellen?

Krieg im Donbass (12 Bilder)

Ein Infanteriepanzer in der Nähe der Ruinen des internationalen Flughafens Donezk (2015). Bild: Mstyslav Chernov / CC-BY-SA-4.0

Diese Fragen beantworten im Folgenden originale Zitate aus den Expertisen des Wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses von 2021/22 (FN 3) und weiterer amerikanischer Institutionen.

Zu erwarten sind:

Offensives Handeln der USA. "Ein spezifisches, von US-Politikarchitekten öffentlich nur selten Preis gegebenes Schlüsselelement traditioneller weltpolitischer Rolle der USA seit dem Zweiten Weltkrieg besteht darin, in Eurasien dem Entstehen von Hegemonen entgegenzuwirken. Dieses Ziel reflektiert eine amerikanische geopolitische Sichtweise und Grand Strategy, die von US-Strategen und Politikern während und in den Jahren unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde und grundsätzlichen Einschätzungen Rechnung trägt:

  • Angesichts des bedeutenden Potenzials an Bevölkerung, Ressourcen und wirtschaftlichen Aktivitäten in Eurasien würden regionale Hegemone eine Machtkonzentration darstellen, die groß genug wäre, um lebenswichtige Interessen der USA zu bedrohen.
  • Eurasien könnte zu verlässlicher Selbstregulierung nicht im Stande sein, so dass die eurasischen Länder aus eigener Kraft das Entstehen eurasischer Hegemonen nicht zuverlässig zu verhindern vermögen. Das bedeutet, dass die Länder Eurasiens […] auf Unterstützung eines oder mehrerer Länder außerhalb Eurasiens angewiesen sind, um das Entstehen von Hegemonen verlässlich abzuwehren."6
  • "Die Prävention des Entstehens regionaler Hegemone begünstigt Machtdifferenzierung in Eurasien." (ebd. 4).

Strategieentwürfe des Clinton-Beraters Zbigniew Brzeziński runden die Erläuterung US-amerikanischer geostrategischer Ambitionen in Eurasien ab:

Eurasien ist der Ort, auf dem Amerika irgendwann ein potenzieller Nebenbuhler um die Weltmacht erwachsen könnte. (…) Nicht völlig auszuschließen ist die Möglichkeit einer großen europäischen Neuorientierung, die entweder eine deutsch-russische Absprache oder eine französisch-russische Allianz zur Folge hätte.

Brzezinski sah die größte Gefährdung amerikanischer Interessen in Eurasien in regionalen "antihegemonialen Bündnissen" und als "gefährlichstes Szenario" eine große Koalition zwischen China, Russland und dem Iran."7

Brzezinskis Alptraum verwirklicht sich gerade: Russlands Präsident Putin nahm am 19. Januar 2022 aus den Händen des iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi einen Vertragsentwurf über "Strategische Zusammenarbeit" zwischen Iran und Russland entgegen. Auch wird Iran Teilnehmer der "Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit" (SOZ).8 Ägypten, Katar und Saudi-Arabien haben Beobachterstatus.