Wie sicher sind britische Atom-U-Boote?

Ein Whistleblower schlägt Alarm

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WikiLeaks veröffentlichte am 17. Mai 2015 ein Dokument des 25-jährigen Whistleblowers William McNeilly. McNeilly arbeitete auf der HMS Vanguard, einem der vier Atom-U-Boote der britischen Royal Navy, die zur sogenannten Trident-Flotte gehören. In dem 18 Seiten langen Dossier prangert er zahlreiche Sicherheitsmängel an und resümiert, dass eine nukleare Katastrophe vorprogrammiert sei. Nachdem er einige Tage untergetaucht war, stellte er sich wenige Tage freiwillig der Polizei.

Laxe Kontrollen

"Es ist schwieriger in einige Londoner Nachtclubs zu gelangen, als in die Grüne Zone", resümiert McNeilly seine Erfahrungen, die er über ein Jahr lang machte. Bei der ersten Kontrolle im Shuttle-Bus zeigte McNeilly regelmäßig seinen Zimmerschlüssel statt seiner Identitätskarte vor, ohne dass es auffiel. Beim Sicherheitscheck am Eingang zur Grünen Zone reichte es, eine Identitätskarte zu präsentieren, die kaum eines Blickes gewürdigt wurde, obwohl jedes Jahr rund tausend Identitätskarten der Royal Navy verloren gehen, so dass es kein Problem für Unbefugte ist, diese zu erhalten. Der Personalausweis wurde nie kontrolliert.

McNeilly kam regelmäßig durch die Kontrolle, obwohl er in eine andere Richtung blickte, so dass der Wärter sein Gesicht nicht erkennen konnte. Für jede Person wurde die Tür automatisch geöffnet. Niemals wurden elektronische Geräte kontrolliert, die in die Grüne Zone mitgenommen wurden.

Die HMS Vanguard bei der Rückkehr zur Naval Base Clyde im schottischen Faslane. Bild: Royal Navy/OGL

Auch an Bord wird Sicherheit nicht beachtet

Neben der Besatzung des Atom-U-Bootes sind 31 noch nicht ausgebildete U-Bootfahrer sowie zivile Arbeiter, die an Bord gehen. Insgesamt über 180 Personen, deren Gepäck nicht kontrolliert wird. McNeilly schreibt, dass elektronische Geräte, die an Bord gebracht wurden, daraufhin hätten überprüft werden müssen, ob sie den Sicherheitsbestimmungen an Bord nicht zuwiderlaufen. Diese Vorschrift wurde jedoch nie wirklich befolgt.

Elektrische Geräte zum persönlichen Gebrauch sind verboten, aber auch diese Vorschrift wird niemals eingehalten. Die Missachtung ist umso erstaunlicher, weil fast jeder an Bord auf der Ebene des Raketenraums schläft, also eine Vielzahl unterschiedlichster elektronischer Geräte direkt neben den Raketen verwendet werden. In jedem Passagierflugzeug wird mehr auf Sicherheit geachtet. Dagegen ist McNeillys Vorwurf, dass einige Menschen an Bord E-Zigaretten rauchen, obwohl dies verboten ist, noch vernachlässigenswert.

Obwohl McNeilly noch keine Zugangserlaubnis zu Dingen hatte, die als streng geheim eingestuft werden, gelang es ihm schnell, bei streng geheimen Gruppensitzungen anwesend zu sein. Er setzte sich einfach an einen Computer, der ihm in dem Raum zu Trainingszwecken zur Verfügung gestellt wurd und erweckte den Anschein zu arbeiten. Selbstverständlich hätte er jedoch bei Beginn der Gruppensitzung aus dem Raum gebeten werden müssen.

In diesem Raum gelang es McNeilly auch ein Buch, welches in einem Safe des Mission Control Centre gelagert wird und alle Angaben zur Sicherheit des Atom-U-Bootes und des Atomwaffensystems enthält, Seite für Seite mit seinem Handy zu fotografieren. McNeilly hatte zu Trainingszwecken Zugang zu dem Buch, aber bei der Lektüre sind persönliche elektronische Geräte strengstens verboten. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen.

Materialschäden

An Bord machen sich Besatzungsmitglieder darüber lustig, dass viele Geräte funktionsunfähig seien. Sogar im Missile Control Centre beschwerten sich Mannschaftsmitglieder, dass ihre Geräte kaputt seien. In den meisten Kompartiments sah McNeilly viele rote Etiketten. Er geht davon aus, dass diese eher defekte Geräte markierten als zu wartende. Mehrfach offenbarten sich auf McNeillys Seepatrouillen gravierende technische Mängel. Einmal sei das U-Boot kurz davor gewesen, fahruntüchtig zu werden. Insgesamt schätzt er, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis ein Atom-U-Boot verloren geht.

Am Ende einer dreimonatigen Seepatrouille wird jeweils ein Test durchgeführt, um zu prüfen, ob das U-Boot im Ernstfall Atombomben abschießen kann. Bei drei Versuchen zeigte sich, dass bei einem Abschuss das U-Boot keine stabile Lage einhalten würde, so dass die Missile nicht den gewünschten Flugweg nehmen könnte. Der sogenannte Battle Readiness Test musste zudem wegen technischen Problemen abgebrochen werden.

Vorschriften werden nicht eingehalten

Gegen die Sicherheitsbestimmungen wurde oftmals verstoßen, wenn zusätzlich aufzustellende Betten entscheidende Zugangswege in einem Notfall versperrten oder wenn Müll direkt neben elektrischen Kabeln oder Geräten gelagert wurde, die Hitze erzeugen, so dass ein Feuer entstehen konnte. Trotz der Bedenken, die McNelly äußerte, wurde die Gefahr nicht beseitigt.

Im Kontrollraum ertönte oft ein falscher Alarm. Aufgrund der Häufigkeit der Vorfälle beachtete das Personal nicht einmal die Bildschirme, weil es automatisch annahm, es könne kein Ernstfall sein. Ein anderes Alarmsignal, das immer wieder zu hören war, wurde oftmals vorübergehend auf lautlos gestellt.

Einmal kletterte McNeilly gemeinsam mit anderen Besatzungsmitgliedern, die dafür ebenfalls nicht die nötige Sicherheitsfreigabe hatten, in eine Atomrakete, die mit bis zu zwölf nuklearen Sprengköpfen bestückt sein kann. Anwesende Vorgesetzte wiesen ihn darauf hin, welche Teile der Rakete er auf keinen Fall berühren dürfe. McNeilly kommentiert: "Wenn irgendeiner von uns ein Terrorist gewesen wäre, wäre dies die perfekte Gelegenheit gewesen, um nukleare Sprengköpfe auf Großbritannien zu schicken."

Die Royal Navy ist not amused

McNeilly erklärt in seinem Bericht eindeutig, dass er mehrfach seine Sorgen über die fehlenden Sicherheitsvorkehrungen und die Zustände an Bord seinen Vorgesetzten gemeldet habe, es aber zu keiner Änderung oder Konsequenz geführt hätte. Zudem betont er, dass er die Informationen, die er in seinem Bericht veröffentlicht hat, sehr genau danach ausgesucht hat, dass deren Offenlegung keine Gefahr darstellt.

Dennoch ließen die entsprechenden Reaktionen nicht lange auf sich warten. Graham Edmonds, Sprecher der britischen Defence Association, betont: "Whistleblowing mag individuelle Lobbygruppen erregen, aber in diesem Fall betrifft es die Sicherheit der unabhängigen strategischen nuklearen Abschreckungsmittel des Landes. Es war ein unverantwortlicher Akt und scheint klar, dass dies seine Motivation war, der Royal Navy beizutreten."

Edmonds verweist auf die Möglichkeit, dass die extreme technische Komplexität eines Atom-U-Bootes und die möglicherweise überwältigende Erfahrung einer Seepatrouille für McNeilly auf der einen und seine fehlende Erfahrung und sein fehlendes Wissen auf der anderen Seite der Grund für die aus Sicht Emdonds grundlegenden falschen Darstellung sein könnten.

Die Reaktion der Royal Navy auf McNeillys Vorwürfe erfolgte ebenfalls umgehend. Sie dementiert entschieden die Darstellung, dass das Alarmsignal in der Missile Control and Monitoring Position auf lautlos gestellt wurde, damit die Besatzung das Signal nicht hören musste. Ebenso wurden die Geschichten von einer Überflutung eines U-Bootes und dem Ausbruch eines Feuer dementierts, als das U-Boot noch im Hafen lag. McNeilly beschreibt dieses Ereignis, von dem ihm sein Kollege berichtet hatte.

Alles in bester Ordnung

Der britische Verteidigungsminister Michael Fallon wandte sich am 28. Mai an die Presse und verkündete, dass eine Untersuchung des Verteidigungsministeriums zu dem Ergebnis gekommen sei, weder seien die operationelle Funktionsfähigkeit noch die Sicherheit der Atom-U-Boote gefährdet. In seiner schriftlichen Stellungnahme heißt es, dass McNeillys Vorwürfe entweder faktisch unkorrekt oder das Resultat eines Missverständnisses beziehungsweise nur teilweise vorhandenen Verständnisses seien. Nur eine Anschuldigung bedürfe einer vollen Untersuchung, nämlich der Bericht, dass unerlaubterweise E-Zigaretten an Bord der Atom-U-Boote geraucht würden.

Des Weiteren weist die Stellungnahme darauf hin, dass es sich um McNeillys ersten Einsatz in einem Atom-U-Boot handelte und er erst in der Ausbildungsphase stand. Sein Zugang zu Aktivitäten und Material an Bord seien in Entsprechung seiner Zugangsberechtigungen gewesen. Zudem hätte die Untersuchung keinen Beweis dafür gefunden, dass McNeilly sich mit seinen Befürchtungen an seine Vorgesetzten gewandt habe.

Ein weiterer Zeuge

Ein ehemaliger Spezialist für Kommunikation und Informationstechnologie der Royal Navy hat erklärt, dass er seiner eigenen Erfahrung entsprechend McNeillys Darstellung für überzeugend halte.

Euan Bryson berichtete dem "Guardian", dass beispielsweise ein Kollege einfach seine Bankkarte vorzeigte, um durch die Kontrolle zu gelangen, nachdem er seinen Ausweis der Royal Navy verloren hatte. Zudem komme es häufig vor, dass neue Besatzungsmitglieder aufgefordert würden, Tätigkeiten auszuführen, für die sie nicht das Training oder die erforderliche Sicherheitszulassung hätten.

Julian Assanges Mutmaßungen

In einem Interview auf "Democray Now!" spekuliert WikiLeaks-Gründer Julian Assange über den weiteren Verlauf dieses Whistleblower-Falles: "Ich kann mir vorstellen, dass sie McNeilly, wenn sie eine Debatte über die Angelegenheit unterdrücken wollen, für sein unerlaubtes Fehlen vom Dienst anklagen werden. Vielleicht wird er eine Gefängnisstrafe von 28 Tagen erhalten und dann wird er unehrenhaft entlassen, um den Konflikt auf diese Weise zu dämpfen."

Tatsächlich wurde McNeilly, nachdem er sich freiwillig gestellt hatte, nicht aufgrund der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen verhaftet, sondern weil er unerlaubt vom Dienst fortgeblieben war. Am nächsten Tag wurde er entlassen, bleibt aber weiterhin an einem Ort in Portsmouth inhaftiert, während er verhört wird.

Die Sicherheit des nuklearen Abschreckungspotentials

Unabhängig davon, wie richtig oder falsch McNeilly mit seiner Einschätzung liegt, dass eine nukleare Katastrophe nur eine Frage der Zeit sei, so deutlich macht sein Bericht, dass Atomwaffen alles andere als sicher sind, auch wenn man sich an ihre jahrezehntelange Präsenz gewöhnt zu haben glaubt.

Allein 50 Nuklearsprengsätze gelten heute weltweit als vermisst. Zum Teil liegen sie auf dem tiefen Meeresgrund, aber nicht nur.

Vier Tage nach dem Amtsantritt von Präsident John F. Kennedy, stürzte in North Carolina ein B-52-Bomber der US Air Force mit zwei Wasserstoffbomben an Bord ab. Beim Auseinanderbrechen des Flugzeugs wurden die Bomben unabsichtlich abgeworfen. Eine Bombe landete an einem Fallschirm hängend in einer Weide, die andere fiel in ein Sumpfgebiet. Zwar haben die US-Behörden den Zwischenfall bestätigt, aber stets bestritten, dass eine echte Gefahr bestanden habe. Tatsächlich wurden bei der Wasserstoffbombe, die am Fallschirm hing, die Auslösungsmechanismen betätigt. Nur ein letzter, sehr sensibler Schalter verhinderte die Detonation. Im Jahre 1967 stürzte ein amerikanischer Bomber mit vier Wasserstoffbomben über dem spanischen Bauerndorf Palomares ab. Zwei der vier Bomben verstrahlen seitdem die Umgebung (USA zahlen nicht mehr für Atomwaffenunfall).

Auch in der jüngsten Vergangenheit gab es Fälle, die Zweifel daran erzeugen, ob eine nukleare Katastrophe nicht tatsächlich nur eine Frage der Zeit ist. Im Jahr 2007 hatte ein B-52 Bomber, der drei Stunden lang über den USA flog, versehentlich mehrere Atombomben an Bord. 2010 verloren die USA aufgrund eines Computerproblems 45 Minuten lang die Kontrolle über 50 nukleare Sprengköpfe.

Eine schottische Frage

Julian Assange weist auf die besondere schottische Note in diesem Fall hin. Alle britischen Atomwaffen sind im schottischen Faslane stationiert. Dadurch wird Schottland nicht nur zu einem potentiellen Ziel eines taktischen nuklearen Angriffs, sondern auch eines nuklearen Unfalls. Es überrascht daher nicht, dass die Schottische Nationalpartei die Atomwaffen außer Landes haben möchte und im Fall einer Unabhängigkeit diesen Schritt auch in die Tat umsetzen würde.

Schottische Politiker fanden sehr deutliche Worte zu den Enthüllungen von McNeilly. Alex Salmond, der bis zum Referendum über die schottische Unabhängigkeit Erster Minister Schottlands war, nannte den Bericht des britischen Verteidigungsminister "eine Beleidigung" der Intelligenz der Öffentlichkeit. Brendan O’Hara, Sprecher der Schottischen Nationalpartei für Verteidigungsfragen, sagte, er sei von der Stellungnahme "extrem enttäuscht": "Ich finde es schwierig zu glauben, dass McNeillys detaillierter, 18 Seiten langer Bericht mit einer Stellungnahme aus 500 Worten des Verteidigungsministers dementiert werden kann. Es gibt ernsthafte Fragen, die unbeantwortet geblieben sind."

Viele Fragen offen

Unabhängig von dem knappen Statement des britischen Verteidigungsministers lässt sich ein Punkt in McNeillys Dossier vermutlich widerlegen. Er erwähnt die Kollision mit einem französischen U-Boot, von dem ihm ein Kollege, der damals an Bord war, erzählt hatte. Dieser Kollege berichtete ihm, dass ihnen unter Androhung von Gefängnisstrafe verboten war, über diesen Vorfall zu sprechen. Es habe ein massives Cover-up gegeben. Allerdings scheint dieser Darstellung der Umstand zu widersprechen, dass die Presse über diesen Vorfall berichtete, sobald das stark beschädigte britische Atom-U-Boot wieder im Hafen lag.

Auf der anderen Seite erscheint aber die Aussage des Verteidigungsministeriums sehr fragwürdig, McNeilly habe nur Zugang zu Aktivitäten und Geräten an Bord in Entsprechung seiner Zugangsberechtigung gehabt. Die mutmaßliche Tatsache, dass McNeilly das streng geheime Buch über die Sicherheit des Atom-U-Bootes mit seinem Handy abfotografieren konnte, scheint ein evidenter Gegenbeweis zu sein. Aber auch wenn es schwer zu glauben ist, dass McNeilly in diesem Punkt gelogen haben könnte, muss man jedoch bis zur Veröffentlichung der Fotografien mit einem abschließenden Urteil warten. Um aber alle Vorwürfe McNeillys tatsächlich zu entkräften, genügen 500 Worte in der Tat wohl kaum. Bisher wartet man auf eine eigenständige investigative Untersuchung der britischen Medien vergeblich.