Wie urban ist der digitale Urbanismus?

Seite 3: 3. Die Urbanisierung der Kultur

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Wenn es richtig ist, daß durch die Echtzeit jener Zwischenraum zwischen Ereignis und Ereignis und damit "Geschichte" vernichtet wird, dann ist auch die Suche nach einer adäquaten Wahrnehmungs- und Darstellungsweise dieser Prozesse überflüssig: Das Ereignis stellt sich selber dar, es bedarf keiner kulturellen Thematisierung und auch keiner Theorie im Sinne Flussers mehr - das wäre auch das Ende der Stadt, die laut Flusser eine theoretische Frage ist.

Nun kann man erstens aufzeigen, daß dieses Problem der Darstellung die kulturellen Modernitätsbewegungen des 20. Jahrhunderts begeistert und angetrieben hat - bis hin zur gegenwärtigen Krise der Repräsentation, die durch den Bedeutungsverlust jener kulturellen Zwischenräume gekennzeichnet ist. Das Problem der Darstellung hat die kulturellen Praxen des 20. Jahrhunderts immer schon beschäftigt, stellt also kein grundsätzlich neues Problem dar.

Zweitens beherrscht ein Medium die kulturelle Moderne: das Städtische. In der Analyse des Städtischen hatte man den Schlüssel in der Hand, die Phänomene und die Wahrheit der industriellen Gesellschaft aufzudecken. Die Entwicklung aller wichtigen kulturellen Praxen zeigt, inwieweit sie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts urbanisiert haben - nicht in dem Sinne, daß sie das Städtische inhaltlich zum Thema machen, sondern daß die im 20. Jahrhundert zu beobachtende avantgardistische Transformation der Künste und Kulturen eine grundlegende Transformation ihrer Produktionsweise war, in der die Prinzipien des Machens von urbanen Kriterien bestimmt werden (der wechselnde Standort der Kamera im Film, die nicht mehr harmonische Musik, die nichtlineare Literatur, der fließende Raum in der Architektur usw.). Die städtischen Prinzipien von Raum, Zeit und Kommunikation wurden zu den dominanten Prinzipien der Produktion kritischer Kulturen und damit zu hervorragenden Erkenntnismedien der verstädterten Gesellschaft. In den Produktionsprinzipien ihrer Darstellungsweisen entzifferten sie die urbane Welt und ihre industrielle Grundlage, in ihnen war die Wahrheit der Gesellschaft sag-, hör- und sichtbar.

Und drittens zeigt diese Urbanisierung der modernen Kulturformen eine Verschiebung des grundlegenden Verhältnisses von Industrialisierung und Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an.

Im allgemeinen sieht man in der Urbanisierung eine Folge der Industrialisierung, die das beherrschende Phänomen ist...Die Umkehrung des Blickwinkels besteht darin, daß hier die Industrialisierung als eine Etappe auf dem Wege zur Urbanisierung, als Moment, Zwischenstation, Werkzeug angesehen wird. Folglich dominiert innerhalb des Doppelprozesses (Industrialisierung-Urbanisierung) der zweite der Begriffe, während in der Vergangenheit der erste die beherrschende Rolle spielte. Ein 'städtisches Denken', das sich entweder auf eine Optimierung der Industrialisierung mit ihren Folgen oder auf das Betrauern der in der Industriegesellschaft auftretenden Entfremdung beschränkt, bzw. sich für die Rückkehr zum antiken Stadtbürgertum einsetzt, ist nicht mehr möglich. Solche angeblichen Modelle sind nichts als Varianten der urbanistischen Ideologie.

Henri Léfèbvre

Das Städtische ist also die entscheidende gesellschaftliche Form, welche die industriellen Medien, Kulturen und Künste beschäftigte: Das Städtische war die Grundlage für die Urbanisierung des Geistes und der Kulturen, in ihm zeigten sich die Hoffnungen, Ängste und Utopien der industriellen Gesellschaft und in ihm war die Wahrheit der Industriegesellschaft deutbar.

Diese dominante städtische Art der Repräsentation von Gesellschaft in Kultur erscheint jetzt durchschnitten. Es gibt den Zwischenraum der Bedeutung nicht mehr, und damit ist auch die Suche nach einer adäquaten Darstellung des gesellschaftliches Sinns im Städtischen zu Ende.

Wenn diese Diagnose der Krise städtischer Repräsentation richtig ist, also daß die Beziehung von Ereignis/Darstellung/Ereignis ohne bedeutenden und begeisternden Zwischenraum auskommt, ist dann die Darstellung des Städtischen im virtuellen Raum ("Digitale Städte") unmittelbar das Ereignis, das dann auch weitere urbane Ereignisse erzeugt und urbanes Handeln zur Folge hat? Ist also der digitale Urbanismus selbst urban? Und vollendet sich dann im "Space of Flows" (Manuel Castells) des virtuellen Raumes die Urbanisierung der Medien und Kulturen - auf eine Art und Weise, wie sie in keinem anderen Medium möglich ist, nämlich interaktiv, universal kommunikativ und nicht elitär, also nicht hierarchisch sondern egalitär?

Daß die neuen Medien diese Frage aufwerfen, ist sicherlich ein Phänomen der "Begeisterung" im Sinne der Herausforderung an das alteuropäische Denken. Der Möglichkeit nach wird im digitalen Urbanismus die Urbanisierung der modenen Kulturen vollendet. Hier findet Austausch mit dem Fremden statt, ist Wissen frei verfügbar und gibt es die Möglichkeit der egalitären Verständigung über die Probleme von Welt - die Tele-Polis wäre Wirklichkeit geworden.

Gegenüber den uns bekannten modernen Medien, welche die Kulturen auf den jeweiligen zeitgeschichtlichen gesellschaftlichen Sinn programmieren, wäre Interaktivität eine wirkliche Möglichkeit der Transformation von Kommunikation und Kultur. Der Möglichkeit nach - das heißt zu fragen nach den gesellschaftlichen Umständen, in denen diese Medientechnologien eingesetzt werden.