Wie urban ist der digitale Urbanismus?

Seite 2: 2. Ende der Repräsentation

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die eigentliche Provokation der neuen Kommunikationstechnologien liegt jedoch für die europäische Kultur in einer anderen Dimension: "Wichtig für die anstehende Veränderung ist die neue Eigenschaft der vernetzten digitalen Medien, Interaktion und Zwei-Weg-Kommunikation in Echtzeit zu erlauben." (Rötzer 1995, S. 203) Jenseits einer Propaganda von Schnelligkeit und Vernetzung, die an sich nur als Rationalisierungseffekte Bedeutung haben, liegt die Provokation der Echtzeit in der Vernichtung einer, wenn nicht der bedeutensten Differenz, welche die Geisteswissenschaften und Kulturen des 20. Jahrhunderts konstituiert und durchgängig beschäftigt haben: Die Differenz zwischen Ereignis, Wahrnehmung und Darstellung desselben und die Initiierung eines neuen Ereignisses aus diesem durch kulturelle Darstellungen vermittelten Dreischritt. Diese Differenz hat die Phantasie des 20. Jahrhunderts beflügelt, aus ihr wurden alle Bedeutungen produziert, die diese Kulturen hat existieren lassen. Mit der sogenannten Echt- oder Realzeit wird es möglich, daß ein Ereignis (Datum, Information) zugleich mit seinem Erscheinen ("Darstellung") ein neues Ereignis produziert und das Handeln unmittelbar bestimmt - ohne also den Umweg über Wahrnehmung, Darstellung und Vermittlung dieses Ereignisses gehen zu müssen. Das Ereignis, und damit auch das Handeln, bedarf keiner kulturellen Durchdringung, also auch keiner "Darstellung" und "Theorie" mehr.

Nennen wir diesen Differenzen produzierenden Bedeutungsraum "Geschichte", in dem die von Theorie kontrollierte Erzählung von Daten/Informationen diese als Ereignisse darstellt. Wird aus solcher Darstellung ein neues Ereignis initiiert, so wird dieser bedeutete Raum Geschichte durch die Echtzeit der digitalen Kommunikationstechnologien vernichtet. Mit dem Einzug dieser bedeutenden Differenz werden ganze Abteilungen wissenschaftlicher und kultureller Praktiken sowie Institutionen des Wissens überflüssig, und der gegenwärtige Historismus in einigen dieser Praxen ist Zeichen ihrer Bedeutungslosigkeit.

Ein Beispiel dafür ist die Architektur im städtischen Zusammenhang. Vorindustriell konnte die ortspezifische Sprache einer Stadt von allen Bewohnern alltäglich gelesen und handlungsleitend verstanden werden. Aber bereits in der Moderne wurde Architektur durch andere Medien in ihrer Bedeutung als Sprache der Stadt abgelöst. Seitdem haben Bausysteme ihre semantische Autonomie verloren, "mit ihren spezifischen Elementen alleine sind sie zu effektiver Signifikanz nicht mehr fähig...Sie hören auf, die Gesamtheit kultureller Verhaltensweisen zu umgreifen. In ihrer Funktion sozialer Integration sind sie durch neue Systeme wie den Buchdruck und die Telekommunikation abgelöst worden." (Choay 1976, S. 51) Bereits die moderen Architektur der Stadt läßt also keine unmittelbare und bedeutungsvolle Zuordnung von architektonischer Form und sozialer Praxis mehr zu: Sie "stellt" diese nicht mehr dar, sie "spricht" nicht mehr von ihr.