Wie urban ist der digitale Urbanismus?

Seite 4: 4. Von der "Kultur für alle" zur "Kultur durch alle".

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Ein Teil der Faszination der neuen Medien resultiert aus ihrer globalen Struktur, die aus der Enge lokaler Kulturen herausführt. Aber auch die materielle Stadt ist längst global strukturiert und hat neue Lokalitäten und Geographien geschaffen. Großstadtregionen haben sich zu Knotenpunkten im globalen Netz von Ökonomien und Kulturen der einen Welt entwickelt, die sich auf neue Art soziokulturell differenziert und fragmentiert sowie geographisch regionalisiert. In den Global Cities etwa legt sich der alles beherrschende internationale Marktraum über die lokalen und regionalen Strukturen. Der "Space of Flows" überlagert die geographischen Räume und produziert andere Vorstellungsräume, die sich nicht mehr decken mit den alten Geographien von Welt und Kultur. Welche Möglichkeiten liegen in diesen virtuellen Räumen der interaktiven kommunikativen Beziehungen? Welche erweiterten Imaginationen erzeugen sie - jenseits der ideologischen Determinanten von Weltmarkt und globaler Einweg- und Einheitskultur? Ist es wirklich die egalitäre Macht allseitiger Verfügbarkeit von Wissen und Kommunikation, die ein neues Repräsentationsverhältnis zwischen den Benutzern geschaffen hat, jenseits des klassischen Bedeutungsraumes der darstellenden und programmierenden Kulturen?

Moderne Kulturen und Medien sind an diese symbolische Repräsentation/Darstellung gebunden, hier liegt ihre gesellschaftlich Macht, mit der sie Programme für die alltägliche Nutzung ihrer selbst ausarbeiten und damit auch Modelle des richtigen Lebens mitliefern. Das geschieht in der Kopplung von Benutzer (Konsument), Beobachter (Kritiker) und Programmierer (Produzent) - in einem kulturellen Netzwerk also, das soziale Beziehungen kulturell artikulierte und gesellschaftspolitisch formierte. In diesem kulturellen Netzwerk werden Bedeutungen produziert, kultureller Sinn, mit dem die Gesellschaft als industrielle oder städtische Gesellschaft bedeutet wird.

Entscheidend sind die Produktionsverhältnisse dieses Netzwerkes: Kann die Grundlage des Produzierens geändert werden, kann also der Nutzer selbst programmieren? Technisch ist das die Frage, welche Art von Software eine selbsttätige Programmierung zuläßt - gegenüber den heutigen arbeitsteiligen, hierarchisch geordneten Befehlsstrukturen der Computertechnologie. Sozialökonomisch ist es die Frage nach den Ausschließungsmechanismen, welche mit der Vermarktung von Soft- und Hardware einhergehen. Welche gesellschaftpolitischen Rahmenbedingungen steuern diese Märkte?

Und kulturell kommt es nicht auf die Inhalte der Kommunikation an. Sowohl die Kritik am Dauergeschwätz im Internet als auch an der städtischen Modellvorstellung des virtuellen Raumes reicht also nicht aus, vielmehr kommt es auf die in den virtuellen Modellen realisierbaren Formen der Kommunikation an, in denen interaktive Beziehungen realistisch erscheinen. Damit geht es um die sozialen Beziehungen der Nutzer untereinander, die ihre Beziehungen auf die Welt urban formieren können oder nicht.

Die modernen Einweg-Medien des 20. Jahrhunderts programmieren auf Gesellschaft und Geschichte und ihre sozialkritische Form hieß "Kultur für alle". Die interaktiven Produktionen knüpfen an die avantgardistischen Kulturen an, kritisieren die Produktionsgrundlage dieser Medien und rufen dagegen eine andere Utopie auf: "Kultur durch alle". Darin läge einzig ihre wirklich urbane Qualität. Denn Urbanität ist kein Ausstattungsmerkmal des "realen", materiellen Raumes, sondern bezeichnet das Verhältnis der Bewohner zu einem Raum - als Stadt und Form gesellschaftlicher Beziehungen in Raum und Zeit.

Wenn man diese Form und ihre Wirkungsmodalitäten begreifen will, darf man nicht vom Raum als solchem ausgehen, noch von der Zeit als solcher. Die Form selber, die ein virtuelles Objekt, das Städtische, die Begegnung und Versammlung sämtlicher Objekte und Subjekte hervorgebracht hat, muß erforscht werden.

Henri Léfèbvre

Nötig ist also eine Diskussion über die Produktionsverhältnisse städtischer Beziehungen in den neuen Medien, über ihre Schaltpläne, und ein Konsens über die Notwendigkeit, diese Schaltpläne und ihre Programmierungen grundlegend zu ändern. Ziel ist die Herstellung dialogischer Strukturen, in denen städtische Formen der Kommunikation möglich werden, mit denen die Einweg-Medien des 20. Jahrhunderts und ihre programmierenden Produkte überschritten werden können.

Es geht also nicht in erster Linie um die Frage, inwieweit die neuen virtuellen Kommunikationsmedien und ihre städtischen Modelle materielle Formen von Raum und Zeit ersetzten oder transformieren, sind diese doch bereits durch die moderne Kultur des 20. Jahrhunderts (wie zum Beispiel die Architektur) nur "virtuell" denkbar, sondern darum, wie urban die neuen Medien wirklich sind. Solange die alten kulturellen Produktionsverhältnisse und ihre programmierenden Schaltpläne herrschen, werden die neuen Medien wenig Chancen haben, den qualitativen, "interaktiven" Sprung in der medialen Produktionsweise zu realisieren und damit ihre urbanen Potentiale zu verwirklichen.

Literatur

F. Choay, Semiotik und Urbanismus. In: Carlini/Schneider (Hg) Konzept 3: Die Stadt als Text. Tübingen 1976

H. Léfèbvre, Die Revolution der Städte. München 1972

F. Rötzer, Urbanität in den Netzen: Vom Take-Over der Städte. In: Fuchs/Moltmann/Prigge (Hg.) Mythos Metropole. Frankfurt/M. 1995