Wie wäre die Welt ohne § 218 StGB?

Seite 2: Gewissensfragen

In ihrer Beschreibung werden dann aber auch sehr persönliche Gründe deutlich: Sie sei selbst nur schwer schwanger geworden. Frauen in sozialen Schwierigkeiten verweise sie auf Hilfsangebote und sie teile auch schon einmal schöne eigene Erfahrungen ihrer Mutterschaft: "Ich erzähl' manchmal auch aus meinem eigenen Familienleben. Ich weiß, das ist manchmal ein bisschen gemein aber die sollen sich die Entscheidung ja auch nicht leicht machen."

Da kann man sich schon fragen, ob sie ihren ärztlichen Aufklärungsauftrag nicht etwas zu weit fasst. Sie sollte als Frauenärztin(!) die Schwangeren möglichst neutral über Vor- und Nachteile aufklären, doch ihren Patientinnen nicht die eigenen Wertvorstellungen aufdrücken. Als Privatperson darf sie natürlich über Abtreibungen denken und diskutieren, wie sie will.

Zumal hier auch eine soziale Komponente mitschwingt: Für eine gebildete, verheiratete und gut situierte Frau bedeutet ein Kind etwas Anderes als für eine bildungsferne und alleinstehende Frau, die vielleicht ohnehin schon an der Armutsgrenze lebt. Alleinerziehende Eltern - und das sind meist Frauen - erfahren mehr Stress, sind häufiger arm beziehungsweise Hartz-IV-Bezieher und haben auch ein höheres Risiko für psychische Störungen (Mehr über Ursachen von Depressionen).

Und Gewissensuniformität

In einem ganz anderen Sinne macht die Chefärztin einer Berliner Frauenklinik, mit der die Moderatorinnen ebenfalls sprechen, Nägel mit Köpfen (etwa ab Minute 18:30). Bei ihr werde im Einstellungsgespräch immer nach der Bereitschaft zu Schwangerschaftsabbrüchen gefragt.

Die Ärztin, die für ihre Karriere vielleicht selbst von Maßnahmen für mehr Diversität profitierte, will das nicht in ihrer eigenen Umgebung: "Weil ich natürlich auch in meiner Abteilung nicht möchte, dass wir so eine diverse Kultur haben. Dass wir jeden Tag aufs Neue diskutieren, wie stehen wir zu dem Thema? Sondern ich möchte da eine einheitliche Struktur."

Immerhin sei sie gerne bereit zu Fortbildungen und Diskussionen. Doch immer nur mit dem Ziel, mehr Verständnis für Abtreibungen zu schaffen. Dabei habe sie selbst die Erfahrung gemacht, dass keine zwei Ärzte oder Studierende dieselbe Meinung zum Thema hätten: "Jeder hat eine unterschiedliche Meinung dazu, wann ein Schwangerschaftsabbruch 'okay' ist und wann nicht. Und davon sollten wir uns einfach distanzieren."

Eine Abtreibung sei eine medizinische Leistung wie jede andere, etwa wie die Entfernung einer Zyste, und die hinterfrage und bewerte man als Ärztin ja auch nicht. Zur Behebung des Mangels an Plätzen für Schwangerschaftsabbrüche brauche man eine klare Positionierung von politischer Seite mit "verpflichtenden" Strukturen. Man solle nicht denken, dass Ärztinnen und Ärzten das unter sich lösen.

Ethik ärztlichen Handelns

Mal davon abgesehen, dass die Fachleute natürlich permanent um Bewertungen - etwa von Risiken und Chancen bis hin zur Frage "Was würden Sie an meiner Stelle machen?" - gebeten werden: Einen menschlichen Embryo oder Fötus mit krankhaftem Gewebe zu vergleichen, verrät wohl genug über das Denken dieser Ärztin.

Mit Blick auf die jüngere Geschichte könnte durchaus noch einmal die besondere Verantwortung deutscher Mediziner für den Lebensschutz reflektieren. Aber Diversität und Bewertungen mit ergebnisoffenen Diskussionen kann eben nicht jeder vertragen.

Einschränkung von Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Darum geht es auch im Gespräch mit einem Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer (ca. ab Minute 27:15). Das ist übrigens der einzige Mann, der in der 45-minütigen Dokumentation zu Wort kommt. Er sieht ein großes Problem in Anfeindungen gegenüber Ärztinnen und Ärzten, die Abtreibungen anbieten, teils in den sozialen Medien, teils direkt vor den Praxen:

"Das ist in unseren Augen nicht zu tolerieren. Es ist eine Leistung, die erbracht werden kann, und wenn eine Ärztin oder ein Arzt das machen möchte, dann kann man sie oder ihn nicht dafür irgendwie angreifen." Die Doku fährt dann mit Aufnahmen einer Demonstration von Abtreibungsgegnern fort.

Jetzt ist natürlich entscheidend, was man mit "irgendwie" angreifen meint. Dass man nicht handgreiflich werden darf, sollte klar sein. Es werden nach üblichem Sprachgebrauch aber auch Gerichtsentscheidungen angegriffen - mit Rechtsmitteln. So funktioniert der liberale Rechtsstaat. Man kann auch jemanden im Sport oder mit kritischen Argumenten angreifen.

So sieht es das Bundesverfassungsgericht

Und da täte dem Vorstandsmitglied der Bundesärztekammer ein Blick auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gut: Dieses hob nämlich Entscheidungen von Münchner Gerichten gegen einen Mann auf, der Flugblätter vor einer Arztpraxis verteilt hatte. Darauf kritisierte er den Arzt für "rechtswidrige Abtreibungen (…), die aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt". Der Arzt hielt das für einen Eingriff in sein Persönlichkeitsrecht und klagte.

Alle Gerichte waren sich darin einig, dass die Aussage auf dem Flugblatt eine wahre Tatsachenbehauptung darstellt. Laut den Verfassungsrichtern habe aber niemand ein Recht darauf, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm selbst passt. Dass dem Arzt durch die Aktionen des Mannes eine umfassende soziale Ächtung drohe, sahen sie nicht als erwiesen an:

Hiergegen spricht, dass dem Kläger nach dem festgestellten Sachverhalt nicht etwa eine strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene, sondern lediglich eine aus Sicht des Beschwerdeführers moralisch verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde, auf die zudem der Kläger selbst ebenfalls öffentlich hinwies. Darüber hinaus haben die Gerichte auch nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer mit dem Thema der Schwangerschaftsabbrüche einen Gegenstand von wesentlichem öffentlichem Interesse angesprochen hat, was das Gewicht seines in die Abwägung einzustellenden Äußerungsinteresses vergrößert.

(Bundesverfassungsgericht, 1 BvR 1745/06, Rn. 22)

Der Arzt hatte selbst auf seiner Homepage auf die Abtreibungen hingewiesen. Zudem sei es ein Thema von besonderem öffentlichen Interesse. Daher wog hier das Recht auf freie Meinungsäußerung mehr.

Das ist allerdings kein Freifahrtschein für jede Form von Kritik: Die Verfassungsrichter lassen ausdrücklich die Möglichkeit offen, dass das Anprangern des Anderen so weit aus dem Ruder läuft, dass das Persönlichkeitsrecht des Kritisierten schließlich gegenüber der Meinungsfreiheit des Kritisierenden überwiegt.

Verbot in Hessen

Ob das im August 2019 erstmals in Hessen vom dortigen Innenministerium verhängte Verbot von Demonstrationen und Mahnwachen in Ruf- und Sichtweite von Arztpraxen und Beratungsstellen verfassungsrechtlich standhält, wird sich wohl erst noch zeigen müssen. Es könnte einen wesentlichen Unterschied machen, dass dies dem Schutz von Schwangeren dient, die sich anonym beraten lassen wollen, und nicht eines Arztes, der seine Abtreibungen ohnehin öffentlich bekannt macht.

In einer lebendigen und meinungspluralen Demokratie kann es aber natürlich auch nicht so sein, dass man Kritik nur dort äußern darf, wo sie die Kritisierten nicht mitbekommen. Im Fall von Demonstrationen gegen Abschiebungen von Flüchtlingen hat das Bundesverfassungsgericht sogar geurteilt, dass die Fraport AG (Frankfurter Flughafen) diese nicht unter Verweis auf ihr Hausrecht verbieten könne. Allerdings dürfen diese aufgrund der Eigenheiten von Flughäfen stärker eingeschränkt werden als im öffentlichen Straßenraum.

Bei einer Verfassungsklage müsste das Land Hessen wohl nachweisen, dass die jetzt verbotenen Demonstrationen und Mahnwachen gegen Abtreibungen Schwangere wirklich von den Beratungen und Eingriffen abhalten. Denn andernfalls wäre das Verbot meiner Meinung nach unnötig und damit unverhältnismäßig. Es dürfte auch kein weniger einschränkendes Mittel als das Verbot geben, um denselben Zweck zu erzielen.

Oder anders gesagt: In einem liberalen Rechtsstaat muss jeder erst einmal damit leben, dass andere etwas kritikwürdig finden und einem dies auch sagen, zumal im öffentlichen Raum. Um das einzuschränken, muss es schon um eine schwere Verletzung der Persönlichkeitsrechte gehen.

Fazit

Insgesamt sind Schwangerschaftsabbrüche auch im Jahr 2021 noch ein kontroverses Thema - und zwar nicht nur allgemein unter Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch in der Ärzteschaft. Paradox erscheint, einerseits sein Selbstbestimmungsrecht hochzuhalten, doch andererseits dem menschlichen Embryo oder Fötus kein eigenes Lebensrecht zu gewähren; einerseits öffentlich auf Abtreibungsmöglichkeiten hinweisen, doch andererseits die Kritiker gesetzlich verdrängen zu wollen.

Sicher ist wohl nur: Das letzte Wort zum Thema ist noch nicht gesprochen. Ich habe hier den Vorschlag formuliert, Abtreibungen nicht generell zu verbieten und dann unter Bedingungen straffrei zu stellen. Stattdessen könnte man sie erst ab einem bestimmten Zeitpunkt bestrafen. Das würde vielleicht den Druck auf Schwangere reduzieren, die sich beraten lassen wollen, und, wie wir an einem konkreten Beispiel gesehen haben, auch die Stigmatisierung von Ärzten.

Politisch könnte man aber etwas Anderes bewirken: Wenn sich Frauen oder Paare für eine Abtreibung entscheiden, weil (noch) ein Kind ein Armutsrisiko darstellt, dann ist das unter Umständen eine begründete Sorge. Schon heute wachsen Millionen deutsche Kinder in Armut auf. Mit ausreichend finanzieller Unterstützung und Kinderbetreuung ließe sich das beheben. Mehr Nachwuchs käme zudem der demographischen Entwicklung zugute. Dafür müsste der Gesetzgeber aber Geld in die Hand nehmen und nicht nur billig den Text im Strafrecht ändern.

Das eigentliche Problem in der Abtreibungsdiskussion scheint heute aber doch nicht mehr die Gesetzeslage zu sein, sondern die Bereitschaft von Ärztinnen und Ärzten zum Schwangerschaftsabbruch. Diese zwingend vorzuschreiben, würde die Gewissensfreiheit dieses wichtigen Berufsstands einschränken und auch Initiativen für mehr Ethik in der Medizin zuwiderlaufen. Eine konsequente Entkriminalisierung könnte hier aber ein politisches Signal senden.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

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