Wie war der Verlauf des Infektionsgeschehens in Deutschland?

Analysen und Gedanken zum neuartigen Coronavirus - Teil 2

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Der Verlauf des Infektionsgeschehens ist eine entscheidende Größe: Kann das Infektionsgeschehen realitätsnah abgebildet werden, lassen sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit einer Infektionskrankheit und mögliche Einflussfaktoren auf das Infektionsgeschehen besser abschätzen. Damit können die potenzielle Belastung des Gesundheitssystems in der Zukunft und der Nutzen von Eindämmungsmaßnahmen besser beurteilt werden.

Abschätzung über das Meldedatum der Neuerkrankungen

Es ist naheliegend die täglichen Meldungen der Neuinfektionen als Maß für das Infektionsgeschehen heranzuziehen (Abbildung 1 nach RKI1). Dies wurde bereits früh im Pandemieverlauf gemacht und scheint für viele Länder immer noch die meistgenutzte Methode zu sein.

Abbildung 1. Grafik: Screenshot RKI

Das Meldedatum ist in Deutschland das Datum, an dem das Gesundheitsamt über die Labore oder Ärzte Kenntnis über einen positiven Fall erlangt und diesen elektronisch erfasst. Da Labore und Ärzte am Wochenende zum Teil nicht arbeiten, gehen die Meldungen zurück und steigen zu Beginn der neuen Woche sprunghaft an. Der mittlere Meldeverzug schwankte in Deutschland zwischen 5 und 10 Tagen2 und dürfte international ebenfalls Schwankungen unterliegen, was die Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen Ländern stark reduziert. Selbst wenn der Meldeverzug bekannt ist und das genaue Datum des PCR-Tests eruiert werden kann, kann daraus nicht auf das Erkrankungsdatum geschlossen werden.

Des Weiteren gibt es einen Übermittlungsverzug an das RKI, so dass kürzlich zurückliegende Meldungen durch die Gesundheitsämter erst verspätet beim RKI eingehen. Das führt dazu, dass die neuesten Meldedaten in den Folgetagen nach oben nachkorrigiert werden müssen. Die Infektionszahlen der kürzlich zurückliegenden Tage sind daher von geringem Nutzen.

Abschätzung über das Erkrankungsdatum der Neuerkrankungen

Deutlich zuverlässiger ist es den Tag des Erkrankungsbeginns zu nutzen, da hiermit etwaige Meldeverzüge und die unklare Latenz zwischen Erkrankungsbeginn und PCR-Test ausgeschlossen sind. Übermittlungsverzüge treten hier allerdings ebenfalls auf. Für die Infizierten, bei denen sich der Erkrankungsbeginn nicht eruieren ließ bzw. die gar nicht erkrankten, hat das RKI eine Schätzmethode (Imputation) entwickelt (Abbildung 2 nach RKI3 ).4

Abbildung 2. Grafik: Screenshot RKI

Zu beachten ist hier, dass es sich um eine geglättete Kurve handelt. Wie den Rohdaten des RKI zu entnehmen ist, ergibt sich beispielsweise die Zahl der Neuerkrankungen am 19.03. aus dem Mittelwert vom 16. - 19.03.5 Verzichtet man auf die Glättung, hat die Kurve nicht nur einen raueren Verlauf, sondern verschiebt sich auch um 1,5 Tage ((3+2+1+0)/4 = 1,5)) nach links. Um ein möglichst exaktes Maß für den Infektionsverlauf zu erhalten, sollten die Zahlen der Neuerkrankten ohne Glättung verwendet werden. Da die durchschnittliche Inkubationszeit 5-6 Tage beträgt, liegt das Ansteckungsdatum der im Diagramm dargestellten Infektionsfälle nochmals 5-6 Tage früher.6

Obwohl diese Daten deutlich geeigneter als die Meldedaten sind, bestehen einige wichtige Schwächen. Aus serologischen Studien ist bekannt, dass mit den durchgeführten PCR-Tests nur ein Bruchteil der tatsächlich Infizierten erfasst wird. Die offizielle Zahl der Neuinfektionen kann daher nur dann ein gutes Surrogat für den Pandemieverlauf sein, wenn die Stichprobe der Getesteten nach gleich bleibenden Kriterien untersucht wird und die Testkapazitäten jederzeit und überall ausreichend sind. Diese Kriterien sind allerdings nicht erfüllt.

Hinsichtlich der Testzahlen und Testkapazitäten gibt es für den Zeitraum vor KW 11 keine wöchentlichen Daten (Tabelle 17). Gerade in diesem Zeitraum ist aber von einem sehr dynamischen Infektionsgeschehen auszugehen, wie unter anderem der lokale Ausbruch in Heinsberg zeigt, der auf eine Karnevalssitzung am 15.02. (KW 7) zurückgeht.8 Der Wintersportort Ischgl hatte sich spätestens Ende Februar (KW 9) unbemerkt zu einem Infektionsschwerpunkt entwickelt.9 So trugen viele deutsche Reiserückkehrer das Virus unbemerkt nach Deutschland.

Tabelle 1
KW Anzahl Testungen Positiv getest Anzahl übermittelnde Labore
Bis einschl. 10 124.716 3.892 (3,1%) 90
11 127.457 7.582 (5,9%) 114
12 348.619 23.820 (6,8%) 152
13 361.515 31.414 (8,7%) 151
14 408.348 36.885 (9,0%) 154
15 379.233 30.728 (8,1%) 163
16 330.027 21.993 (6,7%) 167
17 357.876 17.974 (5,0%) 175
18 317.979 12.143 (3,8%) 169
Summe 2.755.770 186.331 (6,8%)

Andererseits waren die wöchentlichen Testkapazitäten zumindest seit KW 11 zu keinem Zeitpunkt ausgeschöpft (Tabellen 1 und 2, Daten nach RKI10). So gab es z.B. in KW 11 bei 127.457 durchgeführten Tests eine tägliche Testkapazität von 31.010. Demnach wurden in KW 11 also nur 59% der Kapazitäten ausgeschöpft (127.457 / (31.010 x 7)).

Tabelle 2
KW, in der Angabe für die Folgewoche erfolgt ist KW 10 KW 11 KW 12 KW 13 KW 14 KW 15 KW 16 KW 17 KW 18
Anzahl übermitelnde Labore 28 93 11 13 132 112 126 133 137
Testkapazität pro Tag 7.115 31.010 64.725 103.515 116.655 123.304 136.064 141.815 153.698
Neu ab KW15: wöchentliche Kapazität anhand von Wochenarbeitstagen - - - - - 730.156 818.426 860.494 964.962

Es ist daher anzunehmen, dass zumindest ab Woche 11 tatsächlich Viele der nach den RKI - Kriterien zu Testenden auch getestet wurden. Diese Kriterien waren zunächst sehr streng, um die befürchtete Überlastung der Labore zu vermeiden. So wurden zunächst hauptsächlich Personen getestet, die typische Symptome hatten und aus einem Risikogebiet kamen. In den folgenden Wochen haben sich die Testkriterien dann mehrfach geändert. Dies dürfte unter anderem durch die bessere Verfügbarkeit der Tests und die zunehmend gesicherte Kostendeckung durch die Krankenkassen erklärt sein. Es ist anzunehmen, dass durch die geänderten Testkriterien in zunehmendem Maße Personen mit einem geringeren Risiko für eine Infektion getestet wurden. Parallel wurden unabhängig von den offiziellen RKI-Kriterien in zunehmendem Maße auch asymptomatische Personen (z.B. vor Krankenhausverlegungen) aus infektionspräventiven Aspekten heraus getestet. Hierdurch dürfte die Prätestwahrscheinlichkeit weiter gesunken sein. Trotzdem stieg die Testpositiventrate bis Woche 14 (9,0%) deutlich an, was auf eine dynamische Entwicklung des Erkrankungsgeschehens hindeutet und gegen ein Maximum weit vorher der KW 14 spricht. Zu beachten ist hierbei allerdings, dass der Zeitpunkt der Testdurchführung nicht dem Infektionszeitpunkt entspricht und dieser deutlich vorher gelegen haben kann.

Da unklar bleibt, in welchem Maße die Ausweitung der Testzahlen ab KW 12 das tatsächliche Infektionsgeschehen verzerrt hat, lohnt ein Vergleich mit den Todeszahlen nach Sterbedatum. Da die Todesfälle gut dokumentiert wurden und die hohe Vigilanz für COVID-19 innerhalb der Krankenhäuser zu einer großzügigen Testung Schwerkranker führte, könnte die Kurve der täglichen Todeszahlen ein gutes Maß für das Infektionsgeschehen sein. Zur besseren Vergleichbarkeit wurde in Abbildung 8 (Daten nach RKI11) die Zahl der Todesfälle auf das Niveau der Neuerkrankungen angepasst (Faktor 21).

Neben der natürlichen Latenz zwischen Erkrankungsbeginn und Tod zeigt sich als wesentlicher Unterschied, dass die Kurve der Neuerkrankungen steiler ansteigt, was eine Überschätzung des Infektionsgeschehens im Zuge der ausgeweiteten Testzahlen ab KW 12 nahelegt. Der frühe Anstiegsbereich der Kurve vor dem 03.03.2020 wird hingegen aufgrund fehlender Daten gar nicht erfasst.

Abbildung 3. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Abschätzung über die Reproduktionszahl R

Eine andere Darstellungsmethode für das Infektionsgeschehen bietet die Reproduktionszahl R. Sie kann aus der Zahl der täglichen Neuerkrankungen berechnet und in eine Kurve übertragen werden. Der Logik nach müsste R seinen höchsten Wert dann haben, wenn die Zahl der Neuinfektionen am stärksten ansteigt und unter 1 fallen, wenn die Zahl der Neuinfektionen rückläufig ist. Die genauere Betrachtung der R-Bestimmung zeigt jedoch, dass der R-Wert dem Infektionsgeschehen um ca. 9 Tage hinterherhinkt: Um beispielsweise das R für den 21.03. nach der vom RKI verwendeten 4-Tages-Methode zu berechnen, werden die Neuerkrankten vom 18.-21.03. mit jenen vom 14.-17.03. verglichen.12 Diese Neuerkrankten haben sich im Durchschnitt 5-6 Tage vorher angesteckt. Es werden also Ansteckungen vom 08./09.-11./12.03. mit jenen vom 12./13.-15./16.03. verglichen (Abbildung 4). Der Abbildung wird zur vereinfachten Darstellung eine Inkubationszeit von 5 Tagen statt 5-6 Tagen zugrunde gelegt.

Abbildung 4. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Das R vom 21.03. wäre daher geeignet, das Infektionsgeschehen um den 12.03. herum darzustellen. Insofern bildet die R-Kurve das aktuelle Infektionsgeschehen nur dann auf den Tag genau ab, wenn sie um 9 Tage vorverlegt wird (Abbildung 5; Daten nach RKI13).

Abbildung 5. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Die für die Kurve der Neuerkrankungen dargelegten Schwächen treffen in gleichem Maße auch auf die daraus abgeleitete R-Kurve zu. Es ist daher anzunehmen, dass das tatsächliche Maximum aufgrund fehlender Daten gar nicht erfasst wurde und dass die Infektionsdynamik im Zuge der Ausweitung der Testzahlen überschätzt wurde.

Abschätzung über das Meldedatum der Todesfälle

Um die Schwächen der oben dargestellten Methoden zu umgehen, könnte die Verwendung der Todeszahlen deutlich stabiler sein, da schwer Erkrankte großzügig getestet werden und Todesfälle in den meisten Ländern zuverlässig dokumentiert werden. Auch für die Todesfälle werden oft nur Kurven veröffentlicht unter Zugrundelegung der Meldedaten mit entsprechendem Meldeverzug. Diese zeigen ähnlich wie die Neuerkrankungen nach Meldedatum einen wellenförmigen Verlauf im Wochenrhythmus.14 Da der Meldeverzug auch hier nicht konstant ist, ist diese Methode ungeeignet, das Infektionsgeschehen retrospektiv auf den Tag genau abzubilden und Länderdaten untereinander zu vergleichen. Ebenso wie bei den Neuinfektionen gibt es auch hier einen Übermittlungsverzug.

Abschätzung über das Sterbedatum der Todesfälle

Für einige Länder einschließlich Deutschlands (Abbildung 6; Daten nach RKI15) werden mittlerweile auch Daten zum Sterbedatum veröffentlicht, was die Vergleichbarkeit untereinander deutlich verbessert.16 Aufgrund eines teilweise großen Übermittlungsverzuges sollten hier nur Daten berücksichtigt werden, die älter als zwei Wochen sind94.

Abbildung 6. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Um von den Sterbedaten auf das Infektionsgeschehen zu schließen, ist die durchschnittliche Latenz zwischen Infektion und Tod entscheidend. Die Zeit zwischen Infektion und Erkrankungsbeginn (Inkubationszeit) liegt bei durchschnittlich 5-6 Tagen.17 Die durchschnittliche Zeit zwischen Erkrankungsbeginn und Tod ist schwieriger zu ermitteln. Die meisten Studien stammen aus China, wo Werte zwischen 17 und 22 Tagen gefunden wurden18. Niedrigere Werte sind oft dadurch zu erklären, dass nicht alle Patienten einen Endpunkt erreicht hatten und keine Trunkierung angewendet wurde oder dass nur ein Median angegeben wurde, der einige Tage unter dem Mittelwert liegt. Ein Problem bei fast allen Studien ist, dass sie sich größtenteils auf im Krankenhaus behandelte Patienten beziehen, die eher jünger sind und vermutlich eine intensivere Versorgung erfahren. Patienten, denen eine Krankenhausbehandlung verwehrt blieb bzw. die palliativ behandelt wurden, sterben möglicherweise früher. So ergab eine Untersuchung unter palliativ behandelten Patienten im Median eine Zeit von 9 Tagen bis zum Tod (ein Mittelwert wurde nicht angegeben). Eine Studie aus UK modellierte unter Berücksichtigung von >3000 sowohl stationär als auch ambulant behandelter Verstorbener eine mittlere Zeit von 21 Tagen19, der verwendete Datensatz war jedoch möglicherweise nicht repräsentativ, so dass Unsicherheiten bleiben.

Für nachfolgende Berechnungen wird in Übereinstimmung mit einer viel zitierten Studie aus Wuhan eine Zeit von 18,5 Tagen angenommen.20 Zuzüglich der Inkubationszeit resultiert eine Zeit von 24 Tagen. Bezogen auf Deutschland mit seiner guten Ausstattung an Intensivbetten und vergleichsweise geringen Betroffenheit von Pflegeheimen könnte die reale Zeit etwas darüber liegen. Für stärker betroffene Länder in Europa könnte die Zeit mit zunehmender Überlastung des Krankenhaussektors gesunken sein und zeitweise darunter liegen.

Eine weitere Schwäche ist, dass die Kurve lediglich die Ansteckungsrate derjenigen Bevölkerungskohorte widerspiegelt, welche später im Zusammenhang mit dem Virus verstirbt. Bekanntermaßen haben sich zu Beginn der Pandemie vor allem jüngere Menschen bei sozialen Events wie dem rheinischen Karneval oder dem Après-Ski in den Alpen infiziert. Erst mit einiger Latenz - zu einem Zeitpunkt als das Infektionsgeschehen als Ganzes möglicherweise schon wieder rückläufig war - wurde das Virus in vulnerablere Bevölkerungsgruppen getragen. So lag das Durchschnittsalter der nachgewiesen Infizierten in KW 11 bei 43 Jahren, um bis KW 15 auf 52 Jahre zu steigen.21 Das Maximum der Infektionen unter Pflegeheimbewohnern liegt etwa 6 Tage später als der Durchschnitt22, ähnliche Beobachtungen wurden in UK gemacht, wo der Abstand 9 Tage betrug.23 Vereinzelte Ausbrüche in Pflegeheimen wurden auch bei bereits wieder rückläufigem Infektionsgeschehen gemeldet und dürften die Todesfälle daher relativ lange auf einem hohen Niveau gehalten haben.

Zuletzt kann es dadurch zu Verzerrungen kommen, dass die Zeit von Erkrankungsbeginn bis zum Tode keiner Normalverteilung folgt, weswegen auch der Mittelwert über dem Median liegt.24

Verschiebt man die Kurve aus Abbildung 6 mit den Todeszahlen um 24 Tage nach vorne und trägt diese zusammen mit der Kurve der Neuerkrankungen auf, ergibt sich tatsächlich eine gewisse Deckungsgleichheit (Abbildung 7; Daten nach RKI25).

Abbildung 7. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Äquivalent zu den Daten der Neuerkrankungen kann auch aus den Todeszahlen eine R-Kurve generiert werden. Damit diese das Infektionsgeschehen auf den Tag genau abbildet, wird sie für die Latenz von Erkrankungsbeginn bis zum Tod zunächst um 18,5 Tage (der vereinfachten Darstellung halber hier 19 Tage) und dann wie weiter oben dargelegt um weitere 9 Tage vorverlegt. Diese Kurve kann dann mit der R-Kurve nach Neuerkrankungen verglichen werden (Abbildung 8; Daten nach RKI26 und eigenen Berechnungen).

Wie oben dargelegt, unterliegen beide Darstellungsmethoden einigen Schwächen. Zumindest als gesichert kann aber gelten, dass die R-Kurve nach Neuerkrankungen aufgrund des starken Anstiegs der Testzahlen in den ersten Tagen zu weit rechts verläuft. Die R-Kurve nach Todeszahlen verläuft in den ersten Tagen ebenfalls eher zu weit rechts, da jene Infizierten, die im Verlauf verstarben, später im Pandemieverlauf erkrankten. Darüber hinaus wird die Schnelligkeit des Rückgangs Anfang bis Mitte März vermutlich unterschätzt, da der Eintrag von Infektionen in vulnerablere Bevölkerungsgruppen wie Pflegeheimbewohner die Zahl der Todesfälle hochgehalten hat. Ab Mitte März validieren sich beide Kurven gegenseitig und dürften der Realität daher nahekommen.

Für stark betroffene Länder ist zu berücksichtigen, dass während der Überlastung des Krankenhaussektors die Latenz zwischen Infektion und Tod möglicherweise <24 Tage lag, so dass die R-Kurve hier um wenige Tage zu weit links verläuft.

Abbildung 8. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Fazit

Die Abschätzung des Infektionsverlaufs über die Zahl der Neuinfektionen nach Meldedatum ist ungeeignet, da die Zeit zwischen Erkrankungsbeginn und Meldedatum variiert und nicht immer bekannt ist. Zudem ist der Erkrankungsbeginn hieraus nicht ableitbar. Die Verwendung des bekannten bzw. geschätzten Erkrankungsdatums ist deutlich zuverlässiger. Zu beachten ist hierbei aber, dass durch fehlende Testungen das Infektionsgeschehen zunächst übersehen und durch schnelle Ausweitung der Testzahlen dann überschätzt wurde. Da es neben Deutschland kaum Länder gibt, die Zahlen nach Erkrankungsdatum veröffentlicht haben, ist ein Ländervergleich anhand der Neuinfektionen nicht zuverlässig möglich.

Die Berechnung über die Todeszahlen nach Meldedatum ist ungeeignet, da die Zeit zwischen Todesdatum und Meldedatum variiert und nicht immer bekannt ist. Die Verwendung der Todeszahlen nach Sterbedatum ist deutlich zuverlässiger. Allerdings wird hiermit nur das Infektionsgeschehen der vulnerablen Bevölkerungsgruppen widergespiegelt, welche sich eher später infiziert haben. Hinzu kommen variable Latenzen zwischen Erkrankungsbeginn und Tod, die innerhalb eines Landes und zwischen verschiedenen Ländern variieren können. Nichtsdestotrotz bieten diese Zahlen die beste Methode zum Vergleich verschiedener Länder, sofern entsprechende Daten vorliegen.

Welchen Einfluss hatten die Kontaktbeschränkungen?

Da das neuartige Coronavirus wie andere Erreger von Atemwegserkrankungen vor allem per Tröpfcheninfektion übertragen wird, ist es naheliegend, dass eine Reduktion sozialer Kontakte die Weiterverbreitung des Virus abbremst oder gar eindämmt. Die Erfahrungen aus dem italienischen Ort Vó scheinen dies zu beweisen. Hier hat die zweiwöchige Isolierung der Infizierten kombiniert mit der Abriegelung der gesamten Gemeinschaft das Reff von 2,49 auf 0,41 senken können, während sich das Virus im Umland weiter ausgebreitet hat.27 Ob ähnliche Maßnahmen auch bezogen auf ein ganzes Land funktionieren, ist hingegen unklar. In Deutschland hat die Bundesregierung verschiedene Maßnahmen erlassen, deren Wirkung seitens des RKI als erfolgreich beurteilt wurde.28 Ob der Rückgang des Infektionsgeschehens tatsächlich mit diesen Maßnahmen korreliert, wird im Folgenden geprüft. Da einzelne Verordnungen nur bedingt das tatsächliche Verhalten der Bevölkerung abbilden, wird darüber hinaus nach Korrelationen zwischen der Mobilität und dem Infektionsgeschehen in Deutschland und weiteren europäischen Ländern gesucht.

Welchen Einfluss hatten die staatlichen Verordnungen in Deutschland?

Um einen möglichen Einfluss der wesentlichen Regierungsverordnungen abzuschätzen, werden nachfolgend wie bereits durch das RKI29 die drei wichtigen Verordnungen vom 09.03., 16.03. und 23.03. dem Infektionsgeschehen gegenübergestellt (Abbildung 9; Daten nach RKI30).

Abbildung 9. Grafik: Wolf Hinrich Wallis
1 = Absage großer Veranstaltungen in verschiedenen Bundesländern (bei über 1.000 Teilnehmer)
2 = Bund-Länder-Vereinbarung zu Leitlinien gegen die Ausbreitung des Coronavirus
3 = Bundesweit umfangreiches Kontaktverbot;

Beide R-Kurven zeigen bereits vor dem 09.03. einen deutlichen Rückgang auf <1,5. Danach kommt es zu einem weiteren Rückgang bis <1 innerhalb weniger Tage. Der Trend der Kurven ändert sich ab dem 09.03. nicht, so dass ein Einfluss der Verordnung (Verbot von Großveranstaltungen) nicht unmittelbar erkennbar ist. Es ist aber möglich, dass die Absage von Großveranstaltungen den bestehenden Trend aufrechterhalten hat und das R andernfalls nicht unter 1 gesunken wäre. Dies wird dadurch plausibel, dass viele lokale Ausbruchsherde auf Großveranstaltungen zurückgingen. Beispiele aus Deutschland hierfür sind Karnevalsveranstaltungen (Heinsberg), Bierfeste (Tirschenreuth) oder kirchliche Veranstaltungen (Kupferzell).

Während der Verordnungen vom 16.03. und 23.03. liegt das R bereits stabil bei bzw. knapp <1 ohne sich wesentlich zu verändern. Auch hier ändern die Verordnungen den Trend der Kurven also nicht, so dass ein Einfluss nicht unmittelbar erkennbar ist. Nichtsdestotrotz könnten die Verordnungen den bestehenden Trend aufrechterhalten haben.

Die Verordnungen vom 16.03. beinhalteten unter anderem Schulschließungen. Hierbei ist es nicht unbedingt plausibel, dass ein Effekt zu erwarten ist. Bei weiterhin widersprüchlichen Studienergebnissen31, zeigt sich insgesamt, dass Kinder anders als bei der Influenza in weitaus geringerem Maße am Infektionsgeschehen beteiligt sind und Schulschließungen daher nur begrenzt wirksam sein können.32 Zudem ist bekannt, dass das Daheimbleiben der Kinder vielfach zu Betreuungsproblemen geführt hat, so dass verstärkt Familienangehörige wie die Großeltern die Betreuung übernehmen mussten und hierdurch neue potentielle Infektionsketten geschaffen wurden. Möglicherweise wurde ein geringer günstiger Effekt dadurch wieder aufgehoben.

Hinsichtlich der Kontaktbeschränkungen ab dem 23.03. ist es möglich, dass diese zur Aufrechterhaltung zuvor bereits freiwillig befolgter Verhaltensregeln beigetragen haben.

Zusammenfassend ist das Infektionsgeschehen bereits vor den wesentlichen Verordnungen stark zurückgegangen. Ein deutlich erkennbarer Effekt der drei Verordnungen zeigt sich nicht. Der Plausibilität nach dürfte das Verbot von Großveranstaltungen das weitere Absinken des Infektionsgeschehens aber begünstigt haben. Ein gering ausgeprägter positiver Effekt der Schulschließungen wurde möglicherweise durch die Schaffung neuer Infektionsketten aufgehoben. Die Kontaktbeschränkungen ab dem 23.03. könnten über eine psychologische Wirkung das bereits vorher angenommene Verhalten der Bevölkerung aufrechterhalten haben.

Welchen Einfluss hatte die Mobilität in Deutschland?

Wie oben dargelegt, ist ein eindeutiger Effekt der drei wesentlichen Regierungsmaßnahmen nicht erkennbar. Möglicherweise hat sich das Verhalten der Bevölkerung jedoch bereits vorher und unabhängig von den Verordnungen verändert. Zudem gab es parallel unter anderem in den Unternehmen weitreichende Veränderungen, so dass der Effekt einer einzelnen Maßnahme eventuell nicht darstellbar ist.

Ein möglicherweise besseres Maß für die Reduktion sozialer Kontakte ist das Mobilitätsverhalten, wie es von mehreren IT-Unternehmen dokumentiert wurde. Apple hat das Volumen der Suchanfragen der Nutzer nach driving (Fahren), walking (Gehen) und transit (öffentliche Verkehrsmittel) mit dem Referenztag 13. Januar (100%) in Beziehung gesetzt (Abbildung 10; Daten nach Apple33).

Abbildung 10. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Es ist ein deutlicher Wochenrhythmus mit einem Maximum der Suchanfragen an Samstagen zu erkennen. Gegen Mitte Februar zeigt sich ein deutlicher Anstieg. Dieser steht möglicherweise mit dem Karneval in Verbindung. Tatsächlich konnte in Köln ein besonders starker Anstieg dokumentiert werden.34 Von Mitte/ Ende Februar bis Anfang März ist ein langsamer Rückgang zu beobachten. Es kann spekuliert werden, dass dies mit dem Ende des Karnevals erklärt werden kann. Dass die mediale Berichterstattung hinsichtlich der Coronapandemie einen zunehmenden Einfluss auf das Verhalten hatte, ist möglich. Während der deutsche Gesundheitsminister am 23. Januar noch verkündete, dass der Verlauf von COVID-19 deutlich milder als bei einer Grippe sei35, teilte er am 26. Februar mit, dass Deutschland am Beginn einer Coronavirus-Epidemie stehe und die Infektionsketten teilweise nicht mehr nachvollziehbar seien.36 Einen Tag später wurde ein Krisenstab eingerichtet. Am gleichen Tag wurden in Heinsberg hunderte Menschen unter Quarantäne gestellt.37 Ebenfalls ab Ende Februar (KW 9) gibt es erste Berichte über Ausverkäufe in Supermärkten38, was sich anhand der Umsatzzahlen für Klopapier, Desinfektionsmittel, Seife und Mehl zeigen lässt, deren Maximum zwischen KW 10 und 12 erreicht wurde.39 Die Fluggastzahlen und die Umsätze im Gastgewerbe gingen erst ab KW 10 zurück.40 Sollte dies schon zu einer Verhaltensänderung beigetragen haben, war diese jedoch zumindest gemessen an den Mobilitätsdaten nur sehr gering, da das Niveau bis Anfang März immer noch bei über 100% lag. Ab Anfang/ Mitte März kam es dann zu einem starken Abfall, der bis zum 21. März anhielt. Die Verordnungen vom 09. und 16.03. könnten den rückläufigen Trend verursacht bzw. verstärkt haben, während die Verordnung vom 23.03. bereits auf ein Minimum bei der Mobilität traf.

Abbildung 11 (Daten nach RKI41 und Apple42) setzt die Mobilitätsdaten für transit in Beziehung zum Infektionsgeschehen.

Abbildung 11. Grafik: Wolf Hinrich Wallis
Abbildung 12. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Der erste Eindruck der Kurvenverläufe in Abbildung 11 legt nahe, dass der Rückgang der Mobilität Mitte März mit einem Abflachen und schließlich Rückgang der Kurven des Infektionsgeschehens korreliert. Werden jedoch die R-Kurven verwendet, die ein Maß für die Steigung der obigen Kurven sind, ändert sich der Eindruck (Abbildung 12; Daten nach RKI43 und Apple44). Hier zeigt sich bereits Ende Februar/ Anfang März ein starker Rückgang bis auf etwa 1,5, der nicht ohne weiteres durch die Mobilität erklärt werden kann, die gegenüber der Hochzeit des Karnevals nur sehr leicht zurückgegangen war. Der weitere Abfall des R auf <1 korreliert schließlich mit dem starken Rückgang der Mobilität. Insgesamt sprechen diese Beobachtungen dagegen, dass die Mobilität - gemessen an den Suchanfragen der Apple-Nutzer - der alleinige oder bestimmende Faktor beim beobachteten Rückgang des Infektionsgeschehens ist.

Mögliche Hypothesen zu diesen Beobachtungen sind folgende:

  1. Die Apple-Daten sind kein geeignetes Maß für das Verhalten der Bevölkerung im Hinblick auf soziale Kontakte. Besonders das Verhalten älterer Menschen wurde dadurch kaum erfasst. Wesentliche Verhaltensänderungen haben bereits Mitte/ Ende Februar eingesetzt und waren starke Treiber für den Rückgang des Infektionsgeschehens.

    Beurteilung: Zur Zeit des Karnevals und unmittelbar danach waren kaum Verhaltensänderungen zu beobachten. Die Krise wurde zu dieser Zeit noch als weit entferntes Geschehen betrachtet und das öffentliche Leben schien unbeeinträchtigt. Selbst der Krisenherd in Heinsberg wurde zunächst kaum als Bedrohung empfunden. Es bleibt unklar, ob der gesteigerte Einkauf von zum Beispiel Desinfektionsmittel in der letzten Februarwoche auch mit einem relevant geänderten Kontaktverhalten einherging. Sollte ein besseres Maß für das Verhalten insbesondere der älteren Bevölkerung existieren, sollte dieses genutzt werden, um mögliche Zusammenhänge besser veranschaulichen zu können.

  2. Die R-Kurven unterliegen zahlreichen Ungenauigkeiten, der reelle Verlauf lag weiter rechts. Somit korreliert die Infektionsdynamik doch stark mit der Mobilität.

    Beurteilung: Da die reelle Kurve wie weiter oben ausgeführt sicher nicht rechts der R-Kurve nach den Neuerkrankungen liegt, ist diese Hypothese nicht plausibel. Die R-Kurve nach Todeszahlen könnte wenige Tage zu weit links liegen sofern die Latenz von Infektion bis Tod <24 Tage beträgt. Dies würde grundsätzlich aber nichts daran ändern, dass die Infektionsdynamik bereits zurückgegangen ist, bevor die Mobilität stark abfiel.

  3. Schon der leichte Rückgang der Mobilität durch das Ende der Karnevalsveranstaltungen, eventuell kombiniert mit der rückläufigen Einreise Infizierter (z.B. aus den Skigebieten der Alpen) hat ausgereicht, um das Infektionsgeschehen deutlich abzubremsen und den R-Wert auf 1,5 fallen zu lassen. Die Reproduktionszahl für die Zeit außerhalb des Karnevals liegt in Deutschland somit eher bei 1,5 als bei 2,5 und damit ähnlich wie bei der Influenza.

    Beurteilung: Diese Faktoren haben mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Rückgang beigetragen, das genaue Ausmaß ist aber schwer abschätzbar. Eine Untersuchung hat gezeigt, dass katholische Gebiete - vermutlich durch den Karneval - ein deutlich stärkeres Infektionsgeschehen erlebten und dass möglicherweise nahezu die Hälfte aller nach Deutschland eingebrachten Infektionen auf Ischgl zurückgingen.45 Das Ende von Karneval und Skisaison dürften daher tatsächlich von großer Bedeutung gewesen sein.

  4. Die Mobilität ist nicht der vorherrschende Einflussfaktor auf das Infektionsgeschehen. Saisonale Faktoren spielen eine größere Rolle.

    Beurteilung: Mehrere Studien zeigten eine starke Korrelation mit Umweltfaktoren. Insbesondere kühle Temperaturen, eine niedrige Luftfeuchtigkeit und hohe Luftverschmutzung in Kombination mit geringem Wind begünstigten die Ausbreitung.46 Eine Studie zeigte, dass Durchschnittstemperaturen zwischen 5 und 11°C sowie eine absolute Luftfeuchtigkeit zwischen 4 und 7g/kg Ausbrüche begünstigte.47 Ein Vergleich der Klimaverhältnisse im Februar und März zwischen stark (z.B. London) und weniger stark (z.B. Berlin) betroffenen Städten in Europa könnte weiteren Aufschluss bringen.

  5. In der Bevölkerung hat sich durch zunehmende Durchseuchung eine Immunität aufgebaut, wodurch sich die Infektionsdynamik abgeschwächt hat.

    Beurteilung: Diese Hypothese scheint ausgeschlossen, da nach bisherigem Stand nur bei einem sehr kleinen Teil der Bevölkerung Antikörper nachweisbar sind. Selbst wenn ein größerer Anteil der Infizierten keine humoralen Antikörper entwickelt und somit den Seroprävalenzstudien entgeht, wäre eine Herdenimmunität noch lange nicht erreicht.

  6. Es gibt in Mittel- und Osteuropa eine vorbestehende und weit verbreitete Immunität, die frühzeitig die Infektionsdynamik in Deutschland limitiert hat.

    Beurteilung: Mehrere Studien zeigen, dass um oder mehr als die Hälfte der Personen, die noch keinen Kontakt zum Virus hatten, eine unspezifische T-Zell-Immunität gegen das neue Coronavirus besitzen.48 Möglicherweise ist diese Hintergrundimmunität in Deutschland stärker ausgeprägt. Die mit dem Virus in Kontakt Gekommenen haben das Virus dadurch möglicherweise schnell eliminiert, sind kaum erkrankt und haben die Infektion kaum weiterverbreitet. Die Plausibilität dieser Hypothese müsste durch longitudinale Studien in unterschiedlich stark betroffenen Regionen ermittelt werden. Insgesamt gibt es aber bislang keinen Grund dafür anzunehmen, dass Mittel- und Osteuropäer mehr Immunität besitzen als Westeuropäer.

  7. Die Quarantäne von nachgewiesenen Infizierten und deren engen Kontaktpersonen war bereits so erfolgreich, dass dadurch das R <1,5 gefallen ist.

    Beurteilung: Die Quarantäne betraf vor allem symptomatische Infizierte und deren enge Kontaktpersonen. Eine Vielzahl vor allem prä- und asymptomatisch Infizierter wurde dadurch jedoch nicht erkannt. Daher ist diese Hypothese nur dann plausibel, wenn die prä- und asymptomatischen Infizierten nicht wesentlich an der Weiterverbreitung beteiligt sind. Bei weiterhin unklarer Datenlage scheinen die Präsymptomatischen eine hohe, die Asymptomatischen jedoch eine geringere Bedeutung bei der Weiterverbreitung zu haben116. Eine abschließende Beurteilung über die derzeit praktizierte Quarantäne ist daher kaum möglich.

Zusammenfassend bleibt es unklar, welchen Einfluss das Mobilitätsverhalten auf das Infektionsgeschehen in Deutschland hatte. Es ist gut möglich, dass der Rückgang auf eine Kombination von Verhaltensänderungen, saisonalen und weiteren Faktoren zurückgeht. Regierungsverordnungen und Mobilität allein scheinen aber eher eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben.

Welchen Einfluss hatte die Mobilität in den Niederlanden, Schweden und UK?

Eine eindeutige und starke Korrelation zwischen Infektionsdynamik und Mobilität konnte für Deutschland nicht gezeigt werden. Möglicherweise kann dies aber für andere, stärker betroffene Länder in Europa gezeigt werden. Erschwerend ist hierbei, dass sich sowohl das Infektionsgeschehen, als auch die Mobilität in vielen Ländern nahezu gleichzeitig veränderten, wie den Grafiken der University of Washington zu entnehmen ist.49 Ein erkennbar früherer Anstieg der gemeldeten Todeszahlen zeigt sich innerhalb Europas lediglich in Italien, Spanien und Frankreich. Da für diese Länder aber keine Todeszahlen nach Sterbedatum veröffentlicht wurden, sind zuverlässige Korrelationen mit den Mobilitätsdaten schwierig. Für die Niederlande, Schweden und UK liegen hingegen entsprechende Daten vor, so dass diese Länder im Folgenden näher untersucht und Deutschland gegenübergestellt werden.

Abbildung 13 (Daten nach RKI50, SCB51, RIVM52 und ONS153; Bevölkerungsdaten nach Wikipedia54) zeigt die Todesfälle pro 100.000 Einwohner, rückdatiert auf das mutmaßliche Ansteckungsdatum. Während die Kurven in allen Ländern jeweils zu einem ähnlichen Zeitpunkt ansteigen, fällt der Anstieg in Deutschland deutlich weniger steil aus.

Abbildung 13. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Die Latenz zwischen Infektion und Tod liegt in den stark betroffenen Ländern insbesondere zur Zeit der Überlastung eventuell unter 24 Tagen, weswegen der reelle Kurvenverlauf hier um wenige Tage nach rechts verschoben sein könnte. Dies gilt wegen seiner starken Betroffenheit insbesondere für UK, könnte aber auch auf die Niederlande und Schweden zutreffen, wo vor allem ältere Patienten allgemein einen schlechteren Zugang zur Intensivpflege haben als in Deutschland, was sich durch andere medizinethische Vorstellungen und eine um den Faktor 5 niedrigere Zahl an Intensivbetten erklären ließe.55

Die Niederlande

Deutschland und die Niederlande sind in den Abbildungen 14 und 15 (Daten nach RKI56, RIVM57 und Apple58; Bevölkerungsdaten nach Wikipedia59) dargestellt.

Abbildung 14. Grafik: Wolf Hinrich Wallis
Abbildung 15. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Der Verlauf der Mobilität war in beiden Ländern relativ ähnlich, wobei in Deutschland während der Karnevalszeit relativ zum Ausgangsniveau ein höheres Maß erreicht wurde und in den Niederlanden der Rückgang kurz vorher einsetzte und etwas ausgeprägter war. Todesfälle wurden in den Niederlanden 2 Tage früher registriert und stiegen deutlich schneller an. Korrelierend hierzu fand sich initial ein sehr hohes R. Wie auch in Deutschland fällt das R bereits auf einem noch hohen Mobilitätsniveau wieder stark ab und nähert sich schließlich allmählich Werten <1.

Der initial hohe R-Wert in den Niederlanden könnte auf das massive Einbringen von Infektionen aus dem Ausland und/ oder lokale Ausbruchsherde im Inland zurückgehen. Der äquivalente starke Abfall des R auf Werte <1,5 noch während des hohen Mobilitätsniveaus spricht wie bereits für Deutschland gezeigt dafür, dass die Mobilität nicht der alleinige bzw. bestimmende Faktor beim Rückgang der Infektionsdynamik war.

Schweden

Deutschland und Schweden sind in den Abbildungen 16 und 17 (Daten nach RKI60, SCB61 und Apple62; Bevölkerungsdaten nach Wikipedia63) dargestellt. In Schweden wurde kein besonderer Anstieg der Mobilität in der Karnevalszeit beobachtet. Der Rückgang hat ziemlich zeitgleich eingesetzt, war jedoch langsamer und hat kein so niedriges Niveau wie in Deutschland erreicht. Todesfälle wurden erst 9 Tage später als in Deutschland beobachtet, der Anstieg war aber ähnlich wie in den Niederlanden deutlich schneller. Die R-Kurve startet anders als in Deutschland mit einem relativ niedrigen Wert und nähert sich dann parallel zu Deutschland Werten <1. Tendenziell liegt die R-Kurve aber leicht über jener in Deutschland und verharrt längere Zeit bei knapp 1, was möglicherweise auf den geringeren Rückgang bei der Mobilität zurückzuführen ist. Dies erklärt auch den zögerlicheren Rückgang der täglichen Todesfälle. Eine starke Korrelation zwischen Mobilität und Infektionsdynamik lässt sich aber auch hier nicht belegen.

Abbildung 16. Grafik: Wolf Hinrich Wallis
Abbildung 17. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

UK

Deutschland und UK sind in den Abbildungen 18 und 19 (Daten nach RKI64, ONS65 und Apple66; Bevölkerungsdaten nach Wikipedia67) dargestellt.

Abbildung 18. Grafik: Wolf Hinrich Wallis
Abbildung 19. Grafik: Wolf Hinrich Wallis

Ähnlich wie in den Niederlanden und in Schweden zeigt sich für UK kein besonderer Anstieg der Mobilität in der Karnevalszeit. Der Rückgang setzte gleichzeitig ein und erreichte ein niedrigeres Niveau als in Deutschland, was als Folge der strengen Ausgangssperre gesehen werden kann. Der erste Todesfall wurde 6 Tage vor Deutschland registriert, der Anstieg der Todesfälle war deutlich stärker ausgeprägt als in Deutschland. Initial zeigten sich in UK relativ hohe R-Werte, die jedoch bereits früh wieder stark abfielen und sich schließlich parallel zu Deutschland Werten <1 annähern. Trotz stärker reduzierter Mobilität, konnte das R also nicht stärker als in Deutschland abgesenkt werden. Ein starker Einfluss der Mobilität ist nicht zu erkennen.

Zusammenfassend zeigt sich, dass sich das Infektionsgeschehen in den Niederlanden, Schweden und UK unabhängig von der Mobilität deutlich dynamischer als in Deutschland entwickelt hat. Noch auf einem Niveau hoher Mobilität ist das Infektionsgeschehen in allen Ländern genau wie in Deutschland wieder deutlich rückläufig, was gegen einen starken Einfluss der Mobilität spricht. Das Beispiel Schwedens legt allerdings nahe, dass die nur moderat eingeschränkte Mobilität das R erst mit leichter Verzögerung unter 1 gesenkt hat, wodurch das einmal erreichte Infektionsniveau zunächst hoch blieb und sich so auch die Zahl der Todesfälle etwas länger auf einem hohen Niveau hielt. Die in UK gegenüber Deutschland deutlich stärker reduzierte Mobilität zeigte hingegen keine zusätzliche Wirkung. Dies steht in Übereinstimmung mit einer Beobachtungsstudie, die keine Vorteile einer strengen Ausgangssperre gegenüber moderateren Maßnahmen der Kontaktbeschränkung sieht.68

Fazit

Für Deutschland konnte kein starker Einfluss der drei wesentlichen Regierungsverordnungen oder der Mobilität - gemessen an den Suchanfragen auf Apple - auf die Infektionsdynamik gezeigt werden. Auch in den Niederlanden, Schweden und UK zeigen sich keine starken Korrelationen. Das in Schweden gegenüber den anderen Ländern leicht erhöhte Reff mit konsekutiv langsamerem Rückgang der Todesfälle könnte auf die geringere Reduktion der Mobilität zurückgehen.

Abkürzungsverzeichnis

CDC Centers for Disease Control and Prevention (US-amerikanische Gesundheitsbehörde)
CFR Case Fatality Rate
ECDC European Centre for Disease Prevention and Control (Europäische Gesundheitsbehörde)
EuroMOMO European Mortality Monitoring
FluMOMO Flu Mortality Monitoring
IFR Infection Fatality Rate
KW Kalenderwoche
NL Niederlande
ONS Office for National Statistics (Büro der Statistikbehörde in UK)
PCR Polymerasekettenreaktion
R0 Basisreproduktionszahl
Reff Effektive Reproduktionszahl
RIVM Rijksinstituut voor Volksgezondheid en Milieu (niederländische Gesundheitsbehörde)
RKI Robert Koch – Institut
S Schweden
SCB Statistika centralbyrån (schwedische Statistikbehörde)
UK United Kingdom