Wie weit ist der Weg vom Christen zum Coronaleugner?
Seite 3: Was finden Coronaleugner an Christen?
Beim Thema Christen und Rechte lautete die erste Frage, was Christen an Rechten finden und dann die Zweite, was umgekehrt Rechte an Christen finden. Beim Thema Christen und Coronaleugner lautete die erste Frage, was Christen an ihnen finden. Und jetzt geht es darum, was Coronaleugner an Christen finden.
Es gab einen Gottesdienst. Oder einen Fake-Gottesdienst, wie idea suggeriert, das aber dürfte Ansichtssache sein.
Der christliche Komponist Siegfried Fietz erfuhr,
dass das von ihm vertonte Kirchenlied 'Von guten Mächten wunderbar geborgen' im November 2020 auf einer 'als Gottesdienst getarnten Veranstaltung von Querdenkern' in München gesungen worden war. Der Text des Liedes geht auf ein Gedicht des 1945 von den Nationalsozialisten ermordeten Pfarrers und Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) zurück. Er verfasste den Liedtext im Dezember 1944, als er in der Gestapo-Haft in Berlin saß. Es ist der letzte theologische Text von ihm, bevor er am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg in der Oberpfalz hingerichtet wurde." Dieser Querdenker-Gottesdienst wurde von der Polizei in dem Moment aufgelöst, als das Lied gesungen wurde. Das wurde gefilmt. Und auf "Facebook sei dazu aufgerufen worden, gerade diese Szene zu teilen, so Fietz. Er sei über diese Aktion informiert worden und habe gegen den Gebrauch des Videos auf allen Kanälen wegen eines Rechteverstoßes Beschwerde eingelegt: 'Das war das Einzige, was wir tun konnten.' Fietz ist Rechteinhaber der Melodie. Wie der 75-Jährige weiter sagte, muss man sich in der Debatte um die Querdenker und die Corona-Pandemie positionieren: 'Die Querdenker können sich doch nicht mit Bonhoeffer vergleichen und so tun, als seien sie Märtyrer. Darin sieht Fietz einen Missbrauch seiner Musik. [...] Facebook-Nutzer, die seine Ansicht nicht teilten, hätten daraufhin dafür gesorgt, dass sein Kanal gesperrt wurde. Wenn sich viele Nutzer beschwerten, werde eine Seite automatisch gesperrt, so Fietz. Er habe Facebook auf eine Rücknahme der Entscheidung drängen wollen, doch das sei nicht möglich gewesen: 'Da erreicht man niemanden.'
Die Facebook-Seite des Komponisten sperren zu lassen, dürfte eine heftige Racheaktion christlicher Querdenker gewesen sein.
Was finden Coronaleugner an Christen? Wenn die Veranstaltung tatsächlich ein Fake-Gottesdienst war, dann kann man vermuten, dass die Veranstalter vom Grundrecht der Religionsfreiheit profitieren wollten.
Aber dies ist bloß ein Beispiel, weitere Untersuchungen stehen aus.
Zusammenfassung und die Frage nach dem Warum
Wir haben gesehen, dass es Schnittmengen zwischen Christen und Rechten und zwischen Christen und Coronaleugnern gibt. Aber warum?
Was ist aus den Thesen geworden? Zur Erinnerung:
- Konservative und evangelikale Christen vertreten ein traditionelles Familienbild, kämpfen gegen die so genannte Gender-Ideologie, gegen eine angebliche Islamisierung Europas, und gegen die Abtreibung. Mit diesen Themen können sie Heimat in der rechten Szene finden.
- Für viele konservative und evangelikale Christen ist Covid-19 ein Thema unter vielen, um Verschwörungsdenken zu zelebrieren, sich als Opfer darzustellen und in diesem Zusammenhang politischen Lobbyismus auf Basis einer konservativen Auslegung der Bibel zu betreiben.
- Die Evangelikale Szene ist eine Minderheit und zudem von innerer Zersplitterung bedroht. Ihr Ziel ist die Mission. Gegen die Zersplitterung und für die Mission versucht sie Covid-19 auszunutzen, in beide Richtungen, als Leugner und als Unterstützer.
Diese Thesen haben sich bestätigt. Aber warum?
Gleichgesinnte finden, in einer Opferhaltung politischen Lobbyismus betreiben, Missionieren – das sind offensichtlich starke Gründe, um sich mit Rechten und Coronaleugnern zu verbünden. Aber gibt es auch etwas innerreligiöses, vielleicht sogar innerchristliches – Mission geht ja in diese Richtung?
Im Jahr 1966 hat Gorden W. Allport von der Harvard Universität einen Artikel veröffentlicht (Allport 1966): The religious context of prejudice. Der berühmteste und immer wieder zitierte Satz daraus lautet: "there is something about religion that makes for prejudice, and something about it that unmakes prejudice."
Theologie betone Mitgefühl, aber sie habe auch drei Themen, die Bigotterie ermunterten: Offenbarung, Erwählung und Theokratie. Die meisten Christen kennten sich in der Theologie allerdings kaum aus und letztlich, vermutet Allport, seien Religion und Vorurteil psychologische Ausformungen im persönlichen Leben. Auch Adorno hatte schon in diese Richtung geforscht. Es gab dann viele Folgestudien.
Und im vergangenen Jahr sind mehrere Texte zum Thema erschienen.
So schrieb die promovierte katholische Theologin Sonja Angelika Strube (Strube 2021) über die Folgestudien, über empirischen Forschungen. Sie verweist vor allem auf Forschungen von Heinz Streib und Constantin Klein.
Mit geringer Vorurteilsneigung gehen demnach "reife Formen der Religiosität" einher, die darauf beruhen, dass man einfach fair ist oder andere Religionen als Bereicherung empfinde. Mit "höherer interreligiöser Vorurteiligkeit einhergehen demgegenüber wenig komplexe fundamentalistische religiöse Stile, die durch ein absolutistisches, exklusives und literales Verständnis der eigenen heiligen Texte geprägt sind."
Strube schreibt auch: "Ein literaler dogmatistischer Zugang zur Welt und ein entsprechendes, die eigene Perspektive verabsolutierendes Weltbild sind allerdings keine exklusiven Merkmale von Religion bzw. spezifischen religiösen Stilen, sondern können auch mit einem atheistischen Weltbild einhergehen.
Dies bedeutet zum einen, dass es auch areligiöse Fundamentalist*innen gibt, und zum anderen, dass die von manchen atheistischen Interessenverbänden geforderte Ausblendung des Religiösen aus dem öffentlichen Raum bzw. die gewünschte grundsätzliche 'Überwindung' von Religion das Problem fundamentalistischer Gewalt keinesfalls lösen würde."
Ähnliches der Journalist Andreas Speit (Speit 2021), der in seinem Buch "Verqueres Denken. Gefährliche Weltbilder in alternativen Milieus" verschiedene Bewegungen untersucht, QAnon, rechte Esoteriker und Anthroposophen etwa.
Ihm fällt auf, dass Rechte und Alternative gemeinsam demonstrieren. Seiner Ansicht nach haben solche Gesellschaftsentwürfe auch problematische Weltbilder, die zumindest anschlussfähig an autoritäres Denken seien, teilweise auch völkische oder menschenfeindliche Vorstellungen hätten.
Die Wissenschaftler Verena Schneider, Gert Pickel und Cemal Öztürk (2021) fragten in einer Studie andersherum, was nämlich Religion für Rechtsextremismus bedeute. Inwieweit erweise sich Religiosität oder eine bestimmte Form von Religiosität sich als förderlich für rechtsextreme Einstellungen?
Nicht rein zufällig riefen Rechtspopulisten, Verschwörungsmythologen und Rechtsextremisten gerne zur "Verteidigung des christlichen Abendlandes" auf. Andererseits kämen gerade aus kirchlicher Seite Betreuungsmöglichkeiten für Geflüchtete etc.
Sie verweisen auf Forschungen zur Religiosität und fragen erstens, ob Zusammenhänge zwischen Religion bzw. Religiosität und rechtsextremen Einstellungen bestehen und zweitens, welche Wirkung Religiosität und Religionszugehörigkeit auf rechtsextreme Einstellungsmuster haben.
Sie analysieren die wenigen repräsentativen Umfragen dazu. Ihnen zufolge sind dogmatische Christen offener für Vorurteile, und Christen mit eher sozialer Religiosität ablehnender gegenüber Vorurteilen und offener für Pluralismus. Auch auf rechtsextreme Einstellungen hat Religiosität eine ambivalente Wirkung. Die Wirkung von Religiosität sei ambivalent.
Viele Forscher sprechen von Scharnieren, von Offenheit gegenüber solchen und solchen Einstellungen. Ich finde aber nicht, dass klar ist, was womit einhergeht: Was ist Ursache, was ist Wirkung? Sind dogmatische Christen offener für Vorurteile, oder sind sie dogmatisch, weil sie Vorurteile haben und diese rechtfertigen wollen?
Also: Treffen sich in den Schnittmengen einfach Menschen, die ein "fundamentalistisches Weltbild" haben? Als Theologin muss ich auch kritisch nachfragen, wenn es um das Christentum geht: Die meisten Argumentationen scheinen eine Art Ergriffen-Sein durch, ja, den Heiligen Geist, negativ zu betrachten, ebenso wie die Notion der Offenbarung. Das aber macht die Argumentation irgendwie unvollständig.
Kritische Gläubige argumentieren anders: Kommt Impfskepsis von Wissenschaftsskepsis? So der Evangelikale Michael Diener und der Katholische Theologe Johannes Hartl, der ein Gebetshaus in Augsburg leitet (was mir suspekt ist, aber das ist ein anderes Thema).
Von Misstrauen gegenüber dem Staat? (Diener) Sind Evangelikale anfällig für Verschwörungstheorien wegen des engen sozialen Gefüges, in dem sie sich oft bewegen? (Johannes Hartl) Neigen sie zu Polaritäten zwischen richtig und falsch? (Johannes Hartl)
Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
Die Gesellschaft ist gespalten – diese Einschätzung kommt immer wieder zum Vorschein. Aber ist sie das wirklich?
Ein großer Teil der evangelikalen Bewegung ist und bleibt innerhalb der Landeskirche, Bauer schreibt dazu: "Der evangelikalen Bewegung kommt mit ihrer bloßen Existenz, weniger im Hinblick auf ihre inhaltlichen Themen, eine hohe Bedeutung als Indikator für diese vitalen Kräfte der Kirche zu." (674)
Aber - vielleicht ändert sich das gerade: Guske sieht die Evangelikalen an der Schwelle zwischen Evangelikalismus und Fundamentalismus (221f.)
Rechte, Neurechte, Rechtspopulisten, Rechtsextreme und vor allem Rechtsextremisten stehen anders da als die konservativen Christen: Sie wollen von vornherein die Gesellschaft ändern, im Extremfall stürzen.
Coronaleugner sind vielleicht eine Art Warnsignal: Dafür, dass viele Menschen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Staat haben und mit vielen Entwicklungen unzufrieden sind.
Vielleicht läuft sich die Bewegung allmählich tot – so wie die anfänglichen Proteste gegen die Anschnallpflicht im Auto und Helmpflicht beim Motorradfahren.
Kirchen und Freikirchen stehen einer großen Herausforderung gegenüber: Die konservativen Christen sind besonders aktiv und interessieren sich für spezifisch religiöse Themen. Die Kirche hat die Aufgabe, aufzuklären. Und das ist schwierig, wenn das Gegenüber nicht aufgeklärt werden will. Eine Art Gebrauchsanweisung für die Situation gibt Ulrich Kasparik (Kasparik 2017):
Er ist Pfarrer im Uckerland und schreibt, dass die AfD Herzen auf dem Land gewinne, nämlich dort, wo niemand offen rede. Und er beschreibt, wie man als Gemeinde kommunizieren kann, nämlich durch verschiedene soziale Medien. Seine Gemeinde habe damit gute Erfahrungen gemacht. Und er betont die Kirchenfeindlichkeit der AfD.
Demnächst werden Zahlen veröffentlicht. Durchgesickert ist, dass neuerdings die Mehrheit in Deutschland NICHT mehr Mitglied in einer Landeskirche ist. Hat die Kirche noch die Kraft, konservative Christen einzubinden? Das heißt auch, dass man ihre Lebenswirklichkeit und ihre Ängste ernst nimmt. Dass man ihnen nicht - zumindest nicht gleich – ins Wort fällt, wenn sie von Islamisierung schwafeln. Und dass man zwar Grenzen setzt, aber auch konservative Meinungen respektiert.