Wie wirksam ist Coronavac im Vergleich zu den anderen Covid-19-Vakzinen?

Trotz einer Effektivität von "nur" 51 Prozent wird die WHO-Zulassung des chinesischen Impfstoffs für die Eindämmung der Pandemie in den einkommensschwachen Ländern als entscheidend angesehen

Kürzlich hat die WHO dem chinesischen Impfstoff Coronavac die Notfallzulassung erteilt. Coronavac ist einer von zwei chinesischen Vakzinen, mit denen die Impfkampagnen in mehr als 70 Ländern weltweit durchgeführt wird. Beide Impfstoffe dürften in Ländern mit niedrigem Einkommen bald in großer Menge zur Verfügung stehen.1

Für Coronavac wurde festgestellt, dass die Wirksamkeit in einer Phase-III-Studie bei Personen aus dem Gesundheitswesen in Brasilien 51 Prozent betragen hat, und Wissenschaftler sagen, dieser Impfstoff werde der Schlüssel zur Eindämmung der Pandemie sein.2

Die Wirksamkeit von Coronavac sei aber geringer als die der sieben anderen Vakzine, die bereits von der WHO gelistet wurden, heißt es in den beiden Artikeln. Aber, was wichtig sei, Studien deuten darauf hin, dass dieses Vakzin – ein traditionell hergestellter inaktivierter Virus-Impfstoff von der Pekinger Firma Sinovac – zu 100 Prozent wirksam sei, um schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle zu verhindern.

Für die bisher in der EU zugelassenen vier genetischen Covid-19-Impfstoffe, die ebenfalls auf der Liste der WHO stehen, gibt es unterschiedlich hohe Angaben zu ihrer Effektivität. So wird für die beiden mRNA-Impfstoffe, Comirnaty und den Covid-19-Impfstoff Moderna, eine Wirksamkeit von 95 Prozent und für die Vektor-Impfstoffe Vaxzevria und den Covid-19-Impfstoff Janssen eine von 80 Prozent bzw. von 65 Prozent angegeben.3 Wie sind nun diese unterschiedlich hohen Prozentzahlen zu bewerten? Man könnte aus diesen Angaben den Schluss ziehen, dass die Wirksamkeit der mRNA-Impfstoffe am höchsten, die der beiden Vektor-Impfstoffe etwas geringer und die von Coronavac am niedrigsten zu bewerten sei. Oder ist die Vermutung richtig, dass der Impfstoff aus China in Wahrheit kaum wirksam ist, wie in einem Artikel bei T-online zu lesen ist?4

Aussagekräftige Risikomesswerte fehlen häufig

Wie schon kürzlich in einem ausführlichen Telepolis-Artikel an mehreren Beispielen dargestellt, beschreibt die relative Risikoreduktion (RRR) die Wirksamkeit einer Impfung in Relation zur ungeimpften Kontrollgruppe.5

Diese Angaben sind aber für die Beurteilung des Nutzens der Impfung nur eingeschränkt aussagekräftig, da anhand relativer Werte die Grundanfälligkeit einer Probandengruppe für eine Covid-19-Erkrankung, das heißt, das Ausgangsrisiko, nicht erfasst wird, und dadurch der Nutzen der Impfung nicht realistisch eingeschätzt werden kann. Anhand der in Tabelle 1 aufgeführten fiktiven Darstellung sollen diese Zusammenhänge noch einmal deutlich gemacht werden.6

Erkrankte (Anzahl) Ereignisrate (%) RRR (%) ARR (%) NNV 
Studie KG IG KG IG
A 4000 200 20 1 95 19 5,3
B 400 20 2 0,1 95 1,9 53
C 40 2 0,2 0,01 95 0,19 530
Tabelle 1: Zusammenhänge zwischen der Zahl der Erkrankten, Ereignisraten, RRR, ARR und NNV in 3 Studien A, B und C mit unterschiedlichem Ausgangsrisiko und jeweils 20.000 geimpfte Probanden in der Placebo-Gruppe und der Verum-Gruppe. RRR: relative Risikoreduktion, ARR: absolute Risikoreduktion, NNV: „number needed to vaccinate“, KG: Kontrollgruppe (mit Placebo Geimpfte), IG: Interventionsgruppe (mit Verum Geimpfte). Zur Berechnung der Risikomesswerte sei auf Fußnote 6 verwiesen. 

Tabelle 1 zeigt, dass die RRR von 95 Prozent in allen drei Studien trotz der um den Faktor 10 abnehmenden Ereignisraten in der KG (Ausgangsrisiko) gleich bleibt, während die ARR von 19 Prozent in Studie A auf belanglose 0,19 Prozent in Studie C absinkt.

Die NNV wird analog zur NNT ("number needed to treat") in der Evidenzbasierten Medizin als Kehrwert der ARR berechnet.5 Sie sagt aus, wie groß die Zahl der Probanden ist, die mit dem Verum geimpft werden muss, um eine Erkrankung zu vermeiden. Diese Zahl steigt von 5,3 Probanden in Studie A auf 530 Personen in Studie C an und zeigt anschaulich, dass die Wirksamkeit der Impfung stark vom Ausgangsrisiko abhängt.

Die RRR bezieht sich also allein auf die Zahl der Erkrankten und ist unabhängig von der Zahl der mit dem Verum Geimpften. Ist das Ausgangsrisiko niedrig, ist auch die Wirksamkeit der Impfung gering, ist das Ausgangsrisiko jedoch hoch, trifft das für die Effektivität ebenfalls zu. Diese Zusammenhänge werden aber von der RRR, der "Marketingzahl" nicht abgebildet, sondern nur von der ARR, die den wirklichen Effekt reflektiert, und von der NNV, die die "klinische Zahl" darstellt.7

Wachsende Bedeutung der chinesischen Impfstoffe

Die Zulassung von Coronavac am 1.6.2021 erfolgte etwa einen Monat, nachdem die WHO einen weiteren chinesischen Impfstoff der staatlichen Firma Sinopharm gelistet hatte, der eine Wirksamkeit von 79 Prozent gegen symptomatische Erkrankungen zeigte, wird im Nature-Artikel berichtet.8

Beide Impfstoffe seien bereits weit verbreitet und treiben Chinas massive interne Impfkampagne voran. In China wird zurzeit die erstaunliche Zahl von 20 Millionen Menschen am Tag geimpft.11

Coronavac unterstützt die Impfkampagnen in mehr als 40 Ländern wie etwa Chile und Botswana. Weltweit wurden mehr als 600 Millionen Dosen geliefert. Sinopharms Impfstoff wurde in vielen weiteren Ländern zugelassen.

Doch die jetzt erfolgte Notfallzulassung von Coronavac durch die WHO könnte nun die weite Verbreitung beider Impfstoffe in Ländern mit niedrigem Einkommen durch die COVID-19 Vaccines Global Access (COVAX)-Initiative erleichtern.

Die Angabe der Wirksamkeit der WHO von 51 Prozent für Coronavac basiert auf Daten aus einer Phase-III-Studie von Personen des Gesundheitswesens in Brasilien, die im April 2021 als Preprint online veröffentlicht wurden10 (siehe auch Tabelle 2).

Erkrankte (Anzahl) Ereignisrate (%) RRR (%) ARR (%) NNV
KG IG KG IG
168 85 3,5 1,7 51 1,8 56
Tabelle 2: Anzahl der Erkrankten bei 4870 mit Placebo Geimpften in der KG und 4953 mit Verum Geimpften in der IG, Ereignisraten, RRR, ARR und NNV des Covid-19-Impfstoffs CoronaVac. RRR: relative Risikoreduktion, ARR: absolute Risikoreduktion, NNV: „number needed to vaccinate“. KG: Kontrollgruppe (mit Placebo Geimpfte), IG: Interventionsgruppe (mit Verum Geimpfte). Zur Berechnung der Risikomesswerte sei auf Fußnote 6 verwiesen.

Die Darstellung in Tabelle 2 zeigt, dass in der brasilianischen Studie für Coronavac zwar "nur" eine RRR von 51 Prozent festgestellt werden konnte, aber auch eine ARR von 1,8 Prozent. Dieser Wert ist im Vergleich mit den übrigen bisher untersuchten Covid-19-Impfstoffen als günstig einzuschätzen.

Das wird auch durch den niedrigen NNV-Wert deutlich: Bei Coronavac müssen 56 Personen geimpft werden, um einen Krankheitsfall zu verhindern. Bei Comirnaty zum Beispiel, dem Impfstoff von Biontech-Pfizer, sind es mehr als doppelt so viele (vergleiche dazu auch Abbildung 1 in "Wie wirksam sind die Covid-19-Impfstoffe?").

Weiter heißt es in dem Nature-Artikel11, dass von den 9.823 Teilnehmern, die in die Analyse einbezogen wurden, 253 eine Erkrankung hatten – 85 in der mit dem Verum geimpften Gruppe und 168 unter denen, die das Placebo erhielten. Keiner der geimpften Personen musste ins Krankenhaus eingeliefert werden oder starb an Covid-19.

Kleinere Phase-III-Studien in Indonesien und der Türkei haben höhere RRR-Werte von bis zu 84 Prozent gezeigt.

Nach vorläufigen Ergebnissen von sogenannten Phase-IV-Studien während der Impfkampagne in Chile, an der dort 2,5 Millionen Menschen teilnahmen, wurde die Wirksamkeit von Coronavac zur die Prävention von Covid-19 auf 67 Prozent und zur Verhinderung eines Todesfalls durch die Erkrankung auf 80 Prozent geschätzt, trotz des Vorhandenseins der Alpha (B.1.1.7)- und Gamma (P.1)-Varianten des Virus SARS-CoV-2.

CoronaVac- Schlüssel zur Eindämmung der Pandemie?

Vorläufige Ergebnisse aus der Stadt Serrana, in der die Coronavac-Studie durchgeführt wurde, wurden vor einigen Tagen auf einer Pressekonferenz in Brasilien detailliert vorgestellt. Die Daten deuten darauf hin, dass Coronavac für eine signifikante Delle in der Pandemie sorgen könnte, urteilt der Autor des Nature-Artikels.

Das Butantan-Institut in São Paulo führte die Studie durch, in der fast die gesamte erwachsene Bevölkerung von Serrana mit Coronavac geimpft wurde. Dabei wurde festgestellt, dass der Impfstoff Erkrankungen von Covid-19, Krankenhausbehandlungen und Todesfälle signifikant reduzierte.12

Die Tatsache, dass Coronavac eine ganze Stadt schützen kann, obwohl fast 40 Prozent der Bevölkerung täglich in Gebiete pendeln, in denen die Pandemie wütete, ist ein "bemerkenswerter Beweis", dass dieser Impfstoff ein "Gamechanger" bei der Kontrolle der Pandemie" sein könnte, sagte der Studienleiter Ricardo Palacios, medizinischer Direktor der klinischen Forschung am Butantan-Institut.

Beide zugelassenen chinesischen Impfstoffe verwenden eine etablierte Technologie auf der Grundlage inaktivierter, nicht vermehrungsfähiger Viren und können bei Kühlschranktemperaturen gelagert werden, was die Anwendung in ressourcenarmen Umgebungen erleichtert.

Abschließend konstatiert der Autor des Nature-Artikels13, dass es so scheint, als ob diese Art von Covid-19-Impfstoffen weniger Schutz gegen die Krankheit zu bieten habe als die oben aufgeführten genetischen Vakzine. Das sieht er als eine Tatsache an und diskutiert im letzten Abschnitt seines Artikels einige Hypothesen, woran das eventuell liegen könnte.

Dass dieser Eindruck wahrscheinlich vor allem einem Bias, das heißt, einer verzerrten Darstellung der Untersuchungsergebnisse, geschuldet ist, bei der als Risikomessgröße nur die "Marketingzahl" RRR und nicht die ARR als "Zahl für den wirklichen Effekt" und die NNV als "klinische Zahl" berücksichtigt worden sind, wird leider nicht erörtert.14 Ein Blick in die schon erwähnte Abb. 1 in dem zuletzt genannten Artikel und der Vergleich der dort aufgeführten NNVs der genetischen Impfstoffe mit der NNV, die für Coronavac festgestellt worden ist, könnte zur Klärung des tatsächlichen Sachverhalts beitragen.

Schlussfolgerungen

1. Für die Angabe der Wirksamkeit eines Impfstoffs ist es üblich, die Risikomessgröße RRR (relative Risikoreduktion) zu verwenden. Diese bezieht sich nur auf die Zahl der Erkrankten und ist unabhängig von der Zahl der Geimpften. Sie ergibt meist eindrucksvolle Zahlen im zweistelligen Bereich und wird deshalb "Marketingzahl" genannt.

2. Die ARR (absolute Risikoreduktion) wird meist nicht berücksichtigt, da sie häufig nur wenig beeindruckende Zahlen im einstelligen Bereich ergibt. Sie widerspiegelt aber die Wirksamkeit realistischer, weil sie neben der Zahl der Erkrankten auch die Zahl der Geimpften und damit das Ausgangsrisiko, d. h. die Zahl der Erkrankten in der ungeimpften Kontrollgruppe, berücksichtigt. Ist das Ausgangsrisiko hoch, ist es die Wirksamkeit ebenfalls – und umgekehrt. Das bedeutet: Der individuelle Nutzen einer Impfung steigt mit steigenden Infektionszahlen.

3. Die NNV ("number needed to vaccinate"), die ebenfalls meist nicht angegeben wird, ist der reziproke Wert der ARR. Sie gibt anschaulich an, wie viele Personen geimpft werden müssen, um einen Krankheitsfall zu verhindern.

4. Bei Coronavac lag in der brasilianischen Phase-III-Studie die RRR "nur" bei 51 Prozent, aber die Risikomessgrößen ARR und NNV ergaben sogar günstigere Werte als bei den genetischen Impfstoffen, mit denen sie verglichen wurden.

5. Weiterhin ist bei der Beurteilung der Wirksamkeit zu beachten: RRR und ARR beziehen sich nur auf die Gesamtzahl der Erkrankten. Diese Risikomessgrößen können keine Aussage darüber machen, ob diese Risikoreduktionen auch für schwere Krankheitsverläufe gelten. Für Aussagen darüber sind meist weitere Studien erforderlich.

Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin - Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin- Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e.V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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