"Wir Grüne setzen europäischen Mut gegen nationalistische Wut"
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Sven Giegold, Spitzenkandidat der Grünen, über den Aufstieg der Rechtspopulisten, das deutsch-französische Verhältnis und seine Leidenschaft für die Europäische Union
Herr Giegold, wie tief ist die Krise der EU?
Sven Giegold: Die EU ist in schwerem Fahrwasser, aber nicht in einer Existenzkrise.
Seit Monaten fällt immer wieder das Wort "Schicksalswahl"...
Sven Giegold: ... was ich für übertrieben halte!
Sie sprechen von einer "Richtungswahl".
Sven Giegold: Richtig. Denn ich mag diese Endzeitstimmung nicht. Ich bin überzeugt, dass Wandel nicht aus Angst vor einem Ende entsteht, sondern immer nur aus Mut zu neuen Wegen. Es geht um ein positives Zukunftsbild.
Aber wenn die EU ihren Kurs beibehält, droht dann nicht ihr Zerfall?
Sven Giegold: Dass wir eine Richtungsänderung brauchen, steht außer Frage. Schließlich haben wir in Großbritannien gesehen, wie gefährlich es ist, wenn nichts vorangeht und Politiker jahrelang den Populisten und Anti-Europäern das Feld überlassen. Aber wie gesagt, dieses permanente Gerede, Europa sei am Ende, geht mir auf die Nerven. Wir sollten - trotz aller Sorgen - viel häufiger betonen, was die EU schon alles geschafft hat und was wir noch alles schaffen können.
Welche Sorgen meinen Sie?
Sven Giegold: Ich sehe dringenden Handlungsbedarf beim Kampf gegen die Klimakrise. Zudem gilt es, den Demokratieabbau in manchen Mitgliedstaaten zu stoppen. Und wir müssen uns noch stärker für den sozialen Zusammenhalt in Europa einsetzen. Diejenigen, die diese Themen liegen lassen oder gar kleinreden, nehmen in Kauf, dass die Menschen das Vertrauen in die EU verlieren.
Apropos, bei den jüngsten Wahlen in den EU-Mitgliedsstaaten konnten die Rechtspopulisten stark zulegen. Auch bei der EU-Wahl wird mit deutlichen Stimmengewinnen rechtspopulistischer Parteien gerechnet ...
Sven Giegold: Ich sage es ganz klar: Dem neuen Autoritarismus und Populismus müssen wir uns entschieden entgegenstellen. Wir Grüne setzen europäischen Mut gegen nationalistische Wut.
Was heißt das konkret?
Sven Giegold: Wir haben so viel gemeinsam geschafft! Beim Umwelt- und Verbraucherschutz ist die EU seit jeher Vorreiter - unsere Standards gehören zu den höchsten der Welt. Das hat sowohl den Bürgerinnen und Bürgern viel gebracht, als auch viele innovative Mittelständler hervorgebracht. Dass nun gerade Deutschland seit geraumer Zeit auf der Bremse steht, ist da besonders bitter, ja peinlich. Aber das nur am Rande.
Was meinen Sie genau mit diesem "europäischen Mut"?
Sven Giegold: Zwei Beispiele von vielen: Nach dem Wegfall der Roaming-Gebühren, die anfallen, wenn man schon im Ausland ist, sinken jetzt auch die Kosten für ganz klassische Telefonate von einem EU-Land ins andere. Und erinnern Sie sich an die teils horrenden Kreditkartengebühren! Da hat die EU internationalen Großkonzernen die Stirn geboten und dem Abzocken einen Riegel vorgeschoben. Und was wäre Europa beispielsweise ohne die große Errungenschaft des Diskriminierungsverbotes? Dass all das nicht alltäglich ist, zeigt ja allein der Blick auf den Umgang der Bundesregierung mit VW und anderen Autokonzernen in der Dieselkrise. Wo werden da die Interessen getäuschter Verbraucher durchgesetzt? Darauf kann man schon einmal hinweisen.
Das Problem sind einzelne Mitgliedsländer, nicht das Parlement
Zeigt sich gerade jetzt, in einer Zeit in der die Angriffe auf Minderheiten deutlich zugenommen haben, ob die Mitgliedstaaten tatsächlich an einem Strang ziehen?
Sven Giegold: Momentan macht mir vor allem eines Sorgen, das den Zusammenhalt in Europa immer mehr zu gefährden droht: die stark unterschiedlichen Lebensstandards. Diese haben sich in den vergangenen Jahren nicht wie erhofft aufeinander zubewegt, sondern die Unterschiede sind größer geworden. Das hat auch eine Auswirkung auf die Zufriedenheit und Zustimmung zu Europa. Wenn Sie Menschen im Süden Italiens fragen, haben die ein anderes Bild von der EU als die Leute in Baden-Württemberg oder den Niederlanden. Das muss uns umtreiben!
Welches ist derzeit das größte Problem der Europäischen Union? Ist es die Blockade einiger Mitgliedstaaten, die Flucht- und Migrationspolitik oder das Demokratiedefizit?
Sven Giegold: Das Spannende ist ja: Das Parlament steht längst mit großer Mehrheit hinter einer Reform, da gibt es gar keine Blockade. Und wenn viele Bürgerinnen und Bürger bei der Wahl eine der pro-europäischen Parteien wählen - und danach sieht es in Deutschland ja aus - , dann wird es auch in Zukunft im Europäischen Parlament keine Blockaden geben, sondern politische Kompromisse, mit denen sich etwas nach vorne bewegt. Das Problem sind in der Tat eher einzelne Mitgliedsländer.
Wäre es angesichts dieser Tatsache nicht sinnvoll, den Europäischen Rat abzuschaffen? Eine kleine Gruppe von Staaten kann dort alles stoppen.
Sven Giegold: Sinnvoll wäre es, das Abstimmungsprinzip zu reformieren und mehr nach dem Mehrheitsprinzip zu entscheiden. Außerdem braucht es volle Transparenz über alle Ratsverhandlungen. Damit wäre das Blockadepotenzial erheblich reduziert. Aber darauf zu warten, darf nicht als Ausrede dienen. Wenn einzelne Staaten nicht mitspielen, kann eine Staatengruppe längst im Rahmen der sogenannten verstärkten Zusammenarbeit vorangehen und sich beispielsweise auf eine Verteilung einigen, die erst einmal nur sie betrifft. Das wird gerne ausgeblendet.
Aber klar, die Flüchtlings- und Migrationspolitik gehört ebenfalls zu einer der großen Herausforderungen. Und es bleibt dabei: wir brauchen konstruktive, gemeinsame Lösungen. Wenn jeder nur mit dem Finger auf den anderen zeigt, kommen wir keinen Schritt weiter.
Bislang haben all die Appelle nicht gefruchtet.
Sven Giegold: Eine per Zwang durchgesetzte Verteilquote unter den Regierungsspitzen ist unrealistisch, das hat die mühsame Erfahrung der letzten Jahre gezeigt. Deswegen sollten wir uns auf Anreize konzentrieren. Wenn man einmal genauer hinsieht und nicht nur die Zentralregierungen in den Blick nimmt, zeigt sich, dass es gar nicht überall nur Blockaden gibt. Deswegen schlagen wir vor, dass diejenigen Kommunen, die sich engagieren und Geflüchtete aufnehmen wollen, direkt EU-Gelder bekommen sollen.
Ein Vorschlag der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan.
Sven Giegold: So ist es. Wir haben Frau Schwans außerordentlich kluge Idee in unser Wahlprogramm aufgenommen. Natürlich wollen wir weiterhin verbindliche Verteilungsquoten für Flüchtlinge und ein Ende des unsolidarischen Dublin II-Systems. Aber wir können Länder, die klar Nein sagen und keine oder nur wenige Geflüchtete aufnehmen wollen, nicht dazu zwingen. Im Übrigens macht es natürlich auch für die geflüchteten Menschen mehr Sinn, dort hinzugehen, wo sie auch willkommen sind.
Sie klingen sehr zuversichtlich. Glauben Sie, ein solches Konzept wäre tatsächlich umsetzbar?
Sven Giegold: Ich bin immer zuversichtlich! Das lasse ich mir auch nicht nehmen. Nur mit Optimismus können wir etwas Gutes gestalten. Diejenigen, die immer nur meckern, sehe ich im Parlament regelmäßig. Die Typen von ganz rechts und manchmal auch ganz links, die stets schlechte Laune haben und zu allem Nein sagen; die bewegen im Parlament nichts. Unser Vorschlag, Kommunen direkt zu unterstützen, würde in manchen Ländern sicher Debatten anstoßen, denn viele Orte und Gemeinden würden dann profitieren. Nationale Regierungen, die aus ideologischen Gründen gegen muslimische Flüchtlinge hetzen, würden dann quasi zu Verhinderern.
Die geplante Reform der Dublin-Verordnung kommt nicht voran. Und es sieht auch nicht so aus, als würden die EU-Staaten sich nach der Wahl plötzlich auf eine einheitliche Linie einigen. Zudem wird die Zahl der Rechtspopulisten und Nationalisten wohl steigen. Deshalb noch einmal die Frage: Was macht Sie so zuversichtlich?
Sven Giegold: Wenn man etwas gestalten will, darf man nicht stur an seinem Idealbild festhalten, sondern muss überlegen, welche anderen Wege zum Ziel führen könnten. Da es uns nicht gelingt, eine faire Verteilung der Geflüchteten in Europa zu organisieren, müssen wir eben andere Optionen prüfen, wie den eben beschrieben Vorschlag.
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