"Wir haben die Kollateralschäden zu spät wahrgenommen"
Seite 3: "Wir haben die Kollateralschäden zu spät wahrgenommen"
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Es war aber auffällig, dass meist Virologen und Epidemiologen die Politiker umgeben haben, während die Geistes- und Sozialwissenschaftler eher am Rande standen. Sie kamen auch in der Öffentlichkeit, etwa in den Talkshows, lange nicht wirklich zur Geltung und hatten keine gleichberechtigte Stimme. Hat man sich im Streit der zwei Kulturen jetzt eher auf die Naturwissenschaft verlassen, die das Sagen hat?
Armin Nassehi: Zunächst liegt das nahe. Man musste erst einmal wissen, was das für ein Virus ist und was das medizinisch bedeutet. Wir wissen jetzt eine ganze Menge, aber wenn wir uns mal zurückversetzen in die Situation im März und April 2020 – da wussten wir vieles gar nicht.
Deswegen bin ich froh, dass nicht zuerst Soziologen angefangen haben, das Virus zu sequenzieren, sondern dass das Virologen gemacht haben. Das Problem ist, dass man sofort gesehen hat, dass auch die Gesellschaft infiziert wurde, weil die Pandemie Routinen ändert.
Ich kann gar nicht sagen, dass die Sozialwissenschaften, auch die Wirtschaftswissenschaft oder Psychologie, so randständig gewesen sind. Es gab schon einige Akteure, die sich geäußert haben, aber eben auf einer Basis, die nicht auf Forschung beruht. Das deduziert man erst einmal theoretisch und kann es mit einer gewissen empirischen Evidenz sagen.
Viele der vorhandenen Konflikte waren erstens Zielkonflikte in der Gesellschaft, die sich in Interessenkonflikten und Handlungsmöglichkeiten niedergeschlagen haben.
Und es ist zweitens sehr schwer, die Dinge zu steuern. Der Bias, den gebildete Mittelschichtsmenschen haben, ist, dass man dem dummen Volk nur erklären muss, wie es sich verhalten soll. Das wird es dann wohl tun.
So einfach ist die Welt aber offensichtlich nicht aufgebaut, sodass man Steuerungsprobleme provoziert.
Und drittens muss man tatsächlich Risiken eingehen. Die interessante Frage ist ja nicht, ob man auf das Virus reagiert oder nicht, sondern welches Risiko man bereit ist einzugehen. Alle Maßnahmen haben Risiken.
Man muss allerdings an die Adresse der Sozialwissenschaften sagen, dass wir die Kollateralschäden zu spät wahrgenommen haben. Wenn ich pro domo sprechen darf, war ich wahrscheinlich einer der Ersten, die darauf hingewiesen haben.
Ich gehöre eher zur Fraktion der Vorsichtigen, habe aber darauf hingewiesen, dass die Maßnahmen natürlich Auswirkungen auf die soziale Ungleichheit haben werden, dass natürlich Routinen nicht mehr funktionieren, dass sich psychische Erkrankungen verbreiten werden, dass die Suizidrate steigen wird, dass es gerade für Menschen, die aus den Versorgungsbezügen im unteren Rand der Gesellschaft herausfallen, ein großes Problem werden wird.
Viele haben insbesondere die Auswirkungen auf die Kinder unterschätzt, vorwiegend auf die Kinder aus den bildungsfernen Milieus. Wir erleben jetzt, dass ganze Kohorten von Kindern das Lernen verlernt haben. Man erkennt, dass Schule eine starke Institution ist, in der man den Habitus lernt, mit dem man lernen kann.
Trifft das auch für die Universitäten zu, die sich auch auf Telepräsenz umstellen mussten? Das wird ja wohl auch ein Trend der Zukunft sein. Vor einigen Jahren gab es schon den Hype um weltweite Online-Veranstaltungen, die die physische Präsenz in den Universitätsräumen ablösen sollten. Ist das aus der Erfahrung heraus wirklich eine Zukunft bzw. wie wichtig ist die Präsenz?
Armin Nassehi: Ohne Präsenz wird es nicht gehen. Das kann ich aber nur aufgrund meiner eigenen Primärerfahrung sagen, dazu liegen mir keine weiteren Erkenntnisse vor. Es waren drei Digitalsemester. Ich habe sehr viel Pflichtlehre zu machen, vorwiegend für die jüngeren Studierenden die beiden ersten Theorievorlesungen, in denen bis zu 800 Studierende sitzen. Das geht nur in Präsenz.
Wir haben es relativ gut hinbekommen, aber das ist alles andere als eine Alternative zum Hörsaal, zum Seminarraum oder zur unmittelbaren Ansprache. Das eine oder andere wird sich immer im Netz machen lassen, aber das ist immer ein nice to have, also was man auch zusätzlich machen kann.
Ich halte auch die Befürchtungen, dass Universitätsverwaltungen jetzt sagen: Lasst den Nassehi jetzt doch zu aller Welt sprechen. Das möchte man der Welt nicht zumuten, und ich mir auch nicht. Dass die Universitäten in der Zeit nicht so laut geworden sind, kann ich verstehen. Wenn ich allein an unser Hauptgebäude mit den vielen großen Hörsälen denke, da laufen in der Woche 5.000, 6.000, 7.000 Leute herum.
Das wäre tatsächlich eine schwierige Situation gewesen. Es wird einiges geben, was man gut über solche Medien machen kann, in denen wir uns gerade bewegen. Für Gremiensitzungen wäre das eigentlich die bessere Lösung, aber die Lehre ist auf Präsenz angewiesen. Das stellt auch niemand ernsthaft infrage.
Das Gespräch mit Armin Nassehi führte Florian Rötzer im Rahmen des Digitalen Salons des ZKM (Zentrum für Kunst und Medien) in Karlsruhe.
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