"Wir haben die Kollateralschäden zu spät wahrgenommen"

Seite 2: "Politische Probleme lassen sich nicht wissenschaftlich lösen"

Über viele Medien wurde das Bild verbreitet, es gebe bestimmte Wissenschaftler, die repräsentieren, was die Wissenschaft mehrheitlich sagt. Die Medien haben dies nicht wirklich hinterfragt, was auch dazu führte, dass einzelne Wissenschaftler an den Rand gedrängt wurden, die nicht das Richtige sagten, andere wurden ganz verbannt.

Es kam auch in der Bevölkerung zu einer Kluft zwischen den sogenannten Corona-Leugnern und denjenigen, die Corona nach Vorgabe des Staats und der Experten als bedrohlich ansahen. Irgendetwas scheint da nicht funktioniert zu haben.

Armin Nassehi: Die Frage ist: Wie wäre die Situation gewesen, wenn sie funktioniert hätte? Dann hätte die Wissenschaft mit einer Stimme sprechen müssen. Wenn sie das wirklich einmal machen würde, stimmt etwas nicht. Dann wäre so etwas wie wissenschaftlicher Fortschritt geradezu ausgeschlossen.

Während der Pandemie gab es in viele Richtungen ganz extreme Positionen. Diejenigen, die verhandelbar waren, waren unterschiedlich, aber nicht so weit voneinander entfernt. Nur die Konsequenzen, die man daraus zog, waren es.

Und da sieht man, dass man auch innerhalb der Wissenschaft, wenn versucht wird, Erkenntnisse in handhabbare Entscheidungsvorlagen zu übersetzen, aus den gleichen Ergebnissen heraus zu sehr unterschiedlichen Vorstellungen kommen kann.

Daran sieht man auch, dass sich politische Probleme nicht wissenschaftlich lösen lassen. Wenn ein Politiker sagt, Entscheidungen seien wissenschaftlich erwiesen, weswegen man diese unbedingt so umsetzen müsse, dann stiehlt er sich eigentlich aus der Verantwortung, weil er eine Werte-, Interessen- oder Risikoentscheidung treffen oder einen Machtakt ausführen muss.

Ob Leute an den Rand gedrängt wurden oder nicht, ist auch eine mediale Frage. Die Medien sind nicht an einem komplizierten und ziselierten wissenschaftlichen Diskurs interessiert, sondern es ist natürlich unheimlich toll, wenn man zwei Virologen gegeneinander aufbauen kann, die sich am besten zwölf Uhr mittags in München auf dem Marienplatz oder auf dem Alexanderplatz in Berlin treffen. Das bildet aber nicht ab, was in der Wissenschaft selbst stattfindet.

Es ist eine Flut an wissenschaftlichen Artikeln veröffentlicht worden. Jeder wollte etwas zur Pandemie sagen. Die Wissenschaft selbst hat sich darüber verändert. Sie wurde zur Echtzeitwissenschaft, die ein Phänomen im Entstehen und in der Entwicklung begleitet und damit auch ein Experiment durch Interventionsvorschläge veranstaltet.

Armin Nassehi: Es ist sichtbar geworden, dass die Zeitregime zwischen politischer Entscheidung und wissenschaftlicher Erkenntnis sehr unterschiedlich sind. Wissenschaftliche Erkenntnis dauert einfach ziemlich lange. Aber jetzt brauchte man kurzfristig Wissen.

Das Interessante ist ja, dass Forschung nicht einfach Wissen aufnimmt, das da ist, sondern dieses Wissen produzieren muss. Jetzt brauchte man Wissen, das ad hoc Erkenntnisse produziert hat, sodass man direkt dabei zugucken konnte, dass Wissenschaftler zunächst von falschen Hypothesen ausgegangen sind, manches relativiert werden musste und manches einfach nicht stimmte. Das passiert in der Wissenschaft eigentlich permanent, aber unsichtbar, jetzt ist es für ein großes Publikum sichtbar geworden.

Die Politik hat nicht die Möglichkeit zu sagen, man wisse im Moment zu wenig, weswegen Entscheidungen erst 2022 getroffen werden können. Schon an der Differenz dieser Zeitperspektiven kann man sehen, dass eigentlich nichts Besonders stattgefunden hat, aber etwas, das in einer drastischen Situation auch drastische Konsequenzen hat.

Das bekannteste Problem ist, ob man aus den Daten schließen kann, dass die Schulen geschlossen werden müssen oder nicht. Man weiß bis heute nicht genau, ab welchem Zeitpunkt das ist richtig war oder nicht.

Es zeigt sich dabei auch, dass eine Gesellschaft immer in Gegenwarten stattfindet. Wir kommen nicht aus den Entscheidungsgegenwarten heraus. Im Nachhinein können wir genau beobachten und sagen: Man hätte hier dies oder jenes machen müssen. Aber in der Situation selbst sitzen Politiker, die Wissenschaftler gefragt haben, was sie jetzt tun müssen.

Die Wissenschaftler haben dann mitunter geantwortet: "Sorry, das kann ich nicht eindeutig sagen, weil uns dafür die Datenbasis fehlt, ich kann höchstens stochastisch sagen, wie Risikolagen womöglich sind." Wenn Wissenschaftler nicht weiterwissen, sagen sie immer, dass ihnen dazu die Datenbasis fehlt. Meistens stimmt das auch.

Es hat etwas stattgefunden, das Dinge sichtbar gemacht hat, die vorher nicht sichtbar waren. Es ist ein Latenzschutz verloren gegangen, also die Latenz, dass die Dinge immer so laufen, wie sie aussehen, wurde außer Kraft gesetzt.

Das ist nicht nur so im Verhältnis von Wissenschaft zur Politik so gewesen, das fand auch in Familien statt. Sie haben gelernt, dass es für sie am besten ist, wenn alle Familienmitglieder zwischendurch nicht in der Familie sind. Das wissen wir jetzt mehr zu schätzen als vorher.

Auch das wussten wir eigentlich schon, aber es wurde uns in einer Echtzeitsituation vorgeführt, beispielsweise wie die Rollenverteilung in einer Familie außer Kraft gesetzt wird, wenn auf einmal die Routinen nicht mehr funktionieren. Das hat auf allen Ebenen entsprechend stattgefunden.