"Wir haben mehr Macht, als wir denken"

Seite 3: Und Marx...?

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Eine letzte Frage, David. Wie positionierst du dich gegenüber der Werttheorie von Karl Marx? Siehst du die kapitalistische Lohnarbeit als die Substanz des Werts an?

David Graeber: Du kannst die Marxsche Definition auf zweierlei Weise auffassen: als eine allgemein-philosophische Bestimmung, die wahr sein muss, und als einen engen technologischen Terminus, der falsch ist. Er sprich hier einen philosophischen Punkt an, da ja tatsächlich die Welt etwas ist, was wir kollektiv erschaffen. Schau dich hier im Raum um. Ist hier irgendetwas, das nicht von Menschen geschaffen wurde, die sich unsere Bedürfnisse vorzustellen versuchten, obwohl wir sie nicht kennen? Und das ist für mich die Idee des Warenfetischismus, dass der Markt die Geschichte all jener Menschen auslöscht, die sich uns vorzustellen versucht haben.

Dies ist noch in den Dingen verkörpert - und es kommt aus ihnen heraus. Und dies ist wahr an der marxschen Arbeitswertdefinition, dass in einem allgemeinen Sinne die Welt etwas ist, das wir formen, herstellen. Und der Wert stellt die materiellen Formen unserer Aktionen dar, denen wir besondere Wichtigkeit bei der Erschaffung unserer Welt beimessen.

Wenn du aber das weiter spinnst und behauptest, du kannst den Wert genau kalkulieren, indem du den Arbeitsinput einer jeden Ware mit komplexen mathematischen Formeln bestimmt, dann ist das sicherlich nicht möglich. Und Marx ist da ja auch besser als Ricardo, da er ja auch klarmacht, dass man nicht einfach nur die individuell geleisteten Arbeitsstunden berücksichtigen muss, sondern die gesamtgesellschaftliche Produktivität, aber wir wissen das ja alles. Und das stimmt ja auch alles. Aber die Versuche, dies in mathematische Gleichungen zu gießen, sind alle gescheitert - auch bei Marx.

Und ich denke, das die Post-Worker-Theoretiker hier abermals die besten Antworten liefern, indem sie uns daran erinnern, dass wir die Politik nicht vergessen dürfen. Die Menschen kämpfen beständig um den Wert. Der politische Kampf ist letztendlich ein Kampf um die Definition von Wert. Wenn du dir den Preis einer Ware anschaust, dann kommt da nur ein kleiner Teil vom Marktgeschehen, ein Teil besteht aus der Arbeitsaufwendung, und ein großer Teil ist die Folge politischer Kämpfe. Wie gut ist die Arbeiterschaft organisiert? Was kann ausgelagert werden? Wie sind die Arbeitsbedingungen? Wie einfach ist es, Gewerkschaftler in Mexiko zu erschießen? All diese Dinge können nicht auf eine mathematische Formel reduziert werden.

Ich denke auch, dass Leute wie Negri falsch liegen, wenn sie glauben, dass früher der Wert berechnet werden konnte, während es heute nicht mehr möglich sei. Diese Argumentation geht davon aus, dass der Wert während des Fordismus innerhalb der Fabrik durchaus gemessen werden konnte, während die komplexen Preisbildungsmechanismen im Neoliberalismus, die nicht mehr hauptsächlich durch den Produktionsprozess bestimmt sind - nehmen wir nur ein paar Markenschuhe, deren Preis ja sehr stark vom Image abhängt - nicht mehr berechnet werden können.

Ich nenne es ein klassisches postmodernes Argument, weil es darauf aufbaut, dass sich die sozialen Beziehungen in einer Weise ändern, dass etwas klar wird, was vorher im Dunklen lag: in diesem Fall im Umstand, dass viel Wert auch außerhalb der Fabrik hergestellt wird. Tatsächlich fingen die weißen Männer ab den 1970ern an, etliche der Arbeiten zu machen, die früher die Frauen erledigten, und deswegen fingen sie an, auch diesen Arbeiten viel Wert beizumessen. Ich glaube, wir müssen die Werttheorie weiterentwickeln, aber nicht grundsätzlich verwerfen. Es gilt, sich klarzumachen, dass Wert schon immer auch außerhalb der Fabrik hergestellt wurde.

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