"Wir machen aus der Scham eine moralisierende Waffe gegen andere"

Medien: "Gewissheitsplomben" gegen Erkenntnislücken – Je weniger wir erkennen, desto erregter fallen die Reaktionen aus.

Ich glaube, dass es falsch wäre, anzunehmen, dass ich unglücklich zu sein habe, weil es den Krieg im Jemen gibt. Es verhält sich doch genau umgekehrt: Wenn ich schon das Privileg dieses Glücks besitze, dann sollte ich mich seiner auch erfreuen.
Robert Pfaller

Life is robbery.
Alfred North Whitehead

Keine Träne ist unschuldig. Und Tränen gibt es derzeit viel in den Medien. Insofern gibt es dort auch wenig Unschuld. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller beschreibt im aktuellen philosophie magazin seine Schwierigkeiten mit den aktuellen Fernsehnachrichten, die "selber gerade regelmäßig nicht unbedingt Nachrichten senden."

Wenn er die weinende Großmutter aus der Ukraine am Grab ihres gefallenen Enkelsohns sehe, frage er sich, was uns das denn sagen soll? Und was das eigentlich in den Nachrichten verloren habe?

Erst, wenn dann der nächste Beitrag kommt, verstehe er, warum die weinende Großmutter gezeigt wurde, "denn dann wird die Frage gestellt: Warum liefert Olaf Scholz keine schweren Waffen?"

Gegen Privilegierten-Bashing

Pfaller kritisiert die üblich gewordene Kritik angeblicher "Privilegien" und das billige Privilegierten-Bashing:

Wenn ich schon das Privileg dieses Glücks besitze, dann sollte ich mich seiner auch erfreuen. Dieses Glück verschafft mir zudem auch noch die Chance, die Weltlage nüchtern zu analysieren, die Illusionen, die wir uns machen, zu zerstreuen...

Glück ist keine moralische Kategorie. Man kann niemanden befehlen, glücklich zu sein, aber eben auch nicht, unglücklich zu sein. Zweitens ist die Beschreibung, dass wir Europäer angeblich in einer Art Blase leben, die uns vor der bösen Welt abschottet, schlicht falsch.

Zum Beispiel ist die SPD eben nicht, wie derzeit gern suggeriert wird, schuld an russischen Bomben auf die Ukraine. Und sie ist auch nicht schuld daran, dass sich die Ukraine nicht gegen die Russen wehren kann. Falls dies überhaupt wünschenswert wäre. Die SPD ist viel eher daran schuld, dass in den letzten 20 Jahren in Afghanistan mehr Menschen durch westliche Bomben gestorben sind als durch Taliban-Attacken.

Flugscham? "Obszön"

Ist Glück, das auf Verdrängung beruht, falsches Glück? Pfaller widerspricht:

Alles, was uns handlungsfähig macht, beruht immer auf dem Ausblenden bestimmter trauriger, schwächender und dezentrierender Einsichten.

Das heute unter Europäern des oberen Mittelstands beliebte Nachdenken über "Flugscham" sei, so Pfaller "obszön". Denn es blende aus und ignoriere, "dass die meisten Menschen gar nicht die Möglichkeit haben, sie zu empfinden, weil sie sich keinen Flug leisten können." Zudem sei die Haltung von Menschen, die glauben, dass sie mit einer Veränderung ihres Esstellers oder ihrer Reiseverkehrsmittel die Welt retten könnten, narzisstisch.

Dadurch, dass ich nicht fliege, ändert sich an dem Problem gar nichts. ... Das Vorherrschen dieser Illusion sorgt eher dafür, dass alles so bleibt, wie es ist.

Scham ist unverschämt

Das größte Problem der Verhaltensweisen unserer Gegenwart, so Pfaller, sei aber die Scham. Scham sei unverschämt, weil echte Scham eigentlich darin besteht, dass man sich seiner Scham auch schäme:

Wir machen aus der Scham eine moralisierende Waffe gegen andere. Der Moralismus war immer die Bedrohung des politisierenden Denkens. Genau hierin liegt die Kinderkrankheit der Linken.

Robert Pfaller

Hypermoral führt zu moralischem Hochmut: Für den Autor, der sich intensiv materialistisch damit auseinandersetzte, wofür es sich zu leben lohnt, und sich auf gutes Leben "spezialisiert" hat, sollten wir der "Notwendigkeit unserer eigenen Schmutzigkeit gewahr" sein.

Wer die Welt zum Guten wenden wolle, dürfe sich nicht auf die Sicherung der eigenen moralischen Unschuld konzentrieren, sondern muss unter Umständen "auch bereit sein, sehr schmutzige Dinge zu tun". Diese Lehre, so der österreichische Philosoph, lasse sich zum Beispiel aus Jean Paul Sartres Theaterstück Die schmutzigen Hände herauslesen.

Es ist ein großes Manko der gegenwärtigen politischen Ethik, dass das fast niemand mehr auf dem Schirm hat: Es kann notwendig sein, sehr schlimme Dinge zu tun, wenn man sehr gute Dinge erreichen will.

Der Antrieb des Handelns muss ein rationales Kalkül sein und nicht eine empathische, vermeintlich humane Gefühlsaufwallung, die dann vor keiner Bestialität zurückschickt und sich über die Folgen ihres Agierens keine Rechenschaft ablegt. Nur sehr genau definierte Zwecke und nicht etwa abstrakte moralische Grundsätze oder Reflexe – heiligen manche Mittel; jedoch nicht alle.

Robert Pfaller

Bereits in der Corona-Krise war auffällig, dass fast alle Akteure eingestehen mussten, dass sie die Gesamtheit der Zusammenhänge nicht überblicken. Die Erkenntnislücken wurden dann aber eilig verschlossen – mit "Gewissheitsplomben" (Pfaller).

Diese führen zu solchen absurden Formulierungen und Drohungen wie: "Gehen Sie doch mal auf die Intensivstation! Denken Sie an die weinende Großmutter!" Je weniger wir erkennen, so Pfaller, "desto erregter und fanatischer ergreifen wir Partei."